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KANDINSKY - AUTOBIOGRAPHISCHES

Ich bin geboren 5. Dezember 1866 in Moskau. Bis zu meinem dreißigsten Jahr habe ich mich gesehnt Maler zu werden, da ich die Malerei mehr als alles andere liebte, und es war mir nicht leicht, diese Sehnsucht zu bekämpfen. Es schien mir damals, dass die Kunst für einen Russen heute ein unerlaubter Luxus ist.

Deshalb wählte ich auf der Universität die Nationalökonomie zu meiner Spezialität. Die Fakultät bot mir an, mich der Gelehrtenlaufbahn zu widmen. Als ›Attache‹ der Universität zu Moskau habe ich auch die offiziellen Möglichkeiten dazu bekommen.

Nach sechs Jahren bemerkte ich aber, dass mein früherer Glaube an den heilenden Wert der sozialen Wissenschaft und schließlich an die absolute Richtigkeit der positiven Methode stark geschmolzen war. Endlich entschloss ich mich, die Resultate der vielen Jahre über Bord zu werfen. Und es schien mir, dass diese ganze Zeit für mich verloren war. Heute weiß ich, was sich in diesen Jahren in mir gesammelt hat und ich bin dankbar dafür.

Früher hatte ich mich hauptsächlich mit dem Problem des Arbeiterlohns theoretisch beschäftigt. Jetzt wollte ich an dieselbe Frage von der praktischen Seite herantreten und nahm in einer der größten Druckereien in Moskau die Stellung eines Leiters an. Mein neues Fach war der Lichtdruck, welcher mich einigermaßen in Berührung mit der Kunst brachte. Meine Umgebung waren Arbeiter.

Ich blieb aber nur ein Jahr in diesem Fach, da mit 30 Jahren mich der Gedanke überkam: jetzt oder nie. Die allmähliche Innere mir bis dahin unbewusste Arbeit war jetzt so weit, dass ich zu dieser Zeit meine künstlerischen Kräfte mit vollkommener Klarheit fühlte und Innerlich war ich so reif, dass mir die Berechtigung Maler zu werden ebenso klar wurde.

So ging ich nach München, dessen Schulen damals in Russland hoch geschätzt wurden. Zwei Jahre besuchte ich die berühmte Ažbe-Schule und zwang mich, die Zeichnung von der organischen Seite zu studieren, was mir widerwärtig war. Danach wollte ich die Zeichenklassen der Münchener Akademie versuchen, fiel aber bei der Prüfung durch. Nach einem Jahr selbständiger Arbeit zeigte ich meine Entwürfe Franz Stuck und wurde von ihm in seine Malklasse auf der Akademie aufgenommen. Ich verdanke seiner Korrektur vieles und von ganz besonderem Werte war für mich sein Ratschlag zur Vollendung des Bildes.

Nach einem Jahr fand ich, dass ich weiter allein arbeiten muss und das war der Anfang meiner künstlerischen Laufbahn.

Seitdem sind zehn Jahre vergangen, welche sich in dieser Kollektion abspiegeln.

Diese Kollektion zeigt, dass mein Ziel immer dasselbe blieb und nur an Klarheit gewann und dass meine ganze Entwicklung nur in dem Konzentrieren der Mittel zu diesem Ziel bestand, welche allmählich von dem für mich Nebensächlichen sich befreiten.

München, September 1912.

KANDINSKY.

Ergänzung.

Im allgemeinen ist es das Schicksal des Künstlers, missverstanden zu werden. Wie jede Tatsache hat auch diese zwei Seiten. D. h. aus dem Missverstehen wachsen die Möglichkeiten, in einem Werk immer neue Eigenschaften, also neue Erlebnisquellen zu entdecken. So wurden Bände über Werke geschrieben, und der Inhalt dieser Bände würde manchen Verfasser des Werkes in Staunen bringen. Das ist die schöne, beglückende Eigenschaft des Missverstehens, welches hier erst ungeahnte und tief verborgene Reichtümer aus dem Werk herausholt.

Die unangenehme Seite des Missverstandes zeigt sich gewöhnlich zuerst. Sie ist die Quelle des Hasses gegen den Verfasser und seiner Leiden. Diese unangenehme Seite ist aber nur dann wirklich schlimm, wenn das Hauptstreben des Verfassers mit falschen Verstandeslampen beleuchtet wird und wenn sein Werk dadurch ein gespenstisches, verdrehtes und ein unwahres Leben bekommt. Hier hilft eigentlich kein Erklären. Der Verfasser fühlt sich wie im Traum: er muss eilen, er will sein Ziel erreichen, die Beine sind aber wie zusammengebunden, die zitternden Knie versagen. D. h. klar, richtig, erschöpfend sein "Ziel" darzustellen, plausibel zu machen, ist nicht nur absolut, sondern größtenteils auch relativ unmöglich. Es ist langweilig, uralte Wahrheiten unermüdlich zu wiederholen. Ich muss mich aber zwingen und sagen: Kunst ist weder absolut, noch relativ erschöpfend erklärbar.

