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EIN BALKON ÜBER DEM LAGO MAGGIORE

 Jonny G. Rieger

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MONTE VERITA

der Berg der Wahrheit


Natürlich kann ich es nicht lassen, ich kann es nicht übers Herz bringen und muß nach den ersten paar Tagen im Tessin unbedingt zum Berg der Wahrheit wallfahrten.

Wieso?

Kein Außenstehender kann das begreifen. Denn das ist eine lange und ziemlich verwickelte Geschichte, die weder des Humors noch der Tragik oder Spannung entbehrt. Und diese Geschichte will ich hier erzählen, während ich mich auf den Weg mache und zum Monte Verita hinabsteige.

Hinab? Hinab!

Da haben wir es schon. Sagte ich nicht, es ist eine verwickelte Geschichte? Aber um nicht bezichtigt zu werden, daß ich mir schon ein gehöriges Rotwein-Augenmaß zugelegt hätte, sehe ich mich genötigt zu erklären: Da Fontana Martina in einer Höhe von genau 367 Metern liegt und der Monte Verita, aber auch ganz genau, 351,5 Meter hoch ist, bin ich gezwungen, zu ihm hinabzusteigen.

Einig?

Und nun will ich keine vernünftigen Einwände mehr hören. Denn wer redet hier von Vernunft, wer ist vernünftig im Tessin? Hier nehmen die Gedanken genau so seltsame Formen an wie die Wege, die sich winden und schlängeln und schnörkeln. Mein Lieber, das gehört mit zur [50] Tessiner Mentalität. Das Tessin liebt den Barockstil, es ist gefüllt mit Barock, -- es ist barock! Und es ist bis heute noch nicht richtig aus der Barockzeit herausgekommen. Was sollte man beispielsweise sonst von einem Mann halten, dem es gleichgültig sein kann und auch wirklich gleichgültig ist, ob wir heute Sonntag oder Donnerstag haben, ein Mann, der überhaupt nicht ahnt, welcher Wochentag auf dem Kalender steht. Und dieser Mann meint aber absolut darüber informiert sein zu müssen, wieviel Uhr es ist, und kauft sich aus diesem Grunde nicht etwa eine Uhr -- sondern ein Fernglas, um die Turmuhr deutlich erkennen zu können. Absurd? Barock? Das ist echt tessinerisch! Vielleicht sollte man sich nur genügend Zeit lassen, mal näher darüber nachzudenken.

Im Tessin hat man Zeit, viel Zeit. Man nimmt sie sich einfach. Und wenn es sich irgendwie machen läßt, mit heiterer Grandezza den Schwierigkeiten aus dem Wege zu gehen, so tut es der Tessiner. Wenn ein Haus abbrennt oder aus Altersschwäche zusammenfällt, dann wird daneben oder ein Stückchen weiter ein neues erbaut. Die Ruine darf stehen bleiben und malerisch aussehen.

Aber wir befinden uns auf dem Wege zum Monte Verita, und ein langes Stück dieses Weges führt auch hier über eine unverwüstliche Römerstraße. Im Laufe von zwei Jahrtausenden haben Menschenfüße diese Steine rund und glatt geschliffen. Da liegen sie und könnten viel erzählen, -- aber wir lassen sie ruhig liegen und fangen unsere Geschichte im Jahre 1899 an: [51]

Die Entdeckung des Monte Verita

Henri Oedenkoven, der Sohn eines Antwerpener Großindustriellen, und Ida Hofmann, eine ausgezeichnete Pianistin und Musiklehrerin an einem russischen Institut in Cettinje, trafen sich in einer österreichischen Naturheilanstalt. Beide waren gleich verzweifelt und angewidert von der Verlogenheit und Heuchelei in ihren Gesellschaftskreisen. Beide suchten nach einem Ausweg, beide verstanden sich sofort und schlossen innige und aufrichtige Freundschaft. Ein Naturarzt hatte Henri gerade von einer lebensgefährlichen Krankheit kuriert, und Henri schwor nun auf den Vegetarismus, den er für einen neuen Weg zur Gesundheit und Lebensfreude, überhaupt zur sittlichen und geistigen Erneuerung der Menschheit ansah. Friede, Wahrheit und Liebe für das Leben des einzelnen und aller verheißend, war Henris edler Gedanke.

Beide wurden einig, sich irgendwo abseits anzusiedeln, wo es viel Sonne, Früchte und Schönheit gab, um eine Kolonie Gleichgesinnter zu gründen und weiter zu wirken, über ihren Kreis hinaus, über die Grenzen hinaus, für die Befreiung der Menschheit von der erstarrten Lebensweise einer dahinsiechenden Gesellschaft.

Nach einigen Entdeckungsfahrten und vielem Suchen endeten sie auf dem Monte Verita und wählten den Berg zur Basis für ihr so innerlich gut gemeintes Experiment -- das von Anfang an den Todeskeim in sich tragen mußte. Ihren himmelstürmenden Ideen fehlte, trotz Oedenkovens kluger Einsicht und seines Vaters Reichtum, die nüchterne und rein praktische Beurteilungskraft. [52]

Und doch kämpften sie imponierend aufrichtig und imponierend lange für ihre Überzeugung. Auch mehrere Teilnehmer hatten sich ihrem Plan begeistert angeschlossen. Einer von ihnen, der frühere Oberleutnant Karl Graeser, war von der doch zweifellos sympathischen Idee besessen, daß der Soldatenstand unmoralisch und Geld sündig sei. Er hatte den größten Teil seines ererbten Vermögens verschenkt, aber doch nicht vergessen, sich einen Notgroschen zu reservieren. Gesellschaftsmüde Naturmenschen kamen, Vegetarier und Rohköstler, in Kniehosen und barfüßig, mit langem Haar, das sie wild wachsen ließen. Immerhin waren sie harmlose und gutmütige Vertreter menschlicher Eigentümlichkeit. Anders verhielt es sich schon mit den ziemlich zweifelhaften Erscheinungen, die nun gleichfalls auftauchten und ein Gebiet unbegrenzter Möglichkeiten für ihre Faulenzerei witterten. Einer der frechsten Brüder dieser Sorte wanderte in einer langen, malerischen Tunika umher und trug ein ledernes Stirnband im Haar. Es wird erzählt, daß die Kinder in den abgelegenen südlichen Gegenden vor ihm niederknieten und glaubten, der Heiland wäre ihnen erschienen.

