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Brief des Malers Eugen an seinen Bruder In Cabets Roman "Voyage en Icarie" beschreibt der junge französische Maler Eugen, der nach der Julirevolution freiwilling nach Ikarien ins Exil gegangen ist, verschiedene Aspekte des ikarischen Lebens: BRIEF EUGEN'S AN SEINEN BRUDERLieber Kamill! wäre doch unser theures Frankreich endlich auch ein Ikarien! Lies und staune. NAHRUNG Bei uns ist alles was sich auf Leibes-Nothdurft bezieht, bekanntlich ganz der Laune des Zufalls preisgegeben; hier zu Lande ist es aufs Gerechteste und Umständlichste geordnet, und man darf sagen, Ikarien habe den schwersten und erhabensten Sieg errungen, der dem Menschen auf Erden zu Theil werden kann: Ikarien hat den Zufall besiegt. Zuvörderst bestimmt das Gesetz, welche Nahrungsmittel heilsam, und welche zu verwerfen sind; ein Rath von Gelehrten und Sachkundigen, von der Deputirtenkammer eigens dazu ernannt, und vom Mitwirken der Bürger unterstützt, hat ein Verzeichniß von allen Nahrungsmitteln angefertigt, mit genauer Angabe der guten und schlechten Eigenschaften von jedem, oder richtiger der Verhältnisse, worin ein Nahrungsmittel diese oder jene Eigenschaft behält oder verliert. Nach dem ikarischen Satze: "zuerst das Notwendige, dann das Nützliche, zuletzt das Angenehme", nach diesem so einfachen, so wahren Lebenssatze, der auf das Größte wie Kleinste auf Erden seine Anwendung findet, hat das Comite jener Gelehrten auch in dieser Angelegenheit verfahren, und an jede Familie des Reiches ein Exemplar der erwähnten Schrift geliefert. Außerdem hat jede Familie ein Exemplar eines andern Buches, worin die zweckmäßige Zubereitung jeder Speise angegeben ist; ein ikarisches Kochbuch... Die Republik hat also die Nahrungsstoffe festgesetzt. Nach den Jahreszeiten und Lebensaltern, Beschäftigungen und Gesundheitszuständen kommen in den Verbrauch wohl einige Verschiedenheiten, wie du dir denken kannst, aber diese Verschiedenheiten sind ganz unerheblich auf das Ganze, und es ist eine viel größere Gleichheit hier wirklich, als unsere kühnsten Denker oder Träumer je haben für möglich halten wollen. Die Republik läßt keine andern, als die vom Speiserath anerkannten Nahrungsmittel bauen, und so findest du denn auch keine ändern bei ihren Ackerwirthen, welche als Mitbürger und Mitgesetzgeber ihr Interesse daran haben, ihren eignen Gesetzeswillen zu vollstrecken. Die Gemeinschaft Ikarien vertheilt die Produktion des Bodens, die sie so hoch wie möglich, durch beste Benutzung, Düngung, zweckmäßiges Abholzen und Waldpflege, durch Bewässerung usw. gesteigert hat, gleichermaßen an jeglichen Einwohner, wenn ein Stoff in so reichem Maße produzirt wird, daß alle mitgenießen können und zur selbigen Zeit. Sie vertheilt jedoch, wenn ein Stoff nur in einem Maße, welches nicht für Alle ausreicht, denselben auch nur theilweise, d.h. in der Art, daß jeder Einwohner erst dann ihn erhält, wenn die Reihe an ihn kommt... Auf diese unendlich einfache Manier ist der gröbste wie der feinste Nahrungsstoff völlig im Genüsse Aller. Kein Mensch beklagt sich, er komme zu kurz. Keiner aber kann auch prassen, oder geizig aufwuchern und speichern, denn alles Aufspeichern geschieht lediglich durch die Gemeinschaft in den Nationalmagazinen, zufolge besonderer National-gesetze. Somit wird diese große, viele Millionen umfassende Bevölkerung besser genährt als unsere reichen Herrschaften... Die Gerichte wechseln; alle Tage kommt ein anders; über einerlei kann man sich nicht beklagen. Übrigens ist auch die Zeit und Dauer, und Zusammensetzung des Frühstücks und Mittagstisches vom Comite nach reiflicher Erwägung festgestellt. Und warum sollte man nicht gern diesem folgen? Ist es doch zum Besten. Der