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...aus Oskar Maria Graf (1894-1967) „Wir sind Gefangene“ (e.A. 1927)


Münchener Künstler und Anarchisten besuchen Monte Veritá,

Oskar Maria Graf trifft Kropotkin.


ERSTE FREIHEIT

..... Der Zirkel unserer Kameraden bestand außer uns noch aus sechs Leuten: Grobmaier, ein echter Münchner mit seltsam verworrenen Siedlungsideen, seine Frau und ein Bub. Dann Jenke, der Dekorationsmaler aus Sachsen, Giuseppe, ein Münchner Schlosser gutmütig und martialisch gewachsen, immer ein seltsam linkisches Lächeln auf den Lippen, endlich Theo mit seiner Grete. Jeder hatte sich eine Behausung zurecht gemacht und arbeitete nur zeitweilig, um die Mußestunden seiner freien Entwicklung widmen zu können. Es waren eigentlich alles Leute mit einem geheimen Hang, sogar mit einem leisen künstlerischen Einschlag. Das Innere war das Wesentliche, und die Aufgabe des echten Anarchisten hieß: Sein Äußeres nach dem Gesetz des innersten Dranges zu formen, in größter Freiheit, uneingeschränkt, möglichst unberührt von der »Kultur«.

Theo war die leitende Intelligenz. Es wurde viel diskutiert. Pläne wurden entworfen für eine spätere anarchistische Siedlung in Brasilien.

Gobmaier war der praktischste von allen. Von Beruf Tapezierer, konnte er alles und sah darin den größten Fortschritt, wenn ein Mensch sich alles zum eigenen Lebensbedarf selber herstellen konnte, das Haus bauen, die Kleider schneidern, das Land bebauen. Er arbeitete unablässig, und in den Freistunden schrieb er naive Verse auf den Lago Maggiore, Freiheitsgedichte und Gedanken. Jenke war radikaler Vegetarier, ergab sich mehr der Natur, malte kleine Bildchen und rechtfertigte in Tagebuchnotizen den Vegetarismus. Er war sehr sanft und verbrachte viel Zeit, seine Verdauungstheorie einzuhalten und sie anderen plausibel zu machen. Darin war er, wenn es auch drollig aussah bei ihm, fast fanatisch. Wenn wir zu ihm kamen, las er uns Stellen aus Nietzsche oder aus Forel vor. Aber alles lief dabei auf den Vegetarismus hinaus. Als ich einmal sehr pathetisch das Nachtlied Zarathustras vorlas, sagte er ganz verzückt: »Der Mann war bestimmt ein Vegetarier!«

»Sehr nett«, sagte ich einmal, als er mir seine Bildchen zeigte. Darob wurde er böse, nahm mich und führte mich vor seine Türe, fing an, mir die Natur zu erklären. Dabei hob er seine Hände wie Scheuklappen vor die Augen und sagte, in die Landschaft blickend: »Ich säh äbn da blau, nich wohr – und mal’s äbn so hin. Das ist f’r mich Gunst. Ganz so wie äbn die Nadur äs gibt.«

Ich nickte immerzu. Wieder ins Haus tretend, meinte er: »Nur ’n bißl ä Gäschigg muß äbn ibral dabei sein.« Giuseppe, der bei ihm wohnte, kümmerte sich nicht um ihn, und es schien mir, als lache er ihn heimlich aus. Er war in allem nüchtern und arbeitete immer an etwas Praktischem.

Das ganze Kameradschaftsverhältnis war lose. Jeder lebte für sich. Nur die Überzeugung schloß zusammen. In Ländern mit Regierungen, in Städten und in dieser Zivilisation war kein rechter Platz für einen Anarchisten. Darum hieß es irgendwo von vorne anfangen. Irgendwo auf der Welt, wo vollkommene Freiheit solches Leben ermöglichte, solche Gemeinschaften schaffen konnte. Deshalb wurde der Plan, nach Brasilien auszuwandern, mit jedem Tag brennender. Man kam Abend für Abend zusammen, las Kropotkin, Landauer, Proudhon und diskutierte darüber. Oft wurde es erregt, aber man verstand sich. Den Tag über arbeiteten alle.

Wir hatten kein Geld. Der Logisherr drängte. Ich verfluchte die ganze Schweiz. In Ascona gab es Arbeit bei Gräser. Aber der bezahlte nichts. Er gab nur Essen und Unterkunft und verweigerte jede Einmischung von »Kultur«. Siedlungen dieser Art gab es genug. Das rentierte sich für den, der sich einmal einen Besitz geschaffen hatte, mitunter sehr gut, denn die Deserteure zum Beispiel oder die russischen Revolutionäre waren gezwungen, diesen Drohnen Dienste zu tun ohne Bezahlung.

Es waren alle möglichen Menschensorten da, Revolutionäre, Vegetarier und Maler aus allen Himmelsrichtungen, Freiluftkuranhänger und endlich Literaten und Naturmenschen mit langen Haaren und nur mit einem Hemd aus grobem Sackleinen bekleidet. Die Vollblutpflanzenfresser hatten auf Veritá eine große Siedlung, genannt »Die Heidelbeere«. Dort wurde Nacktkultur verkündet, neues Menschentum und freie Liebe betrieben. An allen Bäumen klebten Propagandazettel in Versform, die zum Eintritt aufforderten, aber wehe, wer nach Seife roch, solche mitbrachte oder gar rauchte ...

Unsere Geldnot wurde immer drückender. Etliche Tage arbeiteten wir bei Gräser. Dann gab es in Locarno beim Malermeister Schmidt Anstreicherarbeit. Nanndl sandte Geld. Es ging also wieder.