Diese aufdringliche und ziemlich skrupellose Erlöserfigur war ein Bruder des gewesenen Oberleutnants, mit Namen Gusto Graeser. Er trieb es aber doch zu bunt, wurde sehr bald aus der Gemeinschaft ausgeschlossen und sah sich gezwungen, weiterzuwandern.

Bei Szittya ist im Raritätenkabinett dann über ihn zu lesen: Thomas Heine, der 'Simplizissimus'-Zeichner, pumpte ihm nur unter der Bedingung etwas, daß er mit ihm mittrinke. Der arme Gustav wurde zum erstenmal in seinem Leben besoffen und, was noch grausamer ist, man [53] zwang ihn, im betrunkenen Zustand seine antialkoholischen Gedichte zu verkaufen.

Den Aufstieg und Fall vieler solcher Apostel sollte der Berg noch erleben, auf dem sich jetzt neue Kräfte entfalteten und hart gearbeitet wurde. Männer und Frauen waren gleichberechtigt, hatten dieselben Verpflichtungen und führten alle vorkommenden Arbeiten gemeinsam aus. Es war heiliger Ernst für sie. Nicht nur eine bleibende Heimat wollten sie sich schaffen, sondern auch einen lebenden Beweis für ihre -- in jener Zeit aufsehenerregenden -- Theorien führen, die sich von der Ernährungsreform über Frauenrecht und freie Ehe bis zur Militärdienstverweigerung und zum Internationalismus spannten.

Aber es war der Berg, der in dem Film ihres Lebens zur Berühmtheit gelangen sollte, -- sie selbst blieben vergessene Statisten. Träumer und Spekulanten Am Fuße des Monte Verita liegt in einer sonnigen Bucht des Lago Maggiore das romantische Ascona. Die Künstler aller Länder haben es wegen seiner idyllischen Lage und wegen seiner anziehenden Atmosphäre heimgesucht und zum Athen des Tessin erkoren -- mit der Akropolis des Monte Verita. Worauf sich die wimmelnden Scharen der Mitläufer, der Sensationslüsternen und schließlich der Mondänen auf das arme Ascona stürzten, es übervölkerten und flach traten.

Gewiß, noch immer hat Ascona seine Reize, wenn man sich [54] Mühe gibt und sie zu finden weiß. Zu jener Zeit aber, als die Geschichte des Monte Verita begann, war Ascona ein ziemlich unbekanntes Fischerdörfchen. Die Bewohner standen dem merkwürdigen neuen Treiben auf dem Berge zwar fremd und mit Erstaunen, aber keinesfalls feindlich gegenüber.

Man kann sich das vorstellen. In dieser unberührten Umgebung bildete sich nun ein phantastischer Mittelpunkt von energischer Arbeit und kindlichen Spielen, von Frömmigkeit und hohem Streben und verlorener Romantik, von Begeisterung und Phantasterei, von Hochstapelei und Enthaltsamkeit, von Schaffensdrang und Abtrünnigkeit. Mit einer magnetischen Anziehungskraft für Träumer und Spekulanten, die wieder und wieder ihre Niederlagen erlitten. Gewiß gab es viele Möglichkeiten für dreiste Spekulationen, und es blieb wohl auch keine unbenutzt, aber dem Ganzen lag doch eine tiefe und ernste Idee zugrunde, die sich immer wieder zu behaupten wußte.

Der Kern der Gemeinschaft, Henri Oedenkoven und Ida Hofmann, die rebellische Bürgermeisterstochter Lotte Hattemacher, sowie Idas schwermütige Schwester Jenny Hofmann, eine Lehrerin, und der individualanarchistische Offizier Gräser, hatten ein großes Gebiet des Berges käuflich erworben und mit einem Kreis von Anhängern eine rege Kolonisationsarbeit geleistet. Sie hatten Häuser errichtet und die brauchbaren Gebiete des größtenteils felsigen Bodens urbar gemacht.

Ida Hofmann skizziert in ihren Memoiren Oedenkovens vorläufiges Programm: Sein Gedanke ist, mit Zuhilfenahme von Kapitalien als augenblicklich größtem Machtmittel, dem Kapitalismus mit allen seinen sozialen Folge-[55]übeln entgegenzutreten. Späteren Geschlechtern ist es vorbehalten, denselben gleichzeitig mit Steigerung der allgemeinen Sittlichkeit ganz zu bekämpfen. Henris vorläufiges Unternehmen gipfelt in der Gründung einer Naturheilanstalt für solche Menschen, die in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise entweder vorübergehend Erholung oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden und sich in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschließen wollen.

In der Praxis zeigten sich sehr bald die ersten Brüche. Der ehemalige Oberleutnant Gräser entwickelte querulantische und egoistische Tendenzen und vertrat standhaft seine verschrobenen Ideen von der konsequenten Ablehnung jeglicher Kultur und Technik zur Erlösung der Welt und des einzelnen. Der mehr sachliche Oedenkoven forderte alle Mittel im Dienste der natürlichen Lebensweise. Bald konnten sie sich nicht mehr riechen, und der fanatische Offizier zog mit Jenny Hofmann, die unterdessen seine Frau geworden war, davon und siedelte sich in der Nachbarschaft an, um seine Form der Erlösung zu pflegen.

Auch Ida und Henri hatten inzwischen ihre freie Ehe verkündet. Ein anderer Mitarbeiter, ein tüchtiger Handwerker, der kaum in diesem Kreis unpraktischer Menschen zu entbehren war, verliebte sich gleichzeitig so sehr in drei Mädchen, daß er es vorzog, allein nach Amerika auszuwandern und dort seine Ideen zu verwirklichen. Aber schon in Neapel wurde der liebeserschrockene Mann auf Grund mangelhafter Papiere verhaftet, erkrankte in der Haft und starb in der Gefängniszelle.

