.
|
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Tiefdruckbeilage, 30.April 1999 Das Versprechen des Südens'Wie der Monte Verità Hoffnungen weckte und das Jahrhundert verführte: Eine Zeitreise nach Ascona' Von Thomas Rietzschel Gemischt, auffällig gemischt war die Gesellschaft. An „Postdiebe, Spitzel, Vegetarier und Verrückte”, an „alte Jungfern und ethische Professoren” wollte sich Oskar Maria Graf nachher erinnern; von einer „Menge schafblöder Naturmenschen” hatte Hugo Ball, der Dadaist, schon 1916 berichtet und zugleich nach einem Quartier gesucht, um länger bleiben zu können. Die Zimmer aber waren rar, sie wurden in Ascona knapper von Jahr zu Jahr. Spott und Gerüchte belebten den Zulauf, mit der Ankunft geriet der Reisende selbst in die Geschichten. Wer für Tage buchte, verlängerte nicht selten von Woche zu Woche; manche vergaßen die Rückkehr über Monate, wenn sie denn überhaupt wieder herausfanden aus dem Schatten des Monte Verità. Der Berg über dem Dorf hatte es dem Jahrhundert angetan. Noch wer seiner Botschaft, wer dem Versprechen der zivilisationsmüden Siedler nicht trauen mochte, war angezogen vom Affront der bärtigen Sonnenanbeter. In der Biographie von August Bebel ist Ascona ebenso verzeichnet wie in der Rilke-Chronik. Isadora Duncan, Marianne von Werefkin, die schöne Gräfin zu Reventlow, Ernst Toller, Emil Jannings und Lilli Palmer, Richard Strauß, Gerhart Hauptmann und Klabund, alle haben sie vorbeigeschaut; keiner wollte den Ort auslassen. „Er war ein Eldorado, ein Eldorado der Künstler”, sagt der Schriftsteller Henry Jäger; einer, der hängenblieb, weil er zu den Nachzüglern zählt — leichter vorstellbar in der Runde mit Ernst Rowohlt und Arnolt Bronnen als unter den Autoren seines Alters, unter der strengen Aufsicht einer Gruppe 47. Bei der Ankunft im Tessin, vor sechsunddreißig Jahren, hatte der Erzähler noch im Ruf des Bankräubers gestanden. Jedermann wußte Bescheid über seine Frankfurter Einbrüche; in aller Munde war „Die Festung”, der erste, im Gefängnis entstandene Roman. Mit ihm konnte der Ankömmling Fuß fassen im Asconeser „Club”, wo sich inzwischen auch Autoverkäufer und Radiohersteller, Vertreter und Teppichhändler unter die intellektuellen mischten, um im Nachspiel der Geschichte Freiheiten zu genießen, für die eine kleine Schar zu Beginn des Jahrhunderts an den Lago Maggiore gezogen war. Anziehender als der geheimnisvolle Erdmagnetismus, von dem die bemühten Forscher bisweilen sprechen, wirkte durch die Jahrzehnte das Vorbild der „Kohlrabiapostel”, der „Narren und Propheten”, der Vegetarier und der Anarchisten, die dachten, daß sie bis zur Kleidung hin im Süden abwerfen könnten, was sie im Norden beengte. Seit Erich Mühsam Ascona 1904 zum ersten Mal besucht hatte, galt es als „der geeignete Ort” für das „absonderliche Experiment”. In der Art, wie es hier Anschluß suchte, offenbarte sich das neue Jahrhundert. Aus der „Pädagogischen Provinz”, zu der Wilhelm Meisters Wanderung führte, aus der klassischen Schulgemeinde, bei deren Erfindung Goethe Beschreibungen des Lago Maggiore, Skizzen aus der Gegend zwischen Ascona und Bellinzona zur Hand hatte, war eine „individualistisch vegetabilische Cooperative” geworden. Verändert schien die Erwartung, geblieben der Glaube, daß die Zukunft jenseits der Berge mit den Alpen im Rücken