Mensch gehorcht gern einer Ordnung, die er selbst gemacht hat. Um sechs Uhr früh nehmen die Arbeiter, das will heißen alle Einwohner, gemeinschaftlich in dem Speisesaal des Stadtviertels einen leichten Morgenimbiß ein. Um neun Uhr frühstücken sie, nachdem sie bereits einige Stunden gearbeitet, in der Werkstatt; die Frauen aber und Kinder thun ein Gleiches zu Hause. Um zwei Uhr wird zu Mittag gespeist; alle Einwohner derselben Straße versammeln sich dazu in dem Speisehause. Abends, gegen neun oder zehn Uhr, genießt jede Familie noch ein kleines Abendessen zu Hause, und dies, in Früchten und Zuckerwerk bestehend, ist von den Frauen bereitet. — Das Mahl beginnt meist mit einem TOAST auf die Gemeinschaft, auf die Gründer derselben, INSONDERS AUF IKAR DEN BEFREIER UND WOHLTHÄTER. Du mußt gestehen, Bruder, die Ikarier wissen zu speisen. Ich sehe nur schlechterdings nicht ein, weßhalb andere Leute nicht auch dieses haben dürfen? Übrigens ist es selbst mir, der ich doch die prächtigen Speise- und Kaffeesäle von Paris und London kenne, ein erstaunliches Schauspiel gewesen, wie es bei solchem gewöhnlichen ikarischen Mittagstisch hergeht. Der Glanz des Lokals, das Silber und Gold, Porzellan und Weißzeug, die Möbeln, die Beleuchtung, die Teppiche sind vielleicht bedeutender als in unsern europäischen Herrschalts- und Fürstenpalästen; gewiß aber haben sie das vor diesen voraus, daß hier alle Welt mitgenießt. Selbst Gemälde, Blumen, Musik, Wohlgerüche, Springbrünnlein u. dgl. fehlen in keinem dieser großen, gemeinsamen Speisesäle, an die sich meist ein Garten und eine Terrasse schließt. Durchschnittlich speisen zweitausend Leute zusammen. In diesen Lokalen wird am zehnten Tage der ikarischen Woche nicht gespeist; an diesem ikarischen Sonntage ißt man im Kreise der Seinigen oder besonderer Freunde, geht aufs Land, macht Wasserpartien. Auch hierfür sorgt die Republik; es werden den zu Ausflügen in die Umgegend sich Anschickenden zubereitete Gerichte ins Haus gesandt. Du siehst, der Speisesaal des Stadtviertels weiß den Hausfrauen viele Plage abzunehmen. VERTHEILUNG DER LEBENSMITTEL So schwierig diese Aufgabe aussieht, so einfach und verständig ist sie gelöst. Du erinnerst dich, daß die Republik alles zum Unterhalt Erforderliche baut, verarbeitet, und aufspeichert. Dazu dienen geräumige Keller und Magazine, deren jedes ein Verzeichniß der Speisesäle, Werkstätten, Schulen, Hospitäler und Familien hat, an welche es abliefern muß. Im Magazin steht für jede Familie ein Korb, ein Maaß mit Hausnummer und Straßennamen gezeichnet; in diesem Maaß wird der Antheil von Stoffen zugemessen. Dieser Maaße sind stets zwei vorhanden, so daß eines weggetragen werden kann, während das andere dort bleibt. Jede Wohnung hat eine besondere Nische oder Vertiefung in der Mauer, wo die Austheiler das volle hinstellen und das leere, schon in Bereitschaft dastehende, abholen. Ein Klingelzug bedeutet der Familie die Ankunft des frischen Vorraths; zudem ist die Stunde vorher allgemein bestimmt. KLEIDUNG Wie mit der Nahrung, lieber Bruder, gerade so geht es mit der Kleidung... Die Republik hat ein Comite erwählt, welches auf vorherige Zuratheziehung Aller, die Kleidungsweisen aller Länder geprüft, dies Verzeichne derselben mit farbigen Abbildungen (in einem schönen Werke, welches jede Familie besitzt) angefertigt und die Vortheile wie Nachtheile einer jeden dieser Kleidungen gehörig, mit einem Text, ans Licht gestellt hat. Der Leser findet darin eine genaue Schilderung der Nützlichkeit, Nothwendigkeit und Annehmlichkeit. Was geschmacklos war, ist vom Muster, von der Farbe, von der Form sorgsam verbannt, und so kommt es denn, daß die ikarische Tracht an Form, Farbe und Zeichnung die angenehmste ist, die ich je