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FW120 / Beck Dillemuth
 Andere Erfahrungen, andere Sozialisation
 Martin Beck, ein Interview mit Stephan Dillemuth 

Martin Beck: Du hast Ende der 1970er Jahre in Düsseldorf Malerei studiert, hast dann vorübergehend in Chicago gelebt und bist Ende der 80er von dort nach Köln gezogen. Was hat diesen Umzug motiviert?

Stephan Dillemuth: In Chicago habe ich eine große Distanz zu meiner malerischen Arbeit entwickelt, oder generell, alles, was sich in der deutschen 80er Jahre Kunstszene so wichtig nahm, erschien mir lächerlich. Dieses 'Gelächter von Aussen' war einerseits sehr befreiend, aber ich merkte nach etwa zwei Jahren, dass ich nicht US-Amerikanischer Künstler werden wollte bzw. könnte und dass ich mit einem kulturellen Kontext arbeiten muss, den ich besser lesen und verstehen kann. In Deutschland schien mittlerweile der Hype um eine ganze Malereigeneration, z.B. die Mühlheimer Freiheit, verflogen zu sein und ich bin 1989 nach Köln gezogen, weil ich mir dort nun eine offenere Situation versprach. Zufälligerweise suchte zur selben Zeit auch Christian Nagel, den ich aus München kannte, einen Raum in Köln. Auch Texte zur Kunst formierte sich sich gerade. Köln schien in einer Umbruchsituation zu sein.

Bist Du mit der Idee angekommen, einen Raum zu eröffnen?

Eigentlich wollte ich an den 'Disko-Dekorationen', die ich in Chicago gemacht habe, weiterbasteln, aber das hatte sich fast über Nacht erledigt, weil ich diesen leerstehenden Laden im Friesenwall fand. Plötzlich stellten sich interessantere Fragen: Was man da machen könnte, ausser den Raum als Atelier zu benutzen. Aber Galerist wollte ich auch nicht werden und eine Produzentengalerie zu betreiben, das schien mir zu uncool. Denn das machten nur 'loser' die sonst in keine Galerie reinkommen. Die zweifeln weder an ihrem eigenen Künstlerbild noch stellen sie den Kunstanspruch ihrer Objektproduktion in Frage und greifen dann gern zur Selbsthilfe, wobei sie ungebrochen eine Galerie simulieren. Ich hatte die vage Idee, erst einmal die Möglichkeiten eines solchen, in die Öffentlichkeit gestellten Raumes auszuloten und irritierende Situationen zu schaffen, ohne dass Autorenschaft oder Kunstobjekte dabei eine Rolle spielen sollten. Ich bin also eher per Zufall in die Sache reingeschlittert. Friesenwall 120 war weder geplant noch geplottet gewesen. Das war bei Nagel anders, der hat mit seinen Künstlern, Fareed Armaly, Cosima von Bonin, Michael Clegg, Michael Krebber, Christian Philipp Müller und Josef Strau viel darüber geredet, wie sich eine neue Galerie von den Galerien der 1980er Jahre unterscheiden muss.

Was waren die ersten Ausstellungen im Friesenwall?

Im ersten halben Jahr haben wir verschiedene Formate ausgetestet, anfangs machte ich das noch allein. Die erste Ausstellung, 'Firestone Reifen', zeigte neue Autoreifen in einer ambivalenten Situation, die zwischen einem Reifenladen, Lager und Galerie changierte. Manche Besucher fragten, ob einer der Reifen auf ihren Mercedes passen würde, andere fanden es eine tolle Ausstellung. Ich habe mich aber nicht als Autor dieser Installation gesehen, eher war das die Firma Firestone. Ich habe versucht, mich da rauszunehmen, was aber vielleicht ein Unding ist. Das zweite Projekt spielte offensichtlicher mit dem Status einer Galerie. Ich habe Abbildungen aus dem Katalog 'Wolf Vostell _ Zeichnungen_ (Hannover: Kestnergesellschaft, 1977) herausgetrennt und gerahmt präsentiert. Es ging mir dabei nicht um Appropriation der Zeichnungen bzw. Katalogabbildungen, sondern um den Symbolwert einer Wolf Vostell Ausstellung – ähnlich wie Architektengattinnen in wohl situierten Vorstädten Andy-Warhol-Poster zeigen oder Multiples von Joseph Beuys. Man macht sowas ja nur, um aus bekannten Namen soziales Kapital zu schlagen. Das war hier die Frage; das war ausgestellt.