leichter zu gewinnen sei. Mehrfach zeichnete Fidus, der Illustrator des Jugendstils, ein Paar, das die kristalline Welt des Nordens hinter sich läßt, um der weinlaubumrankten Sonne entgegenzusehen. Zur Aufforderung für viele wurde die paradiesische Nacktheit der Figuren, seit die Eisenbahn durch den Gotthard fuhr. Die mit ihr anreisten, erregten das Staunen des Südens. Zu Fuß und auf dem Dampfer kamen die Leute von Italien herauf, um die „Naturisten” am Monte Verità zu sehen. Fünfzig Rappen kostete der Blick auf die Nackten. Was sie wagten, sollte der mediterranen Verheißung entsprechen, literarisch genährter Sehnsucht. Mit ihrer Erfüllung belebten die Fremden Ascona. Zur Bühne wurde die Landschaft. Jede Saison brachte neue Darsteller; etliche banden sich für die Ewigkeit. Die Nackten am WalkürenfelsenDen unverbauten Grabplatz am steilen Hang in Ronco, hoch über dem See, habe Erich Maria Remarque noch selbst ausgesucht, erzählt Henry Jäger. Für einen Moment sitzt er auf der Grabeinfassung des Freundes, raucht und spricht von der Bestattung 1970. Hunderte seien dem Sarg damals bei schönstem Herbstwetter gefolgt. Zum letzten Mal habe sich die ganze Gesellschaft versammelt: „Niemand wollte glauben, daß das Haus des Schriftstellers je verwaisen könnte.” Heute, knapp zehn Jahre nach dem Tod der Witwe Paulette Goddard, steht die Villa Monte Tabor verlassen. Verrankt ist die Terrasse über dem See. Kein Schild gibt Auskunft, nirgends findet sich die Anschrift verzeichnet. Sie scheint so vergessen wie der Mulino del Orso, das kleinere Haus im nahen Minusio, wo Stefan George 1933 gestorben war, wenige Schritte entfernt von der Clinica St. Agnese, in der vor Remarque schon der todkranke Paul Klee gelegen hatte. Vielfach sind die Kreise verkettet, über die Friedhöfe ist ihr Radius gezogen. Ihn zu entdecken verlangt Spürsinn, Wegweiser fehlen allenthalben. Auf George stößt man so zufällig wie auf Emil Ludwig. Bis in den Tod begegnet der Süden seinen Gästen in der Zurückhaltung, mit der er sie gewähren ließ — gewähren, da sie nicht dazugehörten. Während der ersten Jahrzehnte gab es nicht einmal Straßen, die den Ort mit dem Monte Verità verbunden hätten. Wer hinauf wollte, mußte um den Hügel herumfahren, den Zugang von der Rückseite suchen. Auf kurzem Weg führten nur Fuß- und Saumpfade hinunter. In der Nähe und abgeschieden dennoch lag das Gelände, auf dem sich der belgische Industriellensohn Henri Oedenkoven zusammen mit seiner Geliebten, der Pianistin Ida Hofmann, 1900 niederließ. Ein Jahr zuvor bereits hatte es an gleicher Stelle Pläne zur Errichtung eines theosophischen Klosters gegeben; nun sollte auf dem verlassenen Ödland eine vegetarische Kolonie entstehen. Oedenkoven erhoffte sich davon nicht weniger als die Heilung von den Folgen syphilitischen Leidens, während ihn die elf Jahre ältere Freundin im Glauben bestärkte, wenn sie Notizen machte für die Ideologie. „Vegetabilismus (auf deutsch Pflanzenkost)”, erklärte die „Frauenbefreierin” 1905 in einer selbstverlegten Broschüre, „heißt das erlösende Wort der Gegenwart.” Um ihm Geltung zu verschaffen, wurden Beete angelegt, Sträucher und Bäume gepflanzt, „Lufthütten” hergerichtet, Sonnenbäder umzäunt. In den „Monte Verità”, in den Berg der Wahrheit, verwandelte sich der einstige Monte Monescia. Schnell entstand