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Quelle? surfer - kommst du hier vorbei - wer hat das geschrieben??? // guter kritischer text!


Neue Gemeinschaft — ein »Orden vom wahren Leben«

Die Neue Gemeinschaft war eine Schöpfung aus dem Friedrichshagener Dichterkreis heraus. In dem kleinen Dorf Friedrichs­hagen bei Berlin hatten sich im letzten Jahrzehnt des 19. Jahrhunderts die Männer angesiedelt, welche in den voraus­gehenden achtziger Jahren als literarische Kritiker (so die Brüder Heinrich und Julius Hart) oder als kultur-politische Akteure (so Bruno Wille und Wilhelm Bölsche) die literarische Revolution des Naturalismus mit heraufgeführt oder in sozialdemokratischen bzw. anarchistischen Arbeiter­versammlungen einem linksradikalen Spontanismus das Wort geredet hatten (Teilhabe an der Partei-Opposition der »Jungen« 1890).

Der Wegzug von der ihrer Meinung nach gefühls- und geisttötenden Großstadt in die Fichtenwälder der Mark (in Parallele zur Gründung anderer ländlicher Künstlerkolonien in dieser Zeit) war bereits ein Indiz für das Verlassen der ursprünglichen literarischen und sozialen Positionen. Zwar lag Friedrichshagen im Osten der Großstadt Berlin und damit näher an den Arbeitervierteln als an den westlichen Wohnvierteln der Wohlhabenden, aber schon verdrängte ein gemütvoller Individualismus und eine elitäre Einstellung (»Sozialaristokratie«) das soziale Engagement bzw. limitierte dieses auf eine nach dem Muster der Revolution des Geistes verstandene Arbeiterbildung (1890 Gründung der »Freien Volksbühne« bzw. 1892 der »Neuen Freien Volksbühne«).

Und ein bloß materialistischer und zolaesker Naturalismus genügte diesen »Idealisten« nun auch nicht mehr, da sie in der freien Natur den Weg zu einer pantheistischen Mystik beschritten. Damit war freilich keine prinzipielle Abwendung vom Darwinismus und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen ihrer Zeit verbunden, aber sie gaben dieser ihnen über Gustav Theodor Fechner und Ernst Haeckel (von dem sie den »Monismus« übernahmen) übermittelten Wissenschaft doch eine spezifische »naturphilosophische« Wendung: Die Evolutionslehre wurde als Begründung für die Möglichkeit der Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft (»Entwicklungsgeschichte«) gedeutet und — nicht zuletzt unter dem Einfluß der Gedankenwelt Nietzsches — die Weiterentwicklung des Menschen zum Übermenschen nicht ausgeschlossen, wobei religiöse

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und naturwissenschaftliche Perspektiven miteinander versöhnt wurden (»poetischer Darwinismus«).

Ihr übergroßer Optimismus verleitete die Friedrichshagener dazu, enthusiastisch die Zukunft, das Neue (den neuen Menschen, die neue Gesellschaft, das neue Zeitalter) zu besingen, das ihnen keineswegs ein bloß utopischer Traum war (ihr Symbol dafür die aufsteigende Sonne; vgl. Nietzsches »Morgenröte«, aber auch die Sonnen-Embleme der Arbeiter- und Jugendbewegung). Und wie Nietzsches »Zarathustra« sahen sich besonders die Brüder Hart als die Verkünder von »Zukunftsland«, als Propheten eines kommenden »Dritten Reiches«. Hatten sich die Friedrichshagener in den Achtzigern für die leidende Masse interessiert, so jetzt für die Weiterentwicklung des außergewöhnlichen Individuums, das Führer, ja Retter der Menschheit werden könne. Das hatte nichts mehr mit den sozialistischen Ideen eines Bebel oder Lassalle zu tun, welche sie früher beeinflußt hatten, sondern war entweder ethischer Sozialismus in der Nachfolge von Moritz von Egidy oder der typische anarchische »Idealismus« und Individualismus der Boheme.

Als die Brüder Hart zur Jahrhundertwende die Friedrichshagener Vorort-Boheme verließen und in Berlin ihre Neue Gemeinschaft gründeten, zeigte es sich, wie weit sie die Arbeitermassen »hinter sich gelassen« hatten: ihre neue Schöpfung -war als »Orden« konzipiert, und nur das »freie« Individuum konnte davon profitieren. Wie der Friedrichshagener Kreis war so auch die Neue Gemeinschaft eine Sache für literarische Bohemiens in der geistigen Nachfolge des Individual-Anarchisten Max Stirner und seines Wiederentdeckers Henry Mackay10. Den asketisch-lebensreformerischen und hart mit den Händen arbeitenden Gründern von »Eden« hätten diese weinseligen und zukunftstrunkenen »Armen Teufel« (dies ist auch ganz wörtlich zu verstehen) sicher wenig gefallen. Und doch wurden sie vom gleichen Impuls beseelt: vom Willen zur Flucht aus dem Wilhelminismus, aus dem industrialisierten und urbanisierten Deutschland und zur Suche nach einer wesenhafteren Existenz und Gesellungsform nahe von Natur und Boden. Ebenso wie in »Eden« sollten auch das Programm und die Praxis der Neuen Gemeinschaft die »Basis für eine höchst vorbildliche Sozialbildung« (Julius Bab) abgeben.—


10 Vgl. Hans G. Helms, Die Ideologie der anonymen Gesellschaft. Max Stirners »Einziger« und der Fortschritt des demokratischen Selbst­bewußtseins vom Vormärz bis zur Bundesrepublik. Köln 1966.