gesehen; ich glaube nicht, daß es etwas noch darüber gibt. Da ist Einfachheit nebst Grazie, da ist Pracht nebst Geschmack. Jede Schuhform, jede Haartracht z.B. ist vorher von einem Modell der Besprechung für würdig erachtet und kritisirt worden... Du kannst dir vorstellen, daß Jeder zwar dieselbe Kleidung trägt, aber doch bei dem entwickelten Schönheitssinn der Nation, die Einförmigkeit und Langweiligkeit vermieden wird. Von selbst versteht sich, daß die Kleidung der beiden Geschlechter eine verschiedene ist. In jedem Geschlecht ändert das Individuum häufig seine Tracht, je nach seinem Alter und seiner Stellung. Durch ein sinnreiches Anwenden des Gegebenen ist die Einrichtung getroffen, daß gewisse Verhältnisse der Person auch besondere Eigenthümlichkeiten in der Tracht mit sich führen. So sind Kindheit, Jugend auf ihren verschiedenen Stufen, Mündigkeit z.B., verheiratheter, lediger, verwittweter Stand, Wieder-verheirathung, die verschiedenen Geschäfte und Ämter, Arbeiten und Verwaltungen, auf der Kleidung angezeigt. Es kommen auf diese Weise Uniformen dabei heraus, aber was schadet das? Tausende und Tausende von Uniformen, jede eine andere, ist das nicht himmelweit entfernt von dem Einförmigen? — Zudem ist für die jungen Frauenzimmer, z.B. zwar Stoff und Schnitt des Gewandes bestimmt, aber die Farbe keineswegs; diese hängt lediglich von ihrem Geschmack ab, und du weißt, die Frauen wissen sich stets geschmackvoll zu tragen, sobald man sie von dem Joch der albernen Moden befreit hat. Ferner ist die Kleidung für die Arbeitsstunde, für die Mußestunde, für Festlichkeit, für die feine Gesellschaft oder für die öffentliche Versammlung, für die Stube — stets eine verschiedene. Willst du etwas von der Weise wissen, wie die Kleidung gemacht und ausgetheilt wird, so vernimm folgendes: Du hast nicht vergessen, daß die Republik mit Leichtigkeit die Übersicht über die Quantität der Rohstoffe, wie auch der Kleidungsstücke, die zur Nothwendigkeit gehören, sich bewahrt, mit Leichtigkeit desgleichen die Rohstoffe im Bereich Ika-rien's durch ihre Ackerbauer erzeugt, oder im Ausland ankauft; ferner durch die, weit näher als bei uns, der Vollkommenheit gebrachten Maschinen zubereitet, und in riesenhaften Werkstätten durch Arbeiter und Arbeiterinnen in Kleidungen verwandelt. Fast alle Stücke, von der Kopf- bis zur Fußbekleidung, sind elastisch, können mithin im Nothfall für verschiedene Personen passen, und sind ohnehin so eingerichtet, daß ihre Darstellung sehr geringe Zeit in Anspruch nimmt. Beinahe alle werden auf mechanischem Wege gemacht, und die Arbeiterhände haben nur wenig zu thun übrig. Maaßnehmen ist unnütz geworden, da die Stücke immer auf vier bis fünf Größen gefertigt sind. Die immer dieselben Stücke machenden Arbeiter gelangen, von den Maschinen unterstützt, nothwendig zu großer Gewandtheit, und zwar unter kostbarer Ersparniß von Zeit, Kräften und Mühe. Auch ist die lächerliche Erscheinung, die man Mode heißt, verschwunden. Jede Familie wählt im Magazine was sie braucht und was ihr zusagt. Das Magazin führt Buch über jede Familie und schickt ihr in's Haus, was sie sich gewählt hat und was ihr zukommt... Namentlich sind die Kleidungen des weiblichen Geschlechts über allen Tadel erhoben. Das weibliche Geschlecht, bester Kamill, genießt überhaupt in diesem glücklichen Lande Auszeichnungen, Achtungsbezeigungen, wie es sie im übrigen Theil der Welt noch vergeblich sucht. Es ist der stete, zarte Gegenstand der feinen und ernsten Huldigungen seitens der männlichen Bewohner Ikarien's. Man möchte sagen, die ikarischen Männer erheben und verherrlichen ihre Mitbürgerinnen, um mit um so reicherm Genuß sie anbeten zu können. Wie gar anders sieht es dagegen in unserm unseligen Frankreich! |