ein „Sanatorium”. Die theosophisch abgerundete „Casa Anatta”, das Haus der Seele, wirkte anziehend für viele. Auch Hermann Hesse versuchte hier vom Alkohol loszukommen. Der Berg war eine Freistatt, ein Versteck war er nicht. Was auf ihm geschah, sollte auffallen, die Welt womöglich bewegen. Mit Bedacht hatte man sich für das unwirtliche, das freie Feld entschieden. Ungehindert wollte sich das neue Leben entfalten. Niemand dachte an den Rückzug in die restaurierte Dörflichkeit, zu dem spätere Tessin-Touristen aufbrechen werden, Günter Grass, Walter Höllerer und Alfred Andersch neben anderen. Die dunkleren Seitentäler, in denen sich die Erben der Utopien dann vorübergehend ansiedelten, die bruchsteingefügten Dörfer, Berzona, Avegno oder Tegna, wären zu gemütlich gewesen, zu eng für Visionen, die noch ins Weite griffen, ungetrübt von romantischer Färbung. Mit dem Fortschritt wollte man zurück zur Natur. Wichtiger als die Illusion ländlicher Eingliederung war die Verbindung nach draußen. Unentwegt schaute Franziska zu Reventlow in Ascona nach der „Ecke, wo die Bahn in die Welt hinausgeht”. Allein der Abstand verbürgte die Unabhängigkeit, die Souveränität im Rückzug. Obwohl man ihm nachsagt, daß er gern mit den Eingesessenen sprach, ging Carl Vester, einer der ersten Zuzügler, der 1902 auf dem Umweg über Samoa zum Monte Verità gestoßen war, nur ins Dorf, wenn er auf die Piazza mußte, um das selbstgebackene Brot, das gezogene Gemüse zu verkaufen. Das Haus, das er sich Anfang der zwanziger Jahre oben am Berg bauen ließ, war nach modernsten Vorstellungen entworfen, kein landesübliches Rustiko, kein nostalgischer Versuch der Anlehnung, sondern schon ein Vorgriff auf das Bauhaus, dessen funktionale Ästhetik den Hügel kurz darauf beherrschen sollte. 1927 bereits entstand das auffälligste Bauwerk der Gegend, ein ausgedehnter Hotelkomplex. Eduard von der Heydt, Kunstsammler und Bankier des abgedankten Kaisers, ließ ihn an die Stelle des alten Zentralhauses setzen. Dem Zerfall aller lebensreformerischen Gemeinschaftsprojekte, dem Fin de siècle, folgte der postrevolutionäre Aufbruch. Mit kubistischer Architektur wurde Monte Verità wieder in die Zeit gefügt. Der Bauhäusler Emil Fahrenkamp hatte dem neuen Besitzer Pläne gezeichnet, die vom Flachdach bis zum Türbeschlag harmonierten, wenn sie Zweck und Schönheit im Geiste von Walter Gropius zu verbinden suchten. „Noch mal wurde großartig umgesetzt, was sie andernorts, draußen in Europa, nördlich der Alpen planten”, sagt der Innenarchitekt Michèle Vester. Die Feststellung enthält das Urteil, der Blick auf die Geschichte ist geschärft von persönlicher Vertrautheit. Vor Jahren bereits hat sich der Enkel unweit des Hotels im lange vermieteten Haus des Großvaters eingerichtet, die behutsam restaurierte Räumlichkeit mit den neuen Lampen aus Mailand erleuchtet. Daß Ascona immer abhängig war von der Zufuhr der Ideen, steht für den Nachkommen außer Frage. Überall könnte er Spuren aufzeigen; alles trägt die Züge der Nachahmung, nichts war ursächlich auf das Land, auf die Provinz bezogen, nicht die Bau- und nicht die Lebensweise. Wie der Vegetarismus, so kam die Nacktkultur aus den Metropolen der Industriegesellschaft, ihre Sehnsüchte stimulierten das Experiment. In der Probe aufs Exempel erschöpfte sich die Kreativität; an der