Schon in der Reifenausstellung begannen Leute, im Laden abzuhängen. Bald wurden Josef Strau und Nils Norman zu festen Freunden und Mitbetreibern des Ladens. Es fällt mir jetzt auf, dass die meisten meiner neuen Freunde und Bekannte Assistenten bzw. temporär eingestellte Hilfskräfte im Kunstbetrieb waren. Teilweise hatten sie vorsätzlich ihre eigene Kunstproduktion aufgegeben, um für sich einen klaren Bruch mit der Objektproduktion in der Tradition der 80er Jahre herbeizuführen. Das war keine generelle Verweigerung oder Subversion, resultierte aber in einer Verschiebung der Perspektive des prekären Arbeiters im System auf das System selbst. Dies bildete sich im Laufe der Zeit so ab, dass andere Informationen und Materialien, wie Abfall, Fragmente, Relikte oder Verweise einem eher konzeptuellen, kommunikativen Verständnis von Kunst Form gaben.

In der Ausstellung 'Old News' standen zwei Archive im Mittelpunkt. Dadurch änderte sich die Funktion des Raumes. Nach der ersten experimentellen Phase wurde dieser zunehmend zu einem Treffpunkt, z.B. für Videoabende oder einfach nur zum Abhängen. Zum einen zeigten wir das VHS Archiv der Münchener Videogruppe BOA, das aus der Idee einer Schaffung von Gegenöffentlichkeiten entstanden ist: ein Mix zwischen alten Nachrichtensendungen und Werbevideos für Leopardpanzer. Der andere Teil war aus dem Archiv von Peter O. Chotjewitz, das über verschiedene Zeitungen und Zeitschriften die 1970er-Jahre abgedeckt hat – Studentenbewegung und Umfeld, RAF etc. Leute kamen abends zum Videogucken oder zum Lesen, brachten selber auch Videos mit, trugen Materialien bei, wodurch das Archiv zu wachsen begann. Das Archiv bildete auch die eigenen Aktivitäten ab, es wurde zu einem Werkzeug der Selbstbeobachtung und des Informationstransfers. Anfangs mit Knipsbildern und dann mit Videokamera dokumentierten wir die eigenen Ausstellungen, aber auch Ausstellungsbesuche, z.B. in New York, und wir wurden zu einer Art Informationsbringer, was aus heutiger Sicht etwas peinlich wirkt. In den frühen 90er Jahren hatte Information einen seltsamen, mystischen, allseligmachenden Beigeschmack, der mich im Nachhinein betrachtet selbst überrascht.

Das Archivmaterial und der Raum begannen, ein eigenes Soziales und bestimmte 'Diskurse' auszubilden, wenn man das so geschwollen sagen darf. Es wurde klar, dass hier ein anderes 'Leben' stattfindet als in den toten Galerien. Dies wurde auch relativ schnell rezipiert: Spex schrieb, dass man dort sein 'antifaschistisches Bier' trinken könne; Galeristinnen in New York erzählten mir, dass sie nun nebenher auch einen 'project space' hätten oder ein Videoarchiv in der Galerie.

Nach einer Weile schien es uns zu einfach, um ein Archiv herum einen Jugendclub zu betreiben und wir rückten die Ausstellungen mehr in den Vordergrund. Durch das Archiv hatte sich ein Interesse an Genealogien herausgebildet, und wir begannen mit der Untersuchung von Vorläufermodellen. Das Auswählen, das Zusammenstellen und Kommentieren, das Aufbereiten und Zugänglichmachen von Materialen, ihre Aktualisierung und ihre Präsentation ersetzten uns damals die gute alte künstlerische Expressivität. Aber unsere Methode war nicht streng historisch. Zusammen mit Roberto Ohrt haben wir eine Situationismus-Ausstellung gemacht, mit Michael Krebber und Uwe Gabriel Wahrheit ist Arbeit – wie es wirklich war. Diese Ausstellungen hatten keine dezidierten Autoren, sie bestanden aus 'Abfall', d.h. peripheren Materialien, aus Postern, Einladungskarten, Dokumenten, Büchern, abfotografierten Fotos oder gefälschten Originalen, Einige Einfälle basierten auf Anekdoten oder Gerüchten. Hier spielt wieder das Motiv rein, dass nicht der Künstler und sein Werk, sondern eher die den Künstler umgebende Bohème und das vom Werk abgefallene Material ausgestellt war.

Weil wir im Friesenwall weder dem Original noch einer historisch korrekten Methode verpflichtet waren, hatten wir Galerien und Institutionen gegenüber einen Vorteil. Die Idee zu 'Wahrheit ist Arbeit – wie es wirklich war' entwickelte sich aus dem Gerücht, dass Helmut Draxler im Kunstverein München die Ausstellung 'Wahrheit ist Arbeit' von 1984 noch einmal 1:1 zeigen wollte – aus welchen konzeptuellen Gründen auch immer. Martin Kippenberger, Albert Oehlen und Werner Bütter wollten sich aber nicht so einfach historisieren lassen und lieber neue Arbeiten zeigen. Daraus entstand dann die Ausstellung 'Malen ist Wahlen' im Kunstverein. Wir aber interpretierten das ursprüngliche Konzept zusammen mit Michael Krebber und Uwe Gabriel und deren reichen Fundus und Erfahrungsschatz: 'Wahrheit ist Arbeit' erhielt den Anspruch des 'wie es wirklich war' und den Untertitel 'eine historische Ausstellung'.