Neue Mitarbeiter kamen und gingen. Sie tauchten aus allen Ländern Europas auf, und aus allen Gesellschafts-[56]schichten. Ein Gutsbesitzer wurde wegen seiner gar zu engherzigen theosophischen Ansichten freundschaftlich ausrangiert und abgeschoben. Während eine russische Studentin und eine tüchtige Prostituierte aus Zürich vor der Strenge und wohl auch Schwäche des beschließenden Tribunals Gnade fanden.

Ida Hofmann schreibt über jene Zeit: Die Vereinigung so vieler verschiedener Elemente verursachte eine heillose Unordnung auf unserem Berge. Die meisten tun nicht das Notwendige zur Förderung des Zwecks, sondern ungefähr genau das, was ihnen beliebt. Es waltet eine schlecht verstandene Anarchie.

An keinem anderen Ort der Welt würde diese unwahrscheinliche Versammlung von Langhaarigen und Nackten, wie sie wegen ihrer Pflege der Nacktkultur genannt wurden eine Chance gehabt haben, auf die Dauer toleriert zu werden. Das war nur hier im Tessin möglich, wo sieben Jahrhunderte lang ein unbändiger Freiheitsdrang die Bevölkerung beseelte und noch immer jedem gestattete, zu tun, was ihm gerade paßte, wenn er nur nicht die Ruhe und den Frieden der anderen störte. Selbst die Gesetze wurden hier leichter genommen. Das barsche und gestrenge Einschreiten von Bürokratie und Obrigkeit war unbekannt. Man sah alles in einem milderen Licht, verklärt durch den Glanz der Sonne. Alles war mehr nachsichtig. Man hatte wohl, dem Herrn sei's gelobt, seine eigenen und ganz bestimmten Auffassungen davon, wie man leben will und zu leben hat -- und die hat man heute noch.

Gerüchte über den erstaunlichen Berg verbreiteten sich rasch. Oedenkoven hatte sein lange geplantes Sanatorium erbaut, und es kamen stetig mehr zahlende Gäste zur Kur. [57]

Neue begeisterte Idealisten meldeten sich, leisteten wirtschaftlichen Zuschuß oder nahmen aktiv an der Aufbauarbeit teil. Einer der Unverwüstlichen und am klarsten Sehenden war Carlo Vester, der sich im Jahre 1902 der Kolonie anschloß. Er war von tiefer Aufrichtigkeit, mußte jedoch bald die Mängel und Fehler des Unternehmens erkennen. Er landete als Kolonist auf der Südseeinsel Samoa. Einige andere folgten ihm. Aber der eine nach dem andern trat hurtig wieder den Rückweg an. Zuletzt stand Vester allein, hielt aber immerhin noch einige Jahre aus. Dann kehrte er zum Monte Verita zurück, um sich nach ein paar brauchbaren Leuten umzusehen, die ihm auf Samoa helfen konnten. Aber er fand nur Phantasten, Schwärmer, Prediger und Propheten. Da gab er endlich Samoa für immer auf und blieb auf dem Berg. Enttäuscht von der Kameradschaft, die nur aus hohlen Phrasen bestand, beschloß er für sich zu bleiben. Er hatte keine Erlöser-Gefühle mehr, trennte sich von der Kolonie, kaufte sich ein Stückchen weiter auf dem Berg ein schönes Stück Erde und baute sich sein eigenes Heim.

Dort lebt er immer noch. Der Berg ließ ihn nie mehr los. Er hatte die Wahrheit gefunden.

Anarchisten und Heilige

Unterhalb des Monte Verita lag Ascona immer noch friedlich mit seinen kleinen Häuschen und seinen blühenden Gärten, seinen zerbröckelnden Resten alter Festungen und seinen Katakomben. [58]

Mit ausgeprägt südländischem Sinn für jegliches Drama und für theatralische Szenen sah Ascona gespannt den wunderlichen Begebenheiten zu, die sich auf dem Berge abspielten. Dort wurde nun in vielen Sprachen diskutiert und nach den Wahrheiten des Diesseits und Jenseits geforscht. Die unwahrscheinlichsten und abenteuerlichsten Gestalten wurden von den flammenden Gerüchten angelockt.

Ein Pelzhändler aus Brüssel, der seine Millionen der anarchistischen Bewegung spendete und als der reichste Anarchist der Welt bezeichnet wurde, geriet in den Bann des Monte Verita, wie auch der Berliner Arzt Dr. Friedeberg, den der Berg sogar zwei Jahrzehnte lang festhielt, und von dem Szittya erzählt:

Der Vater der Asconeser Anarchisten war lange Zeit hindurch Dr. Friedeberg. Er war einst Arzt in Berlin und sozialdemokratischer Reichtagsabgeordneter, bis er plötzlich die Bekanntschaft mit dem französischen Syndikalismus machte. Er war ziemlich konsequent, trat aus der Partei aus, legte sein Mandat nieder und schrieb die erste syndikalistische Broschüre, ,Direkte Aktion', in deutscher Sprache. Gründete die deutsche syndikalistische Bewegung. Hatte Unannehmlichkeiten mit der deutschen Behörde und verließ seine Heimat. Ließ sich in Ascona nieder. Eine Zeitlang hat er jeden Anarchisten, der in das Dorf kam, materiell unterstützt. Es lebte zeitweise eine ganze anarchistische Kolonie bei ihm. Und weiterhin: Die Theosophen, Spiritisten und Vegetarier hatten ihn als einen der ihrigen betrachtet; als aber die Sache mit den Anarchisten anfing, sah man sein Heim als das Nest des Teufels an und intrigierte überall gegen ihn.

Man sieht, nur wenige kamen mit heiler Haut davon. [59]

Die schwärmerische Bürgermeisterstochter Lotte Hattemacher, die zusammen mit Henri und Ida von Anfang an dabei gewesen war, wurde mehr und mehr unzurechnungsfähig, schied schließlich als Mitbesitzerin gänzlich aus und zog sich in die Einsamkeit zurück. Von religiösen Wahnideen befallen, hauste sie zuletzt wie ein Tier in einem verfallenen Stall in den Bergen und endete im Irrsinn.