Tendenz orientierte sich der Fortschritt des Monte Verità. Gleich zu Beginn der Besiedlung wurde seine Landschaft strukturiert wie der Bühnenraum einer Wagner Oper. Über der „Parsifalwiese” lagen „Harras-Sprung” und „Walkürenfelsen”: Plattformen des Zeitgeistes, den man sensibel erspürte, ohne daß man ihn hätte bereichern können. Die wirklichen schöpferischen Eindrücke, die der Berg der Wahrheit hinterließ, sollten sich am Ende auf die Erfindung der Käthe-Kruse-Puppe reduzieren. Leer blieb „der Schöpfungsaltar”, vor dem die Naturbewegten knieten, Ida Hoffmann, Oedenkoven, die Gebrüder Gräser, Gustav Nagel und andere Randgänger mehr. Was ihnen an Originalität abging, mußten sie durch Auffälligkeit ersetzen. Geliehenen Ideen galt der Mut, den sie dabei bewiesen. An der Grenze der BanalitätPünktlich zum Start des Jahrhunderts war eine Elite zusammengekommen, die sich fernab von verstörender Konkurrenz die Freiheit nahm, nach Herzenslust zu dilettieren, der Wirklichkeit mit Vorstellungen zu trotzen. Ihr Eifer erregte Aufmerksamkeit von Anfang an. Viel gelacht wurde über die komischen Szenen, über „Die 12 Gebote der Heidelbeere”, über die klangbildgetreue „ortografi” oder über die Kuh, die starb, nachdem sie Schmierseife gefressen hatte, weil man ihr das von den Vegetariern abgelehnte Salz entzog. An Bouvard und Pécuchet1 mußten manche Beobachter denken, während andere schon die Gefahr der Beschränkung ausmachten. Selbst Erich Mühsam schaute mit wachsendem Zweifel auf „die schmachtäugigen Blassgesichter, die von morgens früh bis abends spät nur beflissen sind, in untadeligem Lebenswandel Leib und Seele im Gleichgewicht zu halten”. Angst machte der unerbittliche Idealismus; kaum abzusehen waren die Folgen eines Denkens, das jeglichen Ausdruck mit dem Hinweis auf das Recht natürlicher Entfaltung zur kreativen Leistung erhob. Als Rudolf von Laban 1913 auf dem Monte Veritä seine „Schule für Kunst“ gründete, um „in alle Äußerungsformen des menschlichen Genius” einzuführen, „die neuen Formen eines einfachen und harmonischen Lebens zu finden”, hatte er die Kunst mit dekadentem Zweifel von den normativen Zwängen erlöst und zudem eine Freiheit gestiftet, für die das Jahrhundert mit fortschreitender Verflachung zahlen mußte. Die Schüler, die Tänzer, mit [Gustave Flaubert, 1881. HHP] denen er überwiegend arbeitete, Mary Wigman und die Duncan zum Beispiel, brauchten nicht länger literarischen Vorlagen zu folgen, sie waren nur mehr auf sich verwiesen, auf den subjektiven Ausdruck ursprünglichen Empfindens. Wie bedrohlich nahe bei solchen Ansätzen aber auch die Grenze der Banalität liegen kann, weiß niemand besser als der Clown Dimitri. Wer die Schule, die er seit 1975 im etwas abgelegeneren Vérscio betreibt, besuchen will, muß zunächst zeigen, daß er es versteht, die eigene Bewegung auf den Ausdruck des Besonderen zu konzentrieren. Purer Spontaneität mag der in Ascona aufgewachsene Mime nur eingeschränkt trauen. Die Hoffnungen des Monte Verità hat sein Theater aufgehoben - bewahrt und überwunden zugleich. Die ehedem gesuchten, die archetypischen Verhaltensmuster entdeckt er mit gestischen Demonstrationen, die schon wieder den Anspruch intellektueller Vorführungen erheben. Auch Leben ist eine KunstIhre Wirkung blieb in Ascona so begrenzt, wie sie es in jeder andern Kleinstadt