Diese neuen, erweiterten Möglichkeiten zeigt auch eine andere Ausstellung. Wilhelm Schunk, ein Kunstsammler, der auf der Ehrenstrasse eine Erotikboutique betrieb, hatte mir Bilder eines gewissen Schlesinger ausgeliehen. Sein penibel gemalter surrealer Realismus der 1960er und 70er-Jahre schien mir gut zu den Zeichnungen von Tom of Finland zu passen, dessen Arbeiten ich bei Feature Inc. in Chicago gesehen hatte. Ich telefonierte daraufhin mit Hudson von Feature Inc. ob er mir die Arbeiten als Fotokopien schicken könnte, da ich kein Geld für den Transport hatte. Die Kopien musste ich mir beim Zoll abholen, der Zöllner lies auspacken, bekam einen roten Kopf, konnte aber keine Abgabe verlangen weil es ja 'nur' Fotokopien waren. Das war meines Wissens die erste Ausstellung von Tom of Finland in Europa, und die hat nur das Porto gekostet, welches fünf Dollar ausmachte.

Mit diesen neuen Möglichkeiten konnten wir andere Fragen stellen, Fragen nach Wahrheit, Historizität, Objektivität. Und das hat viel Spaß gemacht. Die 80er Jahre waren vorbei, das Angebertum, das fette Geprotze mit Authentizität im Riesenformat war langweilig geworden und der Markt kackte ab. Aber die neue Armut war kein Stigma, sondern hat ästhetische Entscheidungen befördert, mit denen man lustbesetzt umgehen konnte.

Haben die Arbeiten, die Du vor dem Umzug nach Köln gemacht hast, noch eine Rolle gespielt?

Nein, das hat sich mit all diesen neuen Möglichkeiten erledigt – dazu kam die Zusammenarbeit mit anderen Künstlern, bei denen Autorenschaft keine Rolle mehr spielte. Das war wie ein Befreiungsschlag, der ein neues Spiel mit Identität und Subjektivität, was immer das sein mag, erlaubte.

Habt ihr diesen Bruch damals schon thematisiert? Retrospektiv erscheinen diese Projekte als sehr bewußte Setzungen, die an spezifische historische Situationen andocken.

Jede Ausstellung hatte ihre subjektiven, anekdotischen und historischen Subtexte. Schon in der ersten Ausstellung war der Bezug zu den Allan-Kaprow-Happenings angelegt. Hippies, die schreiend durch die Reifen turnten…, das war mittlerweile so zum Klischee erstarrt. Aber auch die direkte Zusammenarbeit mit der Firma Firestone, denn Sponsoring und die obsessive Verwendung von Logos war so ein trauriges Erbe der 80er Jahre. Ich dachte, man müsste beides gleich in der ersten Ausstellung abhaken, um dadurch den Weg frei zu machen. Ebenso wurde vieles anderes möglich: das Aufgeben der Autorenschaft, die Gruppenarbeit, die Offenheit und Ambivalenz des Ausstellungsraums und vielleicht auch der Kunstwerkscharakter der Ausstellung. Das war alles neu für mich, eine Art learning-by-doing.

Nichts war planbar, es war nur einigermaßen klar, was man nicht mehr wollte. Der Rest war ein spielerisches Ausprobieren, eine Serie von Experimenten, und im Austausch mit den Leuten, die dazu beigetragen haben, haben wir heraus gefunden, was wir wollen.

Wenn man sich die Dokumentationen von Group Material Ausstellungen ansieht, lässt sich in der Art und Weise, wie diese fotografiert wurden, eine Bewußtwerdung nachzeichnen. Fotos der frühen Ausstellungen zeigen vor allem Wandabschnitte ohne Raumkontext. Ab einem bestimmten Zeitpunkt lagert sich auf der Dokumentationsebene ein Bewußtsein davon ab, dass die Ausstellung das eigentliche Medium ist und die Ausstellung wurden 'als Raum' fotografiert. Das verändert die Praxis. Was du erzählst, klingt nach einem vergleichbaren Prozess.

Ja, das stimmt. Aber im Nu wurde eine solche künstlerische Praxis vom institutionellen Feld aufgegriffen. Mit Ute Meta Bauers Symposion 'A New Spirit in Curating?' begann 1992 der Kuratorenboom und die Künstlerinnen dienten oft nur noch als Zulieferer von Baumaterial, aus dem die Kuratoren dann die Bedeutung konstruierten.