Ida Hofmann bemerkt mit ziemlicher Bitterkeit: Sie ist wie alle jene Ansiedler, Durchzügler und Mitarbeiter, die Bedürfnislosigkeit zum Zwecke freiwilliger Entbehrung des Geldes vorgeben, aber meist nur dann in der Tat bedürfnislos sind, wenn der Mangel an Geld sie dazu zwingt. Entschiedene Trägheit und Unlust zur Arbeit sowie Unmut über Besitzende ist ihnen eigen... Pathologisches Lügnertum ist da vorherrschend.

Der zynische Szittya bringt sogar etwas mehr Wärme für sie auf: Die sympathischste, wenn auch die tragischste Entwicklung unter den Begründern des neuen Lebens hatte Lotte durchgemacht. Sie fand das Treiben ihrer Kameraden lärmend und zog sich von den zu lauten Idealisten zurück. Lebte in einem ruinenhaften Haus. Schlief auf bloßem Stein. Aß nur rohe Wurzeln. Jede Nacht kletterte sie auf einen Berggipfel. Klaubte trockenes Reisig zusammen Legte ein großes Feuer an und siebte die Asche, wobei sie jammervoll schrie: ,Mein Gott, es ist noch nicht fein genug!' Die Sta. Lotte von Ascona endete nicht ganz so, wie es sich für eine Heilige ziemt. Einmal packte Lotte der Heilige Geist und sie vergiftete sich. Man erzählt, sie habe ein Gift genommen, das bei jedem Menschen in einigen Augenblicken wirkte; bei ihr dauerte es aber zweieinhalb Tage, bis sie starb. [60]

Und schließlich wurde sie zur legendären Figur in dem Ascona-Roman Das göttliche Gesicht, worin der Autor Bruno Götz sie romantisiert und als verklärte Madonna anbetet.

Von den Gründern des mit so großen Hoffnungen begonnenen Werkes waren nur noch Oedenkoven und Ida Hofmann übrig. Wie werden sie sich gefühlt haben? Wie stark muß ihre Überzeugung gewesen sein, welcher zähe Wille gehörte dazu, um an diesem zerbröckelnden Werk noch weiterzubauen und neue Hoffnungen zu hegen.

Denn da waren ja nicht nur die Teufelsnester der Anarchisten und die Heiligen. Da waren auch alle jene, die sich an den warmen dunklen Abenden zu den umliegenden Dörfern schlichen, um so streng verpönte und verbotene Dinge wie gewürzte Salami und gute Tessiner Weine zu genießen. Es wird behauptet, daß es ganz ausgezeichnete Weinkenner unter ihnen gab. Wieder und wieder fand Oedenkoven auf dem Gebiet der Kolonie die Reste von fettem Schafkäse. Die anklagenden Beweise trug er wie Gift zwischen zwei Fingern und hielt sie bei den regelmäßigen Versammlungen den Anwesenden vor die Augen. Er hoffte immer, die armen Sünder würden bekennen. Es war und blieb eine fromme Hoffnung, nie meldete sich jemand und gestand.

Und da waren verfolgte Emigranten, die in ihrem unsteten Dasein hier eine Freistatt fanden. Da war der frühere ungarische Militärarzt Albert Skarvan, der zu der Überzeugung gelangt war, keinem Staat dienen zu wollen, und den Militärdienst verweigerte. Er mußte flüchten, sein Doktortitel wurde ihm abgesprochen, er fand vorübergehend liebevolle Aufnahme in Tolstois Haus, und zuletzt [61] ein Asyl auf dem Monte Verita. Und da war Krapotkin, der berühmte anarchistische Theoretiker, der müde und resigniert hierher kam, um sich zu erholen. Als auch die Schweizer Behörden ihn ausweisen wollten, den überall Gehetzten und Ausgewiesenen, erhoben bekannte Schweizer Gelehrte Einspruch. Der Fürst Krapotkin durfte bleiben und soll bei dieser Gelegenheit geäußert haben: Wäre ich parasitischer Aristokrat geblieben, so würden sich lakaienhaft alle Länder vor mir öffnen; da ich aber aufrichtig und ernst für die Menschheit arbeite, bin ich an allen Stätten der Welt ein unliebsamer Gast.

Da war auch der Dichter Erich Muehsam, der lange später einen furchtbaren Tod im deutschen Konzentrationslager finden sollte. Er gab in Ascona eine Broschüre heraus, in der er sich eingehend mit dem Monte Verita und Ascona befaßte. Und in dieser Broschüre standen die zuversichtlichen Zeilen: Wenn ich nach Jahren wieder einmal nach Ascona komme und finde es bewohnt von Menschen, die durch Zuchthäuser geschleift, zerschunden von den Schikanen der Besitzenden und ihren Exekutionsorganen, dem Staat, der Polizei und der Justiz, endlich doch hier eine Heimat und eine Ahnung von Glück erlangt haben, dann will ich mich von ganzem Herzen freuen!

Der Bürgermeister von Ascona las das, ergrauste, und wußte sich und seinem lieben Ascona nicht anders zu helfen, als daß er die gesamte Auflage der Broschüre aufkaufte und sie vernichten ließ.

Nun, Ascona und der Monte Verita blieben zwar von Zuchthäuslern verschont, aber nicht von all den verschraubten Aposteln. Da ging ein Mann herum, der unaufhörlich Nun danket alle Gott sang und sich davon alles erhoffte. [62]

Ein anderer hielt glühende Reden über die Schädlichkeit roter Weintrauben. Der Genuß roter Trauben beeinflusse die Geschlechtshormone stark, behauptete er kühn, und sei darum unter keinen Umständen mit dem Keuschheitsprinzip vereinbar. Denn wurde Dionysos etwa nicht zusammen mit Aphrodite gefeiert? Und mitten in diesem Wirrwarr meditierten Gruppen von Buddhisten, in indische Gewänder gehüllt, mit seltsamen Zeichen geschmückt.

Wie Oedenkoven und der enge Kreis seiner ernsthaften Mitarbeiter überhaupt ihre Arbeit in den Gärten und Feldern und im Sanatorium durchzuführen vermochten, ist fast unbegreiflich. Immer noch gelang es ihnen, ihre saubere Linie beizubehalten und sich durchzusetzen.

Die Erhabenheit und der Irrsinn feierten ihre Triumphe auf dem Berg und bekamen ihren Glorienschein.