gewesen wäre. Geld mochte die Gemeinde dafür nicht fortdauernd aufwenden; und Sponsoren, die eines Tages ihre besternten Autos vor das Theater stellten, konnte der Clown nicht akzeptieren. Sein Elternhaus hatte dem Berg näher gestanden als dem Dorf, direkt hinter dem Teatro San Materno, an dem sich die Geister schieden, solang er zurückdenken kann. Kubisch geformt mit flachem Dach und hohen Fenstern, war es — noch in Sichtweite des Friedhofes — vielen von Anfang an wie ein Vorposten erschienen. Nur gegen entschiedenen einheimischen Widerstand hatte der Bremer Architekt Carl Weidemeyer den Bau 1927 überhaupt durchsetzen können. Mit ihm, glaubte man, sei die Moderne auf den Ort vorgerückt. Bedrängend für die einen, anziehend für die anderen wirkte das kleine Theater, das der vermögende Paul Bachrach hatte bauen lassen, damit sich seine Tochter, die von D'Annunzio verehrte Charlotte Bara, als Tänzerin entfalten könnte. Zum Begriff wurde die winzige Bühne, viele haben darauf gestanden, Werner Finck ebenso wie Therese Giehse und Erika Mann. Auch Dimitri ist da vorzeiten einmal aufgetreten. Heute, sagt er, kämen ihm „die Tränen”, wenn er an den Zustand des Hauses denke, an den hohlen Körper, den die letzte Truppe vor Wochen verließ, weil die Baufälligkeit jeden weiteren Betrieb verbot. Daß das nur eine Schließung für Wochen sein könnte, wagt niemand zu hoffen, nicht, nachdem das Theater in aller Stille verriegelt wurde, unbemerkt von der Öffentlichkeit. Aufgebraucht scheint die Substanz, er schöpft das Interesse. Von Jahr zu Jahr würden es weniger Besucher, die überhaupt noch nach derartigen Orten fragten, erzählt die Stadtführerin Verena Floeri. Aus Erfahrung weiß sie, daß immer häufiger die historischen Anhaltspunkte fehlen. Namen, die es ihr erlaubten, auf die Asconeser Geschichten zu kommen. Von Remarque mag sie gar nicht mehr sprechen; zu oft haben sie die Gäste verwundert angeschaut. Unversehens verliert sich die Erinnerung, wo man gelernt hat, noch den Zwängen der Bildung zu entfliehen mit der Freizügigkeit, zu der der Monte Verità vorzeiten ermutigte. Und dabei ist es doch stets die berichtete Vergangenheit gewesen, die die Fremden durch das Jahrhundert bewegte, sich in Ascona niederzulassen. Alle sind sie ihren Vorgängern gefolgt. Weil sich herumgesprochen hatte, daß man hier in ungezwungener Gemeinschaft leben könne, kamen Erich Mühsam und der Bohemien Johannes Nohl, später dann Max Weber, Edgar Jaffe, der Nationalökonom, und dazu D.H.Lawrence, eingefügt in den Kreis außerdem der skandalumwitterte Psychoanalytiker Otto Gross; etwas abseits stehend der Psychiater Ludwig Binswanger, dem wiederum Friedrich Glauser folgte, nachdem zuvor schon Iwan Goll mit seiner Freundin Claire da gewesen war; sie sollte von hier aus zu ihrem Verhältnis mit Rainer Maria Rilke aufbrechen. Von einem zum andern reichte die Verbindung; weitergetragen wurde die Zuversicht, der Glaube an die Möglichkeit des südlichen Ausbruchs. Noch die Emigranten der dreißiger Jahre kamen mit der Erwartung erlösender Verhältnisse. Hatte doch sogar das entscheidende Gespräch für den Abschluß der Locarno Vertr?