In welchem Zustand war der Laden, wie Du ihn übernommen hast?

Die Miete war sehr günstig, denn der Laden war total heruntergekommen und nur zur Zwischennutzung verfügbar. Die Entmietung, Abriss und Umbau des ganzen Viertels durch den Gerling Konzern waren bereits geplant. Weil unsere Wohnungen sehr klein waren, nutzten wir den Laden als eine Art verlängertes Wohnzimmer. Ich hatte für den Eigentümer auch eine Art Hausmeistertätigkeit übernommen, wodurch der Laden finanziert wurde.

Hat es im Friesenwall jemals etwas zu kaufen gegeben?

Es ist uns erst spät aufgefallen, dass wir diese Frage eigentlich nie thematisiert hatten. Bei der Situationisten-Ausstellung hatten wir ein paar Drippings gemacht, und es gab das Gemälde von Josef Strau, 'Realisation der Philosophie', was eine Art deutsche Übersetzung von Guy Debords Bild 'Réalisation de la Philosophie' ist. Das hat Peter Weibel gekauft, der später auch eine Situationistenausstellung mit Roberto Ohrt gemacht hat. Ein andermal war es Kippenberger, der auf einer Party einen Zeitungsausriss mit einem der beliebten Supermodels kaufte, mit denen wir den Raum dekoriert hatten. Jeder Partygast musste auf dem Bild unterschreiben bis das ganze Model nur noch bekritzelt und dadurch entstellt war. Vielleicht war es deswegen eher eine Kippenberger Arbeit, denn die Unterschrift aller Gäste konstituierte das Werk.

Gibt es die Arbeit noch?

Sie ist in seinem Nachlass. Die Anekdote zeigt schön, wie sich Wert aus dem Sozialen ableitet. Ein Raum oder eine Ausstellung fokussiert eine Szene, diese bilden eine Community (aus) und werden durch sie wiederum geformt. Das ist ein wechselseitiger Prozess, der in der Genese unserer Ausstellungen eine wichtige Rolle gespielt hat. Viele Ideen stammten von Leuten aus unserem Umfeld. Karin Barth und Jutta Koether haben uns zum Flohmarkt inspiriert, Iskender Yediler hat die Idee für die Franz Schildknecht Retrospektive gehabt. Das war der Maler aus der Lindenstrasse.

Das Verhältnis von Raum und Sozialem ist auch ein symbolischer Wert, der zirkuliert. Friesenwall hat ja sehr rasch große Aufmerksamkeit bekommen.

Es gab relativ schnell Aufmerksamkeit und wir merkten nach einem oder eineinhalb Jahren, dass das, was wir da machten, eine Art Modellcharakter hatte – ein Modell, das an anderen Orten aufgegriffen und modifiziert werden kann, der F-Raum als eine Art Multiple. Es kommt nur drauf an, wie und zu welchem Zweck das Modell modifiziert wird.

Wie hat sich Eure Öffentlichkeit konstituiert?

Das ging eigentlich von selbst, durch Mundpropaganda. Einladungskarten, Pressemitteilungen etc. hatten keine Relevanz. E-mail Aussendungen oder Webseiten gab es noch nicht. Im Kölner Galerienkontext gab es eine Art schulterklopfende Akzeptanz, so nach dem Motto, geht doch mal rüber zum Friesenwall, die machen lustige Sachen. Es war aber auch etwas unangenehm, als lustiger Appendix zum Galeriebetrieb verstanden zu werden. Diese wohlmeinende Aufmerksamkeit hat uns immer wieder dazu beflügelt, diesen Projektionen Haken zu schlagen.

Wir haben deswegen auch angefangen, ab und zu Lesungen und Ausstellungen mit Leuten aus unserem Umfeld zu machen. So wurden wir schliesslich dann doch 'Produzentengalerie'. Aber zu dem Zeitpunkt konnten wir es uns vielleicht schon leisten, auch noch Galerie zu spielen. Das, was der Raum an – wenn man so will – kulturellem Kapital erzeugt hatte, wollten wir auch wieder zurück geben: das nähere Umfeld abbilden, die Arbeiten von Freunden zeigen, die den Laden auch immer mitgetragen haben.

Wie habt ihr euer Programm entwickelt? Gab es diesbezüglich strategische Überlegungen?

Das bedurfte meist keiner großen Anstrengung, eines hat sich aus dem anderen entwickelt. Schwieriger war das bei institutionellen Einladungen nach außen. Erstmalig im K-Raum Daxer in München, den Karola Gräßlin kuratierte. Da gab es durchaus Stimmen, die das ein wenig voreilig fanden. Leute aus dem Kölner Umfeld, die zur Eröffnung nach München anreisten, empfanden das als Musealisierung.