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Zunächst war freilich der äußere Rahmen des neuen, im Frühjahr 1900 gestifteten Ordens höchst unwürdig. Man traf sich in Berliner Wirtshaussälen (was zudem teuer war). Doch bald konnte man zehn Minuten vom Stadtbahnhof Zoologischer Garten entfernt im besseren Wohnviertel von Berlin-Wilmersdorf (Uhlandstraße 144) eine Wohnung mit zunächst vier Zimmern — später wurde noch eine weitere Wohnung hinzugemietet — beziehen. Und nun begannen die weit- und menscherneuernden Aktivitäten: Öffentliche Versammlungen und »Weihe-Feste« wurden abgehalten.

Vorträge, Rezitationen, musikalische und künstlerische Darbietungen zelebriert. In ihrem »Heim«, das sie mit einer Bücherei und einer Auslage für Zeitungen und Zeitschriften ausstatteten (die Herkunft von der Caféhaus-Boheme war also nicht vergessen), wurden zweimal wöchentlich Kinder in einfachen Handarbeiten unterwiesen (bald sprach man reichlich übertrieben von einer »Art Hochschule«!), und ebenso oft versammelten sich dort Frauen (denen sich auch einige Männer anschlossen) zur kunsthandwerklichen Betätigung (eine Werkstatt wurde für sie eingerichtet und dort u. a. Glasmalerei betrieben).

»Die Tendenz«, so hieß es, »geht auf ein gemeinsames Schaffen von Künstlern und Laien zur Verwirklichung einer tieferen und feineren Volkskunst«. Schließlich, und das mußte für hungernde Bohemiens besonders verlockend sein, hieß es in einer Annonce: »Auch für Trank und Speise soll Sorge getragen werden«, d. h. es wurde ein gemeinsamer Mittagstisch abgehalten.

Doch dies war nicht genug; die Harts drängte es zur Scholle zurück und zur »engeren wirtschaftlichen Organisation«, zu »Produktion und Konsum auf gemeinschaftlicher Grundlage«. Es sollte eine »Ansiedlungs­gemeinschaft«, eine »Landsiedlung« gegründet werden (war das Vorbild dazu »Eden« und der »Monte Verità« in Ascona?), aber dann kam doch nur ein Kompromiß zustande: mit einem »Frühlingsfest« wurde im Mai 1902 ein neues Heim in Berlin-Schlachtensee (Seestraße 35-37) eingeweiht. Auch diesmal hatten die »Sozialaristokraten« Stil bewiesen und sich für ihr Experiment einer »engeren Lebensgemeinschaft« eine Villenkolonie ausgesucht; die Wohnsiedlung Schlachtensee war nämlich 1874 mit der Eröffnung der Wannseebahn entstanden, um — so die offizielle Verlautbarung — die Gründung von »Sommerfrischen und ländlichen Aufenthaltsorten für den wohlhabenderen Teil der Berliner Bevölkerung« zu unterstützen. Freilich holte die Stadtflüchtigen die Industriali-

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sierung auch dort ein, denn im gleichen Jahr 1902 ließ sich in einem anderen Teil Schlachtensees die Märkische Lokomotiv-Fabrik nieder.

Das große Grundstück um das ehemalige Sanatorium lag malerisch am See und diente teilweise dem Gartenbau. Die Villa selbst besaß 30 Zimmer, so daß sich hier endlich die »ländliche« Wohngemeinschaft voll entfalten konnte. Eine besondere Neuerung schien den interessierten Zeitgenossen die gemeinsame Küche. Freilich ähnelte das Ganze doch eher einer Pension als einer Kommune, denn die Bewohner mußten sowohl für ihr Zimmer eine Miete wie für ihre Verpflegung einen Tagessatz entrichten. Es scheint aber, daß das Unternehmen sich finanziell nicht selbst tragen konnte, sondern auf Mäzene angewiesen blieb. Dem armen Poeten Peter Hille wurde unentgeltlich ein Gartenhäuschen zur Verfügung gestellt.

Wie bei allen anderen gescheiterten Siedlungen lagen auch die Gründe für das baldige Ende des Schlachtenseer Experiments im Jahre 1903 einmal am Geldmangel (das Vermieten von Zimmern an nicht innerlich an die Gemeinschaft gebundene Sommergäste hatte da keine Abhilfe geschaffen), dann aber auch an inneren Zerwürfnissen. Insbesondere hinterließ die enttäuschte Abwendung Gustav Landauers von der Neuen Gemeinschaft eine nicht zu schließende Lücke.

Doch dieses kurzlebige Experiment wirkte weiter; die Mitglieder der Neuen Gemeinschaft hatte ihr fehlgeschlagenes Unternehmen eher stimuliert als entmutigt. So wurden Ende 1902 die Harts die Initiatoren bei der Gründung der ersten deutschen »Gartenstadt-Gesellschaft«11. Erich Mühsam zog aus Berlin in die Vegetarier-Siedlung in Ascona, und sein väterlicher Freund Gustav Landauer, der selbst nie siedelte (er wohnte damals aber auch am Rande Berlins in Hermsdorf), wurde zum literarisch wirksamsten Propagandisten der Lehre von der sozialen Regeneration durch ländliche Kommunen. In seine Spuren wiederum sollte der Kulturzionist Martin Buber treten, der 1898 Theodor Herzl (dessen >Altneuland< erschien ebenfalls 1902) und ein Jahr darauf Gustav Landauer kennengelernt hatte, von diesem der Neuen Gemeinschaft zugeführt worden war, dort einen Vortrag über »Alte und neue Gemeinschaft« hielt und später zum glühenden Verteidiger des freien Sozialismus und


11 Vgl. Die Deutsche Gartenstadt-Bewegung. Berlin-Schlachtensee 1911; Hans Kampffmeyer, Die Gartenstadt-Bewegung. Leipzig-Berlin 2. Aufl. 1913.

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