äge, die private Begegnung zwischen dem Reichskanzler Hans Luther und Aristide Briand, in Ascona stattgefunden, unten am Ufer im Café „Elvezia”. Eine kleine Tafel auf der mittlerweile verglasten Terrasse nennt das Datum, den 7. Oktober 1925. Ein paar alte Fotos zeigen die ungepflasterte Piazza, den Blick über den See hinaus zu den Brissago-Inseln, auf denen nachher René Schickele zu Gast war, eingeladen von dem Hamburger Kaufhausmillionär Max Emden. Er hatte sich dort, weitab von der Küste, ein eigenes Reich mit eigenen Freiheiten geschaffen: eine subtropische Parklandschaft, die er ab und an mit nackten Mädchen belebte. Es sei „ein ästhetisches, kein sexuelles Vergnügen” gewesen, berichtet Sigrid Renata Loup, eine ältere Dame, die über lange Jahre Emdens Geliebte war. Die Bilder, die sie zeigt, verraten heitere Ausgelassenheit, ungezwungen gibt sich die abgelichtete Prominenz bis hin zu Furtwängler. „Auch Leben”, so hatte es der Hausherr um das Wappen über der Bootsgarage einmeißeln lassen, „auch Leben ist eine Kunst.” Ins Elegante gewendet, entsprach das Motto durchaus den Vorgaben, mit denen der Monte Verità das Jahrhundert begonnen hatte. Schwerer zu vereinbaren war es mit dem Schicksal der Vertriebenen. Wie Max Brod, so mußte Else Lasker-Schüler weiterziehen. Zurückgezogen saß Georg Kaiser im Hotel „Tamaro” oder in der Casa Semiramis oben am Berg. Erst in dem abgebrochenen Brief, den man am 4.Juli 1945 im Sterbezimmer fand, kündigte sich Erleichterung an. Er beginnt und endet mit dem Satz: „ich schreibe im freieren Anblick des lago maggior. — ” Die letzte Aussicht des Exilierten war die Perspektive der Zukunft, das gesuchte Panorama der Davongekommenen. Und nur so, mit dem überstandenen Krieg, lasse sich das Ascona der folgenden Jahre erklären, behauptet der Antiquitätenhändler Walter A. Tobler, selbst eine Figur des kultivierten Dolcefarniente. Alle, meint er, seien sie damals gekommen, um Leben nachzuholen, sich einzurichten in der angekündigten Freiheit, Rühmann und Karajan, die hier, als es in Deutschland noch verboten war, das Fliegen lernten, nicht anders als Adenauer, der seinen Urlaub auf dem Monte Verità 1956 mehrfach verlängerte. Unverändert tat der Ort seine Wirkung, weiter folgten die Gäste der Überlieferung, auf die Jüngeren trafen die Heimkehrer. Henry Jäger befreundete sich mit Walter Mehring und Remarque. Was sie alle zusammen hinterließen, landete nicht selten im Nachbardorf Losone, in Toblers dreistöckigem Antikmarkt. Zwischen Tessiner Trödel, zwischen Kupferpfannen und Bauernstühle rückten die Requisiten des umgetriebenen Jahrhunderts. In Hans Habes Aktenmappe — Seehundleder — stecken noch immer die alten Fahrpläne. An der Wand hängt die Kopie eines Niederländers, die der Journalist in Paris kaufte. Aus dem Schreibtisch darunter zieht Tobler ein schmales Dossier, zwei Briefe, drei Artikel, die von einem nächtlichen Überfall berichten. Am 5. März 1970 war das geschehen. Nachts gegen ein Uhr hatte plötzlich ein Unbekannter in der Tür eines fremden Hotelzimmers gestanden. Drinnen auf dem Bett saß zusammengekauert der lesende Walter Mehring. „Mein Mörder, mein Mörder”, soll er beim Anblick des Eindringlings geschrieen haben. Der späte Besucher aber war nicht der Mörder, den der Dichter erwartete, seit er sich entschlossen hatte, die Welt als Dadaismus zu begreifen. Nur der trunkene Tobler tappte ins Zimmer; auf dem Weg zu einem Mädchen war er an die falsche Tür geraten. Mehring wurde abermals genarrt von der