Aber noch lange nicht waren alle Stadien erschöpft.

Der Monte Verità ruft Europa

So unfaßbar es klingt, Oedenkoven schuf inmitten dieses siedenden Hexenkessels einen mustergültigen Sanatoriumsbetrieb mit verblüffend hohem Niveau. Er hatte seinen ausführlichen Reklame-Prospekt Provisorische Statuten der Vegetabilischen Gesellschaft des Monte Verita ausgesandt, und Ida Hofmann konstatierte:

Das gesamte Leben auf Monte Verita nimmt einen merklichen Aufschwung. Die gesamten Bedingungen für Beteiligte und Mitarbeiter am Unternehmen des Monte Verita sind festgesetzt, und die unablässig einlaufenden [63] Anfragen beweisen das vorhandene Bedürfnis nach veränderten Lebensbedingungen. Der Besuch unserer Anstalt von heilungsuchenden Kranken, Pensionsgästen und Besuchern wird stabiler; Ärzte bilden darunter einen großen Prozentsatz. Henris angeborene Heilgabe hat die günstigsten Erfolge aufzuweisen. -- Der Monte Verita ist keine Naturheilanstalt im gewöhnlichen Sinne, sondern vielmehr eine Schule für höheres Leben, eine Stätte für Entwicklung und Sammlung erweiterter Erkenntnisse und erweiterten Bewußtseins, befruchtet vom Sonnenstrahl des Allwillens, der sich in uns offenbart -- vielleicht ein Hort für spätere Zeiten, wenn der Kontrast zwischen Idealismus und Materialismus, zwischen Freund und Feind, zwischen gesundem und krankem Leben, zwischen Lüge und Wahrheit oder Gut und Böse zu groß geworden ist, und der Kampf ums Dasein entweder Untergang oder Rettung erheischt.

Tatsächlich wurde der Berg in jenen Jahren ein geistiges Zentrum, zu dem die Welt draußen mit gewisser Spannung hinsah. Vertreter des fortschrittlichen europäischen Geisteslebens trafen sich nun hier. Die Stimmen vom Berge gaben ein Echo über ganz Europa. Die kulturellen Bestrebungen und Veranstaltungen auf dem Monte Verita fingen nun an, in die Welt hinauszudringen, und übten eine überraschende Anziehungskraft aus.

Die interessante Atmosphäre zog bedeutende Künstler und Wissenschaftler, Revolutionäre, Rebellen und Politiker zum Berg der Wahrheit. Unzählig sind die Namen, unmöglich sie alle zu nennen. Aber wer hätte je geglaubt Bakunin und Krapotkin, Lenin und Trotzki auf dem Monte Verita anzutreffen? Hierher kamen Leoncavallo, Dr. Rudolf Steiner, Emil Ludwig, Erich Mühsam, die Gräfin Reventlow, [64] Arthur Segal, Mary Wigman und der Tänzer Rudolf Laban, Leonhard Frank, Else Lasker-Schüler, Stephan George und Klabund, Paul Klee, Isidora Duncan und Hermann Hesse. Und in späterer Zeit kamen George Kolbe und Victor Adler, Max Piccard, Ernst Toller, die Tänzerin Trümpy, Henri van de Velde, Edwin Fischer, Gustav Stresemann, Alfred Flechtheim und viele, viele andere. Sie alle verbrachten eine Zeit hier, oder sogar ganze Abschnitte ihres Lebens.

Gleichzeitig trafen Ärzte aus den verschiedensten Ländern ein und viele, die an sozialen Experimenten interessiert waren, kamen, um die kooperative Verwaltung des Berges zu studieren und zu diskutieren. Einer der Väter des Sozialismus, der alte August Bebel, kam um zu sehen und Vorträge zu halten.

Es war eine blühende Zeit, positiv und lebendig, in der alle denkbaren und undenkbaren Formen des Geistes- und Seelenlebens ihre große Erneuerung feierten.

Wahrlich, der Berg war geduldig. Er ertrug alles mit der milden Erhabenheit eines Weisen -- und dachte sich seinen Teil.

Ein anständiger Mensch besitzt kein Geld!

Nirgends in Europa schien die Luft so mit Spannung geladen zu sein wie auf dem Monte Verita. Nur die wirtschaftlichen Verhältnisse gerieten nun völlig ins Stocken. Ganz gewiß ließ es sich hier immer noch unglaublich billig leben, und die durchschnittliche Auffassung war geprägt von dem Schlagwort: Ein anständiger Mensch besitzt kein [65] Geld! Doch Oedenkovens sehr vermögende aber über dieses Experiment entsetzte Familie, die den einen großen Geldzuschuß nach dem andern im Nichts verschwinden sah, dachte entschieden anders darüber.

Verständlich, wenn man bedenkt, daß Ida Hofmann und Oedenkoven ihr ganzes Vermögen der Idee geopfert hatten. Mit dem, was sie besaßen, hätten sie sich zurückziehen und den Rest ihres Lebens ein Idealdasein führen können. Aber sie waren bestrebt, auch anderen Menschen glücklichere Bedingungen zu schaffen. Die Enttäuschungen wurden grenzenlos.

Vielleicht war es der schwerste Schlag, als sie einsehen mußten, daß die strengen vegetarischen Prinzipien des Sanatoriums viele zahlende Gäste abschreckten. Nun hatten sie die kostbaren Anlagen für elektrische Beleuchtung durchgeführt, hatten das Luft- und Sonnenbad ausgebaut, für Wasser, Zentralheizung und viele andere Bequemlichkeiten gesorgt, neue Umbauten und Zubauten entstehen lassen. Neue Reklamebroschüren waren ausgesandt. Sie hatten sich von der irrationellen, weltanschaulich betonten Verwaltung auf eine rationell betonte und zu vielen Konzessionen bereite Verwaltung umstellen müssen. Nichts schien zu helfen. Sie revidierten nochmals die strengen Vorschriften. Immer noch waren Butter, Kochsalz, Käse, Eier, streng verpönt, und jeglicher Genuß von Tabak, Fleisch, Alkohol und Kaffee grundsätzlich untersagt. Aber sie entschlossen sich nun, Kartoffeln, Blumenkohl, Spargel und Bohnen in den Kostplan einzubeziehen, und sie gestatteten den Gebrauch von Kokos- und Haselnußfett. Doch das große Fiasko war da und wollte nicht mehr weichen.

