Der modische Imperativ
Ein Bericht von ISABELLE GRAW
Neue Märkte, neue Bündnisse: In Soho werden die Galerien von den Boutiquen
verdrängt, in Chelsea ziehen sie dann in Museumshallen, versuchen ein
Label zu werden und wünschen sich erneut teure Modeshops in ihrem Umfeld.
Die Kunstkritik schaut der Entwicklung einigermaßen hilflos zu.
In New York hat die Stunde der Mode geschlagen. Ihre Macht zeigt sich
bereits auf der Straße, wo insbesondere die Frauen ihre freudige Unterwerfung
unter modische Normen zelebrieren. Im Sommer waren es die so genannten
Moules, die zu den jede Saison vom Kaufhaus "Barneys" ausgerufenen "Must
haves" gehörten. Moules sind hinten offene, vorne spitze, überaus elegante
Schläppchen mit Highheels, für die Bequemlichkeit noch nie ein Kriterium
gewesen ist und die das Treppensteigen unmöglich machen. Nur in New York
habe ich so viele Frauen gesehen, die den ständigen Balanceakt tatsächlich
wagen und Moules auch über lange Strecken hinweg souverän tragen.
Als Beobachter dieser Szenen gerät man selbst in eine Art Trancezustand
- unwillkürlich packt einen die Sehnsucht nach solchen Schuhen. Überlegungen
wie die, dass man sich dem Sog der Mode auch verweigern könnte, erscheinen
hier gänzlich unangemessen. Zu stark ist das Begehren, das die omnipräsenten
Mode-Bilder auslösen. Eine Freundin beschrieb den Zugriff der Mode mit
dem mehr oder weniger angenehmen Gefühl, auf diesem Gebiet keine Entscheidungen
treffen zu können.
Die ganze Stadt gleicht einer Bühne, auf der mit glitzernden Gürteln und
dem omnipräsenten Leder Mode exekutiert wird. An dieser Zeremonie teilzuhaben
ist zu verführerisch. Tatsächlich scheint es vor den Botschaften der Mode
in New York kein Entrinnen zu geben - jede freie Fläche ist von massiven
Anrufungen, riesigen Gap- und Calvin-Klein-Plakaten besetzt. Es hilft
auch nichts, den Kopf wegzudrehen. Denn beim Blick in die andere Richtung
springen einem sogleich jene Leuchtkästen von Helmut Lang ins Auge, die
auf zahlreichen Taxis angebracht wurden.
Prada ins Guggenheim
Es sieht so aus, als ob auch die Kunstwelt der Mode den Vortritt lassen
würde. Im ehemaligen Galerienviertel Soho haben sich mittlerweile jede
Menge renommierte Designer - von Miu Miu bis zu Costume National angesiedelt.
In dieser unmittelbaren Konkurrenz zur Mode verblassen die letzten, verbliebenen
Galerien. Wie Stecknadeln muss man zwischen den zahlreichen neu eröffneten
und großflächigen Boutiquen nach ihnen suchen. Selbst der einst monumentale
"Broken Kilometer" von Walter de Maria verliert in diesem Kontext seinen
Ereignischarakter und vermag nur wenig Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Und dort, wo Guggenheim einst seine Downtown-Filiale eröffnete, wird demnächst
Prada einziehen. Ein deutlicheres Signal für die augenblicklichen Verschiebungen
ist kaum vorstellbar. So blieb den nach Chelsea gezogenen Galerien wahrscheinlich
nichts anderes übrig, als die Herausforderung der Mode anzunehmen.
In diesem neuen Galerienviertel hat jeder Galerieraum die Dimensionen
einer Museumsetage oder einer Donna-Karan-Filiale, wobei zwischen beiden
Architekturen ohnehin ein reger Austausch besteht. Bereits in den 80er-Jahren
hatten sich einige Modedesigner - allen voran Comme des Garçons - an musealen
Display-Strategien und White-Cube-Ästhetik orientiert. Den Höhepunkt bildete
in dieser Hinsicht wohl der von Donald Judd in den 90er-Jahren gestaltete
Laden von Calvin Klein auf der Madison Avenue.