Banalität. Ergeben hatte sich eine Szene, die wie ein dadaistisches Schlußbild anmuten mußte, vom Zufall in das Jahr gelegt, in dem auch noch Erich Maria Remarque sterben sollte, während Opel in Rüsselsheim ein Auto mit dem Namen „Ascona“ auf den Markt brachte. Der Ort als Markenzeichen, gewinnversprechend für die Industriegesellschaft, vor der er schützen sollte, verwendet für ein Produkt, das das Refugium allen zugänglich machen wollte. Wer es erreichte, durfte sich erhoben fühlen, er gehörte dazu. Beim umworbenen Durchschnitt endete die elitär ersonnene Rückkehr zum einfachen Leben. Die Formen, die es annahm, mußten verträglich sein, die Häuser so bunt wie überall. Notgedrungen ergab sich die Einrichtung der Fußgängerzone. Kein Gedanke mehr an die drangvolle Enge in den alten Treffpunkten, in der Nelly-Bar oder im Café „Verbano”, wo die Gäste so dicht an der Straße saßen, daß ihnen die Vespas fast über die Füße fuhren. Kein Gedanke aber auch an Besucher, über die zu sprechen wäre. Dafür einheimische Männer mit dem selbstbewußten Gesichtsausdruck von Bauherren, die wissen, was der Tourist erwartet, organisiertes Gleichmaß zumeist. In einer Welt, die ohnehin alles erlaubt, ist das Angebot der Schweizer Ordnung an die Stelle der Freiheit gerückt, die sich frühere „Sonnenwanderer“ von Ascona versprachen. Gleich am Ortseingang begrüßt den Fremden in Flughafengröße eine elektronische Leuchttafel, die keine Fragen offenläßt. Mit dem Kajak in die ZukunftGeschrumpft sind die einstmals verlockenden Spielräume der Phantasie. Verlaufen haben sich die Träumer. Ohne geistige Nachkommen blieb der Mythenforscher Karl Kerényi, der an den Lago Maggiore gezogen war, weil er dort mit C.G. Jung über das archetypische Tertium datur aller Kulturen nachdenken konnte, weil ihm der oleandergesäumte See das Gefühl gab, an der äußersten Bucht des Mittelmeeres, in attischer Nähe zu sitzen. Aus der historischen Neigung hatte sich die mediterrane Verbindung ergeben, gesucht wurde ein Anschluß, der unterdessen eher sportliche Interessen weckt. Fünfzig Stunden, erzählt der Ortspolizist, habe er gebraucht, um mit dem Kajak durch den See über den Po nach Venedig zu paddeln. Die Aktion setzte Zeichen. Den touristischen Ausbau der alten Wasserverbindung würden Stadt und Kanton gern zusammen mit den Italienern betreiben. Die Aktivurlauber sind gefragte Gäste. Unlängst erst ist ihnen die Gemeinde mit der Anlage eines neuen Hafens entgegengekommen. Ob es dagegen auch gelingen wird, das Teatro San Materno zu retten, vermag der zweite Bürgermeister, Gianfrancesco Beltrami, nicht zu sagen. Er muß den Prioritäten Rechnung tragen, mit seinen Anliegen abwarten. Auf den Monte Verità kann er schon lange nicht mehr zählen. Abgelegt ist das Testament, in dem der Baron von der Heydt wünschte, daß der Berg, den er der öffentlichen Hand vermachte, als Kulturzentrum genutzt werde. Techniker haben sein einstiges Hotel, das jetzige Konferenzzentrum der ETH, der Eidgenössischen Technischen Hochschule, bezogen. Neueste Computer stehen vielfach bereit. Dem Bildschirm gilt die Aufmerksamkeit im sonnengeschützten Raum, während draußen die Natur langsam zurückerobert, was zu ihrer Feier angelegt wurde. Wo einstmals die Freiluftbäder des „Sanatoriums“ Hoffnung machten, wuchert Buschwerk. Von der Korrosion