Es schlug 1914. Der Weltkrieg warf seinen Schatten über [66] den Berg und jegliches Interesse erlahmte. Bitter enttäuscht mußte man erkennen, daß die Menschheit sich von dem Evangelium des Vegetabilismus nicht erlösen lassen wollte oder konnte.

Und 1917 begrub Oedenkoven die letzten Illusionen. Er gab seine Zustimmung, daß im Sanatorium Fleisch gegessen werden durfte und die Reformkleidung nicht mehr obligatorisch war.

Es schien, als hätten sich alle dunklen Mächte verschworen, um Oedenkovens Werk heimzusuchen, zu beschmutzen und zu vernichten. Nichts sollte ihm erspart bleiben. Der Untergang schien unaufhaltbar, als ein Herr Theodor Reuß aus England auftauchte, sich als Großmeister mehrerer Londoner Freimaurerlogen ausgab und angeblich mit Rudolf Steiner eng befreundet war. Oedenkoven wurde mißtrauisch, er hielt von all diesen religiösen Kreisen nichts. Aber jede Aussicht, sein Unternehmen zu retten, war ihm jetzt willkommen. Und der Magier Reuß machte seinen suggestiven Einfluß geltend, entwickelte phantastische Pläne und versprach dem Monte Verita unbegrenzte Geldmittel. Oedenkoven überlegte lange, unbehaglich berührt. Er schwankte, er zögerte, aber es gab wohl keine andere Wahl mehr für ihn. Vielleicht hoffte er immer noch auf ein Wunder.

Und er erlebte sein blauestes Wunder.

Reuß gründete mit Oedenkovens Erlaubnis auf dem Berg den OTO, den Ordenstempel des Ostens. Was der Sinn, Zweck und das Ziel dieses Ordens sein sollte, hat nie jemand erfahren. Es gab keine Erklärungen. Bedingungsloser Glaube und restlose Hingabe wurde gefordert. Alles verblieb ein tiefes Mysterium, hinter dem sich eine zynische [67] Geschäftigkeit verbarg, das schmutzige Spiel eines durchtriebenen Hochstaplers.

Alles wurde jetzt mit Geheimnissen umgeben, in magisches Dunkel gehüllt. Mystische Feste und Feierlichkeiten wurden arrangiert. Mary Wigman und Laban mit seinen Schülern traten bei nächtlichen Tanzvorführungen auf, beteiligten sich an Fackeltänzen im Freien und an undurchsichtigen Zeremonien.

Es wurde immer wilder. Den Brüdern und Schwestern des Ordens wurden religiöse Räusche in Aussicht gestellt, Andeutungen erotischer Art und wüster Orgien wurden gemacht. Reuß brauchte alle Mittel, weckte die schamlosesten Gelüste, brauchte alle verlockenden Möglichkeiten, um die Phantasie zu erhitzen, schwüle Stimmungen zu erzeugen und alles in den Nebeldunst des Geheimnisvollen zu verschleiern. Geschäftstüchtige Mitglieder des Ordens warben vermögende Leute und veranlaßten sie zu großen Geldspenden. Liebesbeziehungen und erotische Verbindungen wurden im Namen des Ordens aufgenommen und geschäftlich ausgenützt. Das war geradezu eine Forderung, die den Brüdern und Schwestern der höheren Grade gestellt wurde. Der Gottesgesandte Reuß führte sie dabei an. Die Frauen verfielen seinem dämonischen Reiz. Sie umschwärmten ihn. Alle wollten ihn haben. Und er nahm sie alle.

Ida Hofmann hatte früher schon deutliche Tendenzen geäußert, den Vegetarismus als eine Art Religion zu betrachten. Nun hatte sie sich offen den Okkultisten und Theosophen zugewandt. Abermals enttäuscht, stand Oedenkoven allein. Doch der Berg schien nicht gewillt zu sein, für ihn Gnade walten zu lassen. Ein junges Mädchen, mit dem sich Oedenkoven nun anfreundete, beging plötzlich [68] Selbstmord. Einige Zeit später lernte er eine Engländerin kennen. Die Zuneigung war gegenseitig und stark, aber die Engländerin Isabella war nicht zu einer freien Ehe zu bewegen. Der vielgeprüfte Oedenkoven steckte auch diese Niederlage ein und ließ sich in aller Stille standesamtlich trauen. Als aber seine Frau Isabella sich auch als eine fanatische Verehrerin des gottgesandten Hochstaplers Reuß entpuppte, und der Berg der Wahrheit zum Berg des Irrsinns gemacht worden war, wurde der gute Oedenkoven doch vom Zorn gepackt. Er räumte gehörig auf und jagte den Gesandten Gottes samt Orden zum Teufel.

Die frechste Scharlatanerie auf dem Monte Verita war beendet. Man versuchte sich wieder zu sammeln und zu sich zu kommen. Doch ein weiterer Selbstmord war nicht gerade geeignet, den in Verruf geratenen Berg in ein besseres Licht zu rücken.

Wenn auch im Laufe der Zeit wieder berühmte Maler, Dichter, Tänzer und Musiker den Monte Verita besuchten, die richtige Stimmung wollte nicht mehr aufkommen, -- die Überzeugung fehlte. Es war zu viel kaputtgegangen.

Die ethischen Wegelagerer, wie Erich Mühsam einmal die zweifelhaften Elemente des Berges genannt hatte, gewannen nun am Rande des Zusammenbruchs die Oberhand und zogen viele andere mit sich. Aberglauben und Gespensterkult blühten. Die Inkarnations-Theorie war nun die große Mode. Ein jeder versuchte den anderen zu übertrumpfen. Sie wetteiferten in krankhaften Übertreibungen und überspannten Besessenheit. Alle waren auf einmal in einem früheren Leben weltberühmte Dichter, Könige, Hetären und Weise gewesen. Nur der aufrichtige Carlo Vester erzählte mit leiser Ironie und mit seinem herzlichsten Lä-[69]cheln, daß er leider in seinem früheren Dasein nur ein einfacher Galeerensträfling gewesen sei, der sich auf dem Lago Maggiore zu Tode gerudert hätte.