Ein Label - ähnlich der Modemarke - versuchen mittlerweile auch Galerien
zu kultivieren. Ist mit der Größe erst einmal ein bestimmer Anspruch erhoben,
dann erfolgt die Labelisierung qua Innenausstattung. Die Galerie von Andrea
Rosen erinnert mit ihren monumentalen, metallenen Hängeschränken an ein
überdimensionales Hamburger Kontor, und selbst das Dia Center for the
Art beugte sich den neuen Gesetzen der Aufmerksamkeit. Dass der derzeit
extrem erfolgreiche Künstler Jorge Pardo deren Buchhandlung inszenierte,
kommt einem Paradigmenwechsel gleich. Bislang galt das Dia Center als
Tempel des Modernismus - in dieser klassischen Institution der 70er-Jahre
wurden ausschließlich modernistisch-konzeptuelle Praktiken von Blinky
Palermo bis zu Jessica Stockholder ausgestellt.
Doch jetzt scheint auch das Dia Center auf den Druck von Fashion-Industrie
und Event-Culture zu reagieren - ohne dabei seine formalen Prämissen aufzugeben.
Die Wahl Jorge Pardos steht auch deshalb für den perfekten Kompromiss,
weil er die modernistische Formensprache mit dem aktuellen modischen Begehren
nach utopischem Design kurzschließt. Wände und Boden der Dia-Center-Buchhandlung
legte er mit farbigen Kacheln aus, die einerseits eine 70er-Jahre-Atmosphäre,
gleichsam eine Kinderzimmerästhetik heraufbeschwören, um andererseits
ein prägnantes Logo abzugeben. Zu diesem Entwurf gehören auch mit farbigen
Stoffen bezogene, auf diese Weise vertraut wirkende Designermöbel, ein
frescohaftes Wandbild, das den Auftrag "klassisch" erfüllt, sowie eine
Regalstruktur, Garderobenschränke und eine Empfangssituation. Mit diesem
totalen Design vermag das Dia Center for the Art ebenso viel Aufmerksamkeit
auf sich zu ziehen wie die ebenfalls nach Chelsea umgezogene Boutique
von Comme des Garçons mit ihrem einem Raumschiff nachempfundenen Eingang.
Das früher eher kühle, einschüchternde Image des Dia Center wurde mithilfe
von Pardo gegen ein einladendes, fröhliches ausgetauscht. Die Logik von
Mode und Werbung ist in diese visuelle Produktion wie selbstverständlich
eingeflossen. Liegt es daran, dass einem der Entwurf von Pardo so evident
erscheint - als könne es gar nicht anders sein?
Dass das klassische, am Einzelhandel orientierte Modell der Galerie den
aktuellen Erfordernissen von Corporate Design kaum noch gerecht wird,
liegt auf der Hand. Erkundigt man sich danach, wie sich die zum Teil recht
jungen Galerien ihre riesigen Spaces in Chelsea finanzieren, dann erfährt
man, dass einige von ihnen über einen "Backer" (Unterstützer) verfügen,
eine Firma beispielsweise, die in die Galerie investiert. Somit ähneln
Galerien heute den viel beschworenen Start-up-Unternehmen, die ja ebenfalls
von der Wette auf eine Gewinn bringende Zukunft leben und auf diese Zukunft
setzende Financiers benötigen. Dies bedeutet aber auch, dass es sich unterhalb
eines gewissen Standards gar nicht erst anzufangen lohnt. Zur professionellen
Galerie gibt es in New York derzeit kaum Alternativen. Orte, die sich
als alternative verstehen oder Projektarbeit fördern, sind äußerst rar
gesät.
Als eine seltene Ausnahme unter den Galerien sollte man an dieser Stelle
die Galerie American Fine Art lobend erwähnen - dort fand zuletzt eine
von Stephan Dillemuth initiierte Ausstellung statt, die Workshops und
Performances zum Thema "art production in a dramatised field" organisierte.