War F-Space, Ludwigstrasse 11 im Kunstraum Daxer (1991) eure erste Selbsthistorisierung?

So würde ich das jetzt nicht nennen, denn es war ein Spiel damit. Diese institutionellen Projektionen auf Friesenwall wollten entweder einen Bericht über das, was wir in Köln so machen, oder eine Verlebendigung ihrer toten Gemäuer. Wir wollten aber keine Dokumentationen der Kölner Ausstellungen da rein kleben, noch wollten wir so tun als gäbe es diese institutionelle Barriere nicht und ungebrochen ein Sofa reinstellen und Videos gucken. Zudem gab es ja kein Umfeld, das sich zu uns setzen wollte.

In München begannen wir daher erst einmal mit einer Affirmation des Kunstraums, der, in teuerster Lage, an die Ludwigstrasse grenzte. Im Laufe der Ausstellung, über zwei Monate im Hochsommer, wollten wir den Raum auf ein anderes Publikum hin ausrichten. Über ein städtisches Programm für Jugendliche, die im Sommer nicht auf Urlaub fahren können, testeten wir den K-Raum als einen Raum, der auch von Kindern benutzt werden kann. Zu dieser anfänglich affirmativen, wenn du willst 'selbsthistorisierenden' Austellung kamen also bald Flipper, Computer, Videojukebox und andere Ausstellungselemente hinzu, die über Angebote für Kinder berichteten. Hinzu kamen dann aber auch noch Beiträge und Besuche von Künstlerinnen aus unserem Umfeld, z.B. Simin Farkhondeh, die mit Paper Tiger Television gearbeitet hat; Till Krause und Anna Gudjonsdottir; oder auch Dorit Margreiter, Mathias Poledna und Florian Pumhösl, die Plakate vom damaligen Protest gegen Mario Terzic an der Hochschule für Angewandte Kunst in Wien beigetragen haben. In der Ausstellung hingen dann ab und zu Kids ab, die Filme guckten, mit den Computern spielten oder mit der Videokamera die Umgebung erkundeten. Es überkreuzten und durchkreuzten sich verschiedene Stränge mit der Frage nach dem Publikum, dem Münchener Publikum.

Solche Situationen tragen viel zur Identitätsbildung bei und vermischen sich mit Projektionen von außen. Identitäten werden bestätigt, aber in bestimmten Bereichen wieder konterkariert.

Hm…, viel Identität wurde da nicht gestiftet. Wir wollten den Raum auf eine Weise aufladen, bei der nicht klar ist, was dieser eigentlich ist. Unser F-Raum im K-Raum Daxer, das war ja kein Jugendzentrum. Und es war auch keine Zurschaustellung des Friesenwalls, und auch keine offene Einladung an alle möglichen Leute. Das war eher ein Versuch, einen andauernden 'Umbau' einzuleiten, ein Motor für neue Aktivitäten.

Rückblickend sehe ich diese Heterogenität auch bei anderen Ausstellungen in Institutionen. Das war bei der Ausstellung im Forum Stadtpark (1992) so, dass es einen fast unsichtbaren Subtext gab, bei der Ausstellung in der Pat Hearn Gallery in New York (1993) sehe ich das auch. Pat hatte als Performance-Künstlerin im East Village angefangen und schon bald eine Galerie eröffnet. Josef und ich hatten unsere Künstlerlaufbahn eben auch in den frühen 1980ern begonnen. Das waren die Ansatzpunkte für unsere intensive East Village Recherche. Es gab ja schon zu deren Blütezeiten eine Kritik an dieser Szene, z.B. Rosalyn Deutsches Text 'The Fine Art of Gentrification' und Craig Owens’ 'The Problem with Puerilism'. Aber 1992 war die Party gerade erst vorbei, viele unserer Gesprächspartner waren nach kometenhaftem Aufstieg hart gelandet und/oder vom AIDS Tod ihrer Freunde getroffen. Die Geschichte des East Village war bis dato nicht geschrieben worden, dazu lag sie noch zu nah, aber der alte Glamour schien etwas verstaubt, man war davon noch etwas overdosed. Keiner wollte mehr zurück in die 80er und gerade deshalb schien das für uns, die wir das Ganze nur von Europa aus und durch Kunstmagazine verzerrt wahrgenommen hatten, eine unheimliche Geschichte, die noch lebte. Zwar lokalisierten wir in unserer Recherche viele Dokumente und Artefakte, wie z.B. das Jackson Pollock Kleid, das Mike Bidlo für Gracie Mansion gemacht hat, aber das interessante waren die vielen Begegnungen und Gespräche und das Phänomen des gerade erst Vergangenen. Wie konnte man daraus eine Ausstellung machen?