Das tollwütige Irrenhaus hatte sich zu einem Tummelplatz lallender Narren verwandelt.

Endlich gab Oedenkoven auf.

Dieser unbändige Berg wollte sich nicht regieren lassen. Im Januar 1920 verließ Oedenkoven zusammen mit seiner Frau Isabella und der kameradschaftlich zu ihnen haltenden Ida Hofmann für immer den Monte Verita und zog nach Brasilien. In Brasilien gründete er eine neue Kolonie, die heute noch in Catalao bestehen soll. Und wenn sie nicht gestorben sind... Sie sind, sie verblieben in Brasilien.

Mit der Götterdämmerung auf dem Monte Verita war es vorbei. Der Berg hatte einen Ausschnitt des Besten und des Schlimmsten erlebt, was die Menschheit hervorzubringen vermag -- Genie und Wahn, Beglückte und Selbstmörder, tiefste Aufrichtigkeit und plattesten Schwindel, Fleiß und Faulheit, Kameradschaft und Egoismus, alle Hoffnungen und alle Enttäuschungen mußten über ihn hingehen.

Die Geschichte der Kindheit und Jugend, der Sturm- und Drangjahre des Berges der Wahrheit war abgeschlossen.

Zu meinem Besitztum hat jeder Zutritt!

Der Ruf nach der Wahrheit verstummte. Der Monte Verita sah wechselnde Pächter und wurde zum Verkauf ausgeboten. Es wurde öde und leer. Der Park wuchs zum [70] Dschungel. Carlo Vester hatte die Aufsicht über dieses verwildernde Terrain bekommen, das langsam verfiel und doch immer gleich zauberhaft schön blieb.

Einige Besitzer versuchten es auf kürzere Dauer mit dem unregierbaren Berg. Sie kamen und verschwanden. Dann begegnete Baron von der Heydt seinem Schicksal. Er bekam ein Angebot, den Monte Verita zu kaufen. Er wollte nicht. Aber er kannte den Berg, und die Erinnerung suchte ihn heim. Vielleicht versuchte er sich zu einem Nein zu überlisten, als er endlich die Hälfte der geforderten Kaufsumme bot. Zu seiner Überraschung erfuhr er eines Tages, daß er Besitzer des Monte Verita geworden war. Sein Angebot wurde angenommen: 160 000 Schweizer Franken, einschließlich Inventar. Das geschah im Februar 1926.

Der verödete Berg erwachte zu einem neuen Dasein. Die alten Dogmen fielen, alles wurde so liebenswürdig frei. Das neue Leben begann nicht mit festgemauerten Grundsätzen, sondern mit harmonischen Betrachtungen: Wie lassen sich alle modernen Bequemlichkeiten am besten mit ausgesuchter Schönheit und träumendem Frieden vereinen? Warum soll es für alle nur eine einzige Möglichkeit zur Erlangung von Gesundheit und neuer Lebenskraft geben? Wer ein gutes Beispiel braucht, der nehme sich eins!

Wie ein Tessiner Gandhi, mager und von der Sonne dunkelbraun gebrannt, nur mit kurzen weißen Shorts bekleidet und dem lose herabhängenden Lufthemd ohne Kragen und Ärmel, so bewegte der Baron sich nun ungezwungen zwischen seinen Gästen. Seine nackten Füße steckten in Sandalen und in der Hand hielt er den traditionellen, roten Tessiner Sonnenschirm. Gern wollte er seinen Gästen ein Vorbild sein, nie aber sich als Vorbild aufdrängen.[71]

So begann die Aera von der Heydt auf der Akropolis von Ascona.

Der Baron war eine international bekannte Persönlichkeit, seine einzigartigen Sammlungen asiatischer Kunst genossen Weltruf. Nun verwandelte er den Monte Verita zu einer Stätte auserlesener Kunstwerke. Im Park wurden Statuen aufgestellt, diskret, niemals das Landschaftsbild störend, nie prahlend. Alle Zimmer, Korridore, Hallen des Sanatoriums und der umliegenden kleinen Häuser wurden mit asiatischen sowie europäischen und afrikanischen Skulpturen und Malereien geschmückt. Unermeßliche Werte standen da in aller Öffentlichkeit. Und es ging, es ging gut. Sie wurden geachtet und geschätzt, und vor allem respektiert. Weder nennenswerte Beschädigungen noch Diebstähle kamen vor. Vielleicht -- weil es im Tessin war, und auf dem Monte Verita? Man wagt sich dieses Experiment kaum an jedem beliebigen Ort wiederholt vorzustellen. Etwas sträubt sich in einem bei dem Gedanken, Kunstwerke von Weltformat, die seltensten Schätze, draußen in unbewachten Parks oder in offen zugänglichen Gebäuden auszustellen und zu sagen: Bitte, zu meinem Besitztum hat jeder Zutritt! Von der Heydt wagte es zu tun.

Stimmte das wirklich? Wieder lauschte die Welt. Europas Kunstfreunde kamen zum Monte Verita gepilgert und sahen. Es stimmte!

Der Berg der Wahrheit wurde ein ungezwungenes Paradies für Erholungsuchende, ein Symbol für Frieden, Geist und Schönheit, ein Mekka der Kunst-Enthusiasten. [72]

Resignation auf Herbstchrysanthemen

Er liegt immer noch da, der Berg mit dieser verzauberten und bezaubernden Aussicht und mit dieser Stimmung, der sich keiner zu entziehen vermag. Die schimmernde Fläche des Sees, die Wucht der Berge, und die fast tropische Vegetation des durch die Alpenkette vor allen rauhen Winden abgeschirmten 46. Breitengrades. Und mitten auf dem Berg das Hotel, offen für Licht und Luft, durchleuchtet von Sonne. Aus hellem Beton und Glas, Nickel und Edelhölzern, mit kostbaren Teppichen und den ausgesuchtesten Kunstwerken aller Zeiten.