zerlöchert ist das große Duschbecken, zu dem der Verwalter, Alexander Wilhelm de Beauclair, das Wasser stets mit dem Esel heraufbrachte. Wenn seine Enkelin, Frau Hetty Rogantini-de Beauclair, jetzt über den Hügel führt, meint man, noch der Verfall gehöre zur Inszenierung. Die abblätternde Farbe an der glücklich erhaltenen Casa Anatta und die überquellende Ausstellung im Innern, beides erhellt die Geschichte. Verhangen sind die ZitronenbäumeWer ihrer Dokumentation folgt, soll der Verführung erliegen. Von Fidus' „Sonnenwanderern” an die Hand genommen, wird er durch das Jahrhundert geleitet, auf die hellere Seite gezogen. Im begeisterten Einverständnis mit der Vergangenheit hat der Ausstellungsmacher Harald Szeemann zusammengetragen, was immer zum Ausstieg verlocken könnte. Wie „die vielbrüstige Wahrheit”, so schrieb er 1978 anläßlich der Eröffnung, sei ihm der Monte Verità „erschienen”. Als die Fortsetzung seines Denkens wurde die Ausstellung konzipiert. Fortschreibend wirkt ihr Ende, der Blick auf Armand Schulthess. Zwei eigene Räume führen zu dem skurrilen Einzelgänger, der sich über Jahrzehnte bis zu seinem Tod 1970, deutlich entfernt von Ascona, im Wald verschanzt hatte. Zu sehen sind die Blechdeckel, die er mit allerlei aufgeschnappter Weisheit beschrieb, um sie an die Bäume ringsum zu hängen. Mit dieser Ergänzung hätte Szeemann, so entsinnt sich die damalige Assistentin Verena Floeri, „klarmachen” wollen, daß weiter „ausweichen” müsse, wer so eigenständig leben möchte, wie es den Fremden am Berg der Wahrheit vorschwebte. Daß Schulthess, der Hobbyphilosoph, überdies in der Tradition des initiierten Dilettantismus stand, daß die Isolation das Scheitern aller Ausstiegsideologien verriet, wird in der Ausstellung nicht reflektiert. Historische Analyse hat sie — nach der Art des Monte Verità — durch „Huldigung” ersetzt. Was die Autoren vorstellten, wollte als die Tat wahlverwandter Nachkommen auffallen. Wie die Besiedelung der „Kolonie” das anbrechende, so spiegelt die Geschichte des sentimentalen Rückblicks das ausgehende Jahrhundert. Von einem „Gesamtkunstwerk” war selbstbewußt die Rede, angeregt hatte es die Junge Wirtschaftskammer, allen voran der nachmalige Brauereibesitzer Pietro Beretta, ein Anrainer des Berges, der bald darauf die „Baranota” kaufte, das kleine Schlößchen über Minusio, in dem Bakunin - 1873 begonnen hatte, „Das Kapital” ins Russische zu übertragen. Doch auch dieses Haus steht jetzt wieder leer; verhangen sind die Zitronenbäume vor der Terrasse. Unbemerkt ist der Eigentümer mit allen Möbeln und den Schulden nach Amerika verzogen. Einen Käufer, der in seine Rechte tritt, konnte die geprellte Bank bisher nicht finden. Michael Schumacher, der Rennfahrer, der das Anwesen prüfte, fuhr weiter, als die Gemeinde keine Möglichkeit sah, ihm steuerlich entgegenzukommen. Auch das Tessin kann der Gegenwart länger nicht ausweichen. Zerstreut hat sich die gemischte Gesellschaft. Nur gelegentlich noch begegnen auf der Piazza in Ascona bekannte Gesichter, Henry Jäger, Tobler oder Rolf Gerard, der Bühnenbildner der MET, die erste Liebe Lilli Palmers aus dem Berliner Westend, und dazu ab und, an eine ältere Dame im aufgefrischten Blond der besseren Tage: versprengte Gäste der fünfziger, der sechziger Jahre, von den alten Versprechen des Südens gefangen. |