Archive waren in der Anfangsphase von Friesenwall 120 sehr wichtig. Gab es für Euch eine Differenzierung zwischen dem, wie ein Archiv in einem Ausstellungsraum funktioniert und wie ihr 'reguläre' Ausstellung gedacht habt?

Anfangs war das Archiv ein wichtiger Kristallisationspunkt. Es markierte das Ende der ersten experimentellen Phase im Friesenwall. Jetzt verklebten wir das Schaufenster mit alten Ausgaben der Kölner Boulevardzeitung Express, was dann so aussah, als wäre der Laden selbst in Umbau. Ich hatte ein paar Stichdaten herausgesucht, zum Beispiel den Tag der Entführung der Lufthansamaschine Landshut am 13. Oktober 1977. Das war ein Bestandteil der Archivausstellung. Weil ich gegenüber wohnte, konnte ich beobachten dass viele Passanten stehenblieben, um diese alten Schlagzeilen zu lesen. Das war der öffentliche Teil, denn wegen der abgeklebten Fenster kamen nur die Leute herein, die den Raum schon kannten, mit welchen es aber einen regen Austausch über die versammelten Materialien gab. Aus dem Fundus produzierten wir eine kleine Publikation zum Thema Puddingbombe, also dem Anfang der Kriminalisierung der Studentenbewegung. Darum herum machten wir eine Art Friesenwall-Katalog, mit Beispielen aus diesem Fundus und einem Index der Materialien. Fast jeden Abend kamen Leute vorbei, mit denen wir die Videos sichteten.

Ihr habt 1992 das Rahmenprogramm der Unfair, einer Protestmesse gegen die Art Cologne organisiert. Hat dieser Prozess eine neue Form der Vernetzung erzeugt?

Die Unfair war eine Initiative von Tanja Grunert und Christian Nagel. Die waren nicht zur Art Cologne zugelassen worden und machten, zusammen mit anderen Kollegen, ihre eigene Messe. Wir sind von ihnen angefragt worden, ob wir ein Rahmenprogramm entwickeln wollen. Mittlerweile, im Herbst 1992, hatten wir Linda Bilda und Ariane Müller kennen gelernt, welche in Wien das Kunstfanzine Artfan machten, Wir hatten von Ute Meta Bauers Informationsdienst gehört, auch von den Hamburger Fanzines Dank, das vonThaddäus Hüppi, Andreas Siekmann, Hans-Christian Dany, Gunnar Reski, Christoph Bannat gemacht wurde, von Neid von Ina Wudtke und Claudia Reinhardt, sowie von Axel John Wieder und Jesko Fezer, die in Stuttgart das Projekt Schleifschnecke hatten. Wir merken also, dass wir nicht alleine am Rande des 'offiziellen' Kunstsystems standen und dass es verschiedene Initiativen gab, die andere Produktions- und Distributionformen ausprobierten. Es war also die Idee diese verschiedenen Projekte, die wir teilweise nur vom Hörensagen kannten, nach Köln einzuladen.

Der große Leerstand im Friesenviertel erlaubte es, andere Läden anzumieten oder gratis zu bekommen und den eingeladenen Projekten zur Verfügung zu stellen. Im Friesenwall machte Paper Tiger TV einen Workshop und gleichzeitig hat Büro Bert, das waren Renate Lorenz und Jochen Becker, das Päff, eine 60er/70er-Jahre-Pop-Kneipe, die über Jahrzehnte leer stand, revitalisiert und dort ihr Copyshop-Projekt vorgestellt. Neben uns gab es auch schon den Friesenwall 116a, wo Michael Krome, Katharina Jacobsen und andere 'The Thing' gemacht haben. Letzteres war ein System von Mailboxen (BBS) das sich gerade im Kunstbereich ausbreitete und kleine Szenen grosser Städte vernetzte.

Das Rahmenprogramm hat dies im realen Raum gemacht. Mehr oder weniger parallel zum Kunstsystem entstand ein produktives Netzwerk von selbstorganisierten Initiativen, die sich untereinander austauschten. Das funktioniert vielleicht nach dem Prinzip von Wahlverwandschaften. Leute werden voneinander angezogen, weil sie ein Problem gemeinsam haben und weil sie ähnlich und unterschiedlich genug sind, um sich darüber produktiv auszutauschen. Man findet sich sympathisch, teilt Fragestellungen, bringt ein anderes Wissen ein. Es entstehen 'bohèmistische Forschungsgemeinschaften'.