An einem bescheidenen Eckplatz des Restaurants sitzt mir gegenüber ein sonnengebräunter Mann in eleganter Kleidung, mit untadelig gebundenem Schlips. Er trinkt Mokka und raucht Zigaretten. Er macht einen tief in sich selbst ruhenden, behaglich harmonischen Eindruck. Die Nervosität der großen unruhigen Welt scheint ihm nichts anhaben zu können. Sein Blick ist offen, mild und sicher.

Es ist Dr. Eduard Freiherr von der Heydt, der Besitzer des Monte Verita. Der Baron sagen die Leute, wenn sie von ihm sprechen. Sein zuweilen etwas müdes Lächeln erinnert an den Zug weiser Nachsicht im Antlitz buddhistischer Skulpturen. Wenn er sich auf seinem Stuhl etwas vorbeugt, kann ich etwas von dem Kissen aus feinem asiatischem Seidenbrokat sehen, auf dem er sitzt. Er sieht sehr spannend aus.

Wir sprechen von den vergangenen zwei Jahrzehnten, über den Zweiten Weltkrieg, über geschlossene Grenzen, unbehagliche Auswirkungen in der Schweiz, über die jetzige [73] allgemeine Unsicherheit, und eine darauf zurückzuführende stillere Periode des Berges. Der Baron ist während des Krieges Schweizer Staatsbürger geworden. Den bedeutendsten Teil seiner Kunstsammlungen schenkte er dem Museum der Stadt Zürich. Wir kommen auf jene Generation von Liebhabern des Berges zu sprechen, die am Aussterben ist, die in einem chaotischen Europa ihr Leben lassen mußte, die auf der Flucht oder im Exil Selbstmord beging, die über den ganzen Erdball verstreut wurde.

Das Gesicht des Barons bekommt einen versonnenen Ausdruck. Sein Blick scheint Erinnerungen zu streifen, verweilt in Gedanken an Vergangenem, und gleitet wieder in die Gegenwart zurück.

Wünschen Sie ein Glas Kognak zum Kaffee? sagt er halblaut und um von etwas anderem zu sprechen.

Er erzählt, daß er jetzt den gesamten Betrieb des Berges verpachtet hat. Damit ist er sozusagen ein Gast in seinem eigenen Heim geworden. Dann kommen wir auf Skandinavien zu sprechen, das er liebt. Wir amüsieren uns über eine skandinavische Pressenotiz die etwas voreilig, wie er es bezeichnet, die Nachricht von seinem Tode brachte. Und dann frage ich nach dem Schicksal des berühmten roten Tessiner Sonnenschirms. Darauf erzählt der Baron von seiner langwierigen Krankheitsperiode, die ihn schließlich zwang das Lufthemd abzulegen, und damit auch den Sonnenschirm, und sich wieder an bürgerliche Kleidung zu gewöhnen.

Und der Monte Verita?

...eine Zufluchtsstätte für Menschen, die Ruhe und Frieden suchen... nein, hier werden wohl keine größeren Veränderungen mehr geschehen... [74]

Es ist, als wollte er noch etwas hinzufügen, aber er schweigt.

Mein Blick fällt auf die kostbare Umgebung. Die Sonne spiegelt sich in dem goldrandigen Kognakglas, auf dem das Emblem des Monte Verita, eine Palme und einige Bergkonturen, in Gold glänzt. Einen Moment streifen meine Gedanken die Langhaarigen und die Nackten, die sich hier einst mühten, unter primitivsten Verhältnissen, und anspruchslos lebten, darauf bedacht, die Wahrheit zu finden und sie der Menschheit mitzuteilen.

Auf dem fein registrierenden Gesicht des Barons zeichnet sich die Andeutung eines resignierenden Lächelns ab.

Der alte Geist ist immer noch da, sagt er still, aber wenn man selbst nicht mehr mit gutem Beispiel vorangehen kann...

Sein Blick umfaßt die herrlichen Kunstwerke an den Wänden. Seine tiefste und innigste Botschaft, die Signatur der Seele aller Zeiten und aller Völker, der mit Inbrunst, Liebe und Leidenschaft um letzte, ewig gültige Klarheit ringenden Seele.

Hat man die Flammenschrift an seinen Wänden gelesen und zu deuten vermocht, hat man ihn verstanden? Ist man sich darüber klar geworden, was von der Heydt eigentlich gegeben hat?

Schweigend nimmt der Berg eines weisen Mannes edle Resignation zur Kenntnis.

Wir erheben uns von den Stühlen, und jetzt kann ich das asiatische Brokatkissen in all seiner Herrlichkeit sehen: Schmetterlinge und Chrysanthemen -- die uralten östlichen Symbole des Traumes und der himmlischen Erhabenheit, strahlend wie des Herbstes goldener Tau, leuchtend wie das milde Silberlicht des Herbstmondes. [75]

MONTE VERITÀ nun der ewige Berg des Tessins!

Die wohl vorläufig letzte Überraschung in der Geschichte des Berges erreicht mich in Form einer sachlichen Bekanntmachung der Tessiner Regierung: Baron Eduard von der Heydt hat -- wie eine notarielle Urkunde vom 4. Januar 1956 bestätigt -- sein Besitztum Monte Verita dem Kanton geschenkt.

Zu dieser großzügigen Geste, die den heiß umstrittenen Berg für alle Zukunft einem ungewissen Schicksal enthebt, seien einige Bemerkungen des Barons gefügt:

Ich habe mir lediglich ausbedungen, daß ich zu meinen Lebzeiten die uneingeschränkte Verwaltung des Besitztums behalte. Nach außen wird sich gar nichts ändern, solange ich lebe, auch das Hotel wird weitergeführt. Der Zweck der Schenkung besteht darin, Monte Verita als kulturelles und künstlerisches Zentrum zu erhalten. Über die Ausgestaltung im einzelnen lasse ich dem Kanton freie Hand, da ich die Regierung nicht durch Bedingungen und Klauseln einengen wollte.

Und damit schließt endlich der Kampf um diesen Berg, der siegte und sich für alle Zeiten seine geweihte Bestimmung sicherte. [76]

Das Orakel des Berges

Nur eine Viertelstunde von dem Hotel und seinem wohlgepflegten Park entfernt sieht die Welt des Monte