»Hol’ der Teufel dieses Leben«, brummte ich einmal in der Diskussion, »es ist genau wie woanders ...«

Schorsch zog aus und baute sich in einer Mühle ein paar Zimmer aus, pflanzte sich Gemüse und fand endlich als Konditor Arbeit in Locarno. Ich haßte meine Umgebung auf einmal; nannte Jenke einen »Grasfresser und Verdauungsrevolutionär« und schloß mich ab. Dieses geruhsame Leben und Diskutieren gefiel mir nicht. Ich kaufte mir Nahrungsmittelvorrat für meine letzten Franken und ließ mich nicht mehr sehen, lag den ganzen Tag auf meiner Matratze und las oder schrieb. Manchmal durchstrolchte ich allein die Gegend.

Als ich eines Tages in Ascona in den Autobus, der nach Locarno fuhr, einstieg, saß neben mir ein Herr, der mir sehr bekannt vorkam. Zu seinem Geburtstag hatte kürzlich der Leipziger Anarchist sein Bild gebracht.

Ein französisch sprechender Begleiter unterhielt sich mit ihm. Ich konnte also in aller Ruhe mein Objekt besehen. Klein war der Mann, trug einen langen, gepflegten Graubart, der die halbe Brust verdeckte. Seine Augen irrten unruhig hinter den Gläsern, das ganze Gesicht war gedrungen, scharf traten die Backenknochen heraus. Nur die Stirn lief ebenmässig in den Schatten des Hutes.

Die beiden stiegen vor Locarno aus. Ich folgte ihnen. Immer näher kam ich ihnen. Der kleine Graubart wurde nervös. Ich trat ganz an ihn heran, klopfte ihm von hinten auf die Schulter, daß er sich erschreckt umdrehte und mich etwas verwirrt ansah.

»Verzeihung, habe ich vielleicht mit dem Fürsten Peter Kropotkin die Ehre?« sagte ich etwas unbeholfen und lachte ein wenig. Der Mann nickte freundlich und musterte mich flüchtig. Ich trug zu damaliger Zeit nur Hose und Hemd, lief ständig barfuß und hatte lange, wallende Haare.

»Verzeihung«, sagte ich schon wieder etwas hastig, »mein Name ist Graf. Ich bin Sozialist und habe Ihre Photographie im Leipziger Anarchist gesehen.«

»Ein junger Genosse«, sagte jetzt Kropotkin zu seinem Begleiter und stellte mich vor. Wir kamen langsam ins Gespräch. Ich lobte Kropotkins Bücher und erzählte von der Bewegung in Deutschland. Interessiert hörten die beiden zu.

»Schreiben Sie auch für sozialistische Blätter?« fragte der Fürst, als ich flüchtig etwas von der Schriftstellerei erwähnte, und sah mich an.

»Nein, nur für Witzblätter«, antwortete ich. Wieder maßen mich die beiden und lächelten ein wenig. Man wußte auf einmal nicht mehr, was man reden sollte. Mir wurde unbehaglich. Ich sprach etwas von meinen deutschen Genossen in Brione und verabschiedete mich an der Straßenbiegung.

»Hoffentlich sehen wir uns jetzt öfter wieder«, sagte ich beim Händedruck und rannte eilig weg. Mit heißem Kopf und atemlos kam ich in Brione an und erzählte meinen Kameraden mein Erlebnis. Alle waren hingerissen. Sofort wollte man eine feierliche Huldigung veranstalten und den Fürsten aufsuchen.

»Das ist deutscher Veteranenverein zu Bismarcks Todestag«, sagte ich und erhob Einspruch. Das traf. Ein Streit entstand. Man fühlte sich irgendwie verletzt und suchte sich verbissen zu rechtfertigen.

»Es ist ganz etwas anderes um die Respektierung einer geistigen Leistung, die der ganzen späteren Menschheit einmal von großem Nutzen sein kann, als um den anerzogenen Fürstenkult, der niemandem dient und nur die Masse verdummt«, nahm Theo immer wieder das Wort und fuhr unentwegt fort: »Wenn es uns drängt, Kropotkin sichtbar zu ehren, so entspringt dieses Vorgehen unsererseits – ich möchte fast sagen – spontan unserem gesunden Menschenverstand.«

»Spontan handelt der deutsche Veteranenverein auch«, sagte ich boshaft.

»Sophist«, schrie Theo, und böse Blicke trafen mich.

»Früher hat man seinen Kaiser oder sonst so ein Tier gehabt, jetzt habt ihr euch einen anderen Gott gebaut«, sagte ich aufstehend und fügte lächelnd hinzu: »Es ist eben immer das gleiche, der Mensch braucht seine Autorität, sonst kommt er um.« Innerlich halb getrennt, gingen wir auseinander.

Es ist ein seltsam Ding um einen deutschen Revolutionär, dachte ich, durchs Dunkel schreitend, er ist wie der ewig zerklüftete Zwanzigjährige mit den unverdaulichen Idolen, der leibhaftige Don Quichotte mit dem ewigen Drang, ein Nazarener zu sein.

Schwerer Duft hing in der Nacht. Der Mond durchwuchtete wanderndes Gewölk. In der Tiefe lag das lichtgespickte Locarno und griff in den bleichen Lago. Der dehnte sich friedlich wie eine bläulich-silberne Matte aus, und der Himmel stand hoch und unendlich weit.

Kurz vor dem Einschlafen richtete ich mich plötzlich auf und sagte ganz laut vor mich hin: »Es ist ja Unsinn! Ich muß weg! Das ist ja alles Schleim.«

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