Wenn so ein intensiver Zusammenhang dann einmal zerfällt, kann das für die Betroffenen sehr schmerzhaft sein, da dies in einer gewissen Weise auch Liebesverhältnisse sind. Das erweiterte Netzwerk hat aber diese Auflösungsprozesse auffangen können, und es ergaben sich oft neue Konstellationen. Ich erlebte diese Situation als sehr fruchtbar, weil das ganze Gepäck der Warenproduktion, dieses Glück/Unglück zu verkaufen oder nicht zu verkaufen nicht mitgetragen werden musste. Man konnte freier, intensiver und näher an politischen Realitäten arbeiten und musste nicht alles über die Kunst legitimieren. Dieses Netzwerk hat zwischen 1992 und 1997 als eine Art parallele Kunstwelt funktioniert. Es gab auch viel gegenseitige Kritik, Streitereien, aber vor allem viel mehr Spaß als in der institutionellen Kunstwelt, wo Hierarchien und politische und soziale Probleme eher unter den Tisch gekehrt oder – und manchmal gleichzeitig – auf einen Sockel gestellt werden.

Hat sich vom Rahmenprogramm zur Sommerakademie im Kunstverein München (1994) und danach die Art des Austauschs verändert? Kann man diesbezüglich von einer Art Entwicklung sprechen?

Nach dem Rahmenprogramm gab es jährliche Treffen dieses erweiterten Zusammenhangs: die 'Sommerakademie' funktionierte teilweise so, das 'Studio Hellerau' Projekt (1995) und die 'Minus 96 – Geld, Stadt, Tausch' in Berlin (1996), folgten daraus. Das intensivste Treffen war die von Alice Creischer, Birger Hübel und Andreas Siekmann organisierte 'Messe 2ok' (1995), weil dort bereits klar war, dass sich etwas Neues ausgeprägt hatte. Dort kam durch ein Siemens-Sponsoring-Angebot ein Problem hoch, das an den Nerven aller gezogen hat, und zu dem es sehr unterschiedliche Meinungen gab. Nach eingehenden Verhandlungen mit Siemens wurde der Entschluss gefasst, auf das Geld zu verzichten und das Projekt über Einlagen zu finanzieren. Wer wollte, hat 150 D-Mark in eine gemeinsame Kasse bezahlt. Am Schluss ist durch Getränke etc. sogar mehr als die Einlagen erwirtschaftet worden. Jeder war froh über diesen Sieg; auch die, die anders plädiert hatten. Denn genau zu diesem Zeitpunkt, Mitte der 1990er-Jahre, wurde das Begehren der Wirtschaft nach Teilhabe an Kunst- und Kulturproduktion immer mehr zur Pest. Das Interessante bei Alice, Andreas und Birger war, dass sie das Siemens-Angbot nicht sofort abgelehnt haben, sondern dass sie zuerst herausfinden wollten, worum es Siemens eigentlich geht. Dann lehnten sie ab.

Wurde in diesen Überlegungen zur Ökonomie der Projekte auch mitthematisiert, wie man sich in solchen Produktionskontexten selbst finanziert?

Rückblickend würde ich sagen, dass sich genau in diesem Feld ein grosses Bewusstsein für die neoliberale Ökonomisierung der 90er-Jahre herausgebildet hat. Ökonomie war eigentlich das Hauptthema. Die eigene ökonomische Situation spielte dabei weniger eine Rolle, man hat sich halt durchgeschlagen. Später gab es das Stichwort Selbstausbeutung und das kam deswegen auf, weil einige Wenige mit den Inhalten, Formen und Strategien der selbstorganisierten Labels Karriere machten. Es gab die Figur des 'Mittelmanns', der diese Ideen in institutionelle oder andere ökonomische Zusammenhänge übersetzte. Erst dadurch, dass andere damit Kohle machten, wurde klar, dass man es selber bisher ohne Kohle machte – also selbstausbeuterisch.

Ich glaube dass es Selbstausbeutung und die Idee von geistigem Eigentum in der Bohème gar nicht gibt. Jeder nimmt von jedem und gibt was er kann. Alles, was zirkuliert, sind Erfahrung, Wissen, Intelligenz, Empathie, Ideenreichtum, Intensität, Spaß, Glück, Liebe… Erst im Verhältnis zu Eigentum reden wir von Ausbeutung.

In dieser Hinsicht ist es schwierig, diese Geschichten vom Friesenwall alleine zu erzählen. Ich bin zwar derjenige der die Sache angeschoben hat und die Miete bezahlt hat und der nun die Nachlassverwaltung übernimmt, aber ohne die Mitwirkung von Josef Strau, Nils Norman, Kiron Khosla und Merlin Carpenter wäre das so nicht möglich gewesen und auch nicht ohne jene, die in diesem Text noch nicht genannt wurden: Vivian Slee, Barbara und Erhard Schüttpelz, Annette Sievert, Caroline Nathusius, Vincent Tavenne, Uli Strothjohann, Thomas Kalthoff, Hans-Jörg Mayer, Till Krause, Cathy Skene, Christoph Schäfer, Matthias Schaufler, Yvonne Parent.