Nur eins ist möglich. Die Methode der Ausschließung. Bekämpfung der falschen "Erklärungen", die die ganze Existenz des Werkes im Grunde ruinieren. Was mich, mein "Ziel" speziell anlangt, so treffe ich leider viel zu oft folgende zwei "Erklärungen", die durch ihr vielleicht phantasievolles, aber durch und durch falsches Licht mein ganzes Werk verzerren.

1. Es wird mit Vorliebe behauptet, dass ich Musik male. Diese Behauptung kommt von der Seite der oberflächlichen Leser meines Buches "Über das Geistige in der Kunst". In diesem Buch spreche ich lang und breit, auf vielen Seiten darüber, dass es vollkommen unmöglich ist und eine unnütze Aufgabe wäre, eine Kunst durch eine andere zu ersetzen, dass es ein Glück ist, in verschiedenen Künsten grundverschiedene Mittel zu besitzen. So wie der Zuschauer im allgemeinen im Bilde den Gegenstand, die Schönheit, die Malerei und allerhand verschiedenes (je nach Mode) sieht, so liest gewöhnlich der Leser das Buch: er liest Worte und Sätze und ahnt den Inhalt des Buches nicht, in meinem Buch trifft dieser Leser oft das Wort "Musik" - daraus schließt er, dass ich Musik male. Der eine will nicht, der andere kann den Inhalt des Gesagten nicht verstehen.

2. Da in demselben Buch vom Geistigen gesprochen wird und ein spezielles Kapitel der Wirkung der malerischen Form auf die Seele gewidmet ist, so schließen daraus die noch oberflächlicheren Leser, dass ich der Maler der Seelenzustände bin und speziell meiner eigenen. Und das ganz besonders deshalb, weil in meinen letzten Bildern der Gegenstand nicht zu erkennen ist. Diese Logik darf und soll unberührt bleiben. Ich persönlich habe jedenfalls keine Lust, an ihr zu rütteln. Ich weise ausschließlich auf die Nebensächlichkeit dieser Frage hin.

Es ist eine A-B-C-Weisheit, dass ohne "Seelenzustand" kein Werk entstehen kann, sondern nur ein toter Schein, an dem die Unfühlenden mit Vorliebe herumkauen, welches Herumkauen den offiziellen Namen der Kunstkennerschaft führt.

Auch dieses Vergnügen möchte ich keinem fortnehmen.

Ob man mir es glaubt oder nicht, möchte ich hier nur eins betonen: es ist unwesentlich, was der Künst1er will - es ist aber wesentlich, ob das Werk lebt oder nicht. D. h. wenn das Werk tatsächlich schließlich lebt, so darf es aus jedem Grund entstehen: jeder Grund ist in diesem Falle gleich gut. Jeder Grund ist gleich schlecht, wenn aus ihm ein totes Werk herauswächst.

Und endlich: ich persönlich kann keine Musik malen wollen, da ich eine solche Malerei für grundunmöglich und grundunerreichbar halte. Meine Seelenzustände zu malen, kann ich keine Lust bekommen, da ich fest überzeugt bin, dass sie andere nicht angehen, ihnen uninteressant sein dürften.

Mein Ziel ist: durch malerische Mittel, die ich über alle anderen Kunstmittel liebe, solche Bilder zu schaffen, die als rein malerische Wesen ihr selbstständiges, intensives Leben führen.

Meine persönliche Eigenschaft ist die Fähigkeit, durch das Beschränken des Äußeren das Innere stärker herausklingen zu lassen. Knappheit ist mein liebster Modus. Deshalb treibe ich auch die rein malerischen Mittel nicht auf die Spitze. Das Knappe verlangt das Unpräzise (also keine zu stark wirkende malerische Form sei es Zeichnung oder Malerei). Ich habe eine ausgesprochene Abneigung gegen das "Unter die Nase schieben". Wenig berühren mich Werke, welche den Budenausrufern gleich ihre schönen Eigenschaften über den ganzen Marktplatz mit grellen Stimmen verkünden. Am wenigsten möchte ich, dass meine eigenen Bilder diesen Ausrufern gleichen. Lieber sollen fremde Menschen mit allerhand falschen Etiketten meine Bude bekleben.

Wenn ich ziemlich gegen meinen Willen diese "erklärenden" Zeilen geschrieben habe, so war es nur aus dem Wunsche, manchem wohlwollenden Beschauer die zwei schlimmsten Blöcke aus dem Wege zu schaffen, die die "Kunstkenner" und "Kunstphilosophen" leichten Herzens zwischen meinen Bildern und dem wohlwollenden Beschauer in einer so ungeschickten Weise herbeigeschleppt haben.

München, 1. Januar 1913. (Mitgeteilt in ›Katalog Kandinsky Kollektiv-Ausstellung, 1902 - 1912‹)

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