Dieser Initiative gelang es, die in New York verbliebenen, an einer traditionellen
Künstlerkarriere weniger interessierten Kräfte zu bündeln - Initiativen
wie "Art Club 2000", "Bernadette Corporation" oder "Strand". Nur scheint
zwischen dem boomenden Kunstmarkt in Chelsea und einer Perspektive, die
die Verhältnisse zu beschreiben sucht, derzeit eine kaum zu überwindende
Kluft zu bestehen. Schließlich waren nur wenige der etablierteren Künstler
und Galeristen aus Chelsea bei den Veranstaltungen in American Fine Art
zugegen.
In puncto Segmentierung lässt sich der New Yorker Kunstbetrieb durchaus
mit dem Berliner vergleichen, nur hat dort die Polarisierung zwischen
Markt und Reflexion ein fortgeschritteneres Stadium erreicht. In den New
Yorker Galerien herrscht zudem eine richtiggehende Goldgräberstimmung
- die Straßen von Chelsea werden von Limousinen gesäumt, wo Chauffeure
auf Kunst kaufende Sammler warten. Szenen wie diese sah ich zuletzt in
den 80er-Jahren. Dabei scheint der schon damals geringe Bedarf an Kritik
oder Theorie heute gegen null zu tendieren. Ich hatte den Eindruck, dass
jedes Wort, jede Überlegung in dieser verkaufsorientierten Atmosphäre
als "too much" empfunden wird. Kritische Bedenken sind derzeit nicht gefragt.
Keine Einwände erheben
Was folgt daraus für die Kunstkritik? Muss der Begriff der Kritik überarbeitet
werden oder sollte an seiner oft negativen Bestimmung im Sinne von "Einwände
erheben" festgehalten werden? Die Erfahrungen in New York lassen mich
schon für eine Neuformulierung von Kritik plädieren, einen Begriff von
Kritik, der auf Vorabverurteilungen, Lamenti und Dämonisierung verzichtet.
Statt den Kunstmarkt, etwa ganz Chelseas, mit Verdacht zu belegen, wäre
mit einer differenzierteren Beschreibung viel mehr gewonnen. In diese
Diagnose müsste allerdings die Tatsache einfließen, dass man selbst verwickelt
oder zumindest nicht frei von Begehren ist.
Das Problem von Kunstkritik scheint derzeit aber darin zu bestehen, dass
sie den ökonomischen Entwicklungen im Allgemeinen und speziell der neuen
Art ihres Zugriffs auf Individuen hinterherhinkt. Erschwerend kommt noch
hinzu, dass die Kunstkritik im augenblicklichen Kunstmarkt kaum eine Rolle
spielt. So können einige New Yorker Kunstkritiker von dem, was in Chelsea
passiert, auch so sprechen, als würde es sie nichts mehr angehen. Aber
sollte man auf Chelsea und sein kritikfeindliches Klima nicht anders reagieren?
Zum Beispiel den kunstkritischen Diskurs forcieren, seine Methoden neu
überdenken und die kunstkritische Sprache in eine Form bringen, die zu
ihrer Berücksichtigung einlädt? Ohne dass dies zu Abstrichen auf der theoretischen
Ebene führt?
Als die Kunstkritik in den 80er-Jahren mit dem Modell der Affirmation
kokettierte, geschah dies aus vergleichbaren Motiven. Nicht, dass Affirmation
heute eine Option wäre. Dann schon eher eine Kunstkritik, die ihre Distanz
zu den Phänomen immer wieder neu verhandelt und nicht etwa voraussetzt.
New York ist die ideale Teststrecke für einen solchen Ansatz, weil Distanz
hier beständig in Nähe und Abneigung in Faszination umschlägt. Auch gesellschaftspolitisch
steht New York für einen neuen State of the Art, hinter den es keinen
Weg zurück gibt.
Tageszeitung, Berlin Nr. 6291 vom 8.11.2000, Seite 13, 328 Zeilen, TAZ-Bericht
ISABELLE GRAW
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