Nach vier Jahren Friesenwall war dann aus mehreren Gründen Schluss. Kündigung, Geld alle. Mit Fremdfinanzierung hätte man das sicher noch zehn Jahre an anderer Stelle weitermachen können. Aber mir war es lieber, Friesenwall als Experiment oder Modell zu sehen und nicht als permanenter, von der Stadt finanzierter Offspace mit immer mehr, immer weniger lustigen Ausstellungen.

Du hast in der Zeit auch individuelle Beiträge für Project Unité in Firminy und Sonsbeek 93 gemacht. Wie verhält sich diese individuelle Produktion zur kollektiven Arbeitsweise im Kontext von Friesenwall?

Das ist nicht immer ein Widerspruch. In den besagten Fällen habe ich ohnehin die Praxis weitergeführt, die Ausstellungen mit Video zu dokumentieren. In Firminy und Sonsbeek ist dann eine eigenständige Arbeit draus geworden.

Der Ort, an dem sich diese Differenz/Nicht-Differenz historisch ablagert, ist das Archiv: Wer hat das Material gesammelt, die Projekte und Situation dokumentiert? Wer schafft wie Zugang?

Eine Geschichtsschreibung von Gruppenkontexten ist immer schwierig, denn als Einzelner will man nicht die Gruppe repräsentieren, die Geschichte geht dann erst mal unter, vielleicht auch weil sich die ehemaligen Mitglieder zerstreiten und man an der Wunde nicht rühren will. Einzelne machen daraus vielleicht eine Karriere, und die anderen fallen komplett raus. Manchmal ist es auch ein gemeinsamer Beschluss, wie bei Posterstudio in London, jedweden Zugang zum Archiv zu unterbinden, wenn es denn eines gibt. Dann bleibt nur noch Mythos bzw. Projektion darauf. Das ist aber auch langweilig, denn Archive beinhalten eine Form des Wissens und sie sind gerade für jene Produktionszusammenhänge sehr wichtig, in denen die Warenförmigkeit oder das Werk keine große Rolle spielen. Die Georg Baselitz Rezeption braucht kein Archiv, aber zu ABC No Rio braucht es das sehr wohl, um eine Produktion abzubilden, die sich nicht warenförmig manifestiert hat.

Könnte man sagen, dass je immaterieller eine Produktion ist, das Archiv umso wichtiger wird?

Ja, aber umso wichtiger ist es auch, die Wissensarbeit oder auch die ästhetische Arbeit, die geleistet wurde, durch das Archiv sichtbar zu machen.

… weil das die einzige Form der Erinnerung darstellt?

Ja, und was in den Köpfen derer ist, die daran beteiligt waren. Deswegen ist es ja so wichtig wie das Archiv zum Leben erweckt werden kann und wie eine Praxis, eine Erfahrung, eine Politik und eine Ästhetik, die in diesen Archiven wie in einem alten Leben schlummert, in neuem Leben wieder erweckt und weiterentwickelt werden kann. Das kann man vielleicht Aktualisierung nennen oder, wie in der freien Software Entwicklung, ein fork.

Eventuell wird sich in der Mumok Ausstellung das Archiv Problem wiederholen. Denn wie soll die Arbeit der Gruppierungen, die eher immateriell gearbeitet haben, die eine soziale oder politische ausserinstitutionelle Praxis hatten, anders abgebildet werden als durch das Ausstellen von Archiv Material und ohne dabei absolut langweilig zu werden? Gleichzeitig sind in einer solchen Ausstellung auch, sagen wir mal, die Künstlertypen, die schon immer visuell gearbeitet haben, die dann wieder die Show stehlen. Die Archive aber werden wahrscheinlich nicht produktiv werden?

Was für mich aus den 1990ern immer noch aktuell ist, sind die Erfahrungen mit dem, was wir momentan als Selbstorganisation beschreiben, in Abgrenzung zu Selbsthilfe, die von einer herrschenden Ökonomie zugewiesen wird (austerity) oder als Sprungbrett dorthinein dient (Markt). Für mich waren die beiden grossen Erfahrungen jene, dass ein Netzwerk ähnlicher Ansätze als eine Art Parallelgesellschaft entstanden ist (ich nehme das Wort hier absichtlich aus dem politischen Diskurs, weil gegen Parallelgesellschaften maßlose Ängste geschürt werden) und dass Selbstorganisation eine Form von Selbst(aus)bildung bedeutet, dass dies bohèmistische Forschungslabore sind, die ein anderes Wissen, andere Erfahrungen und andere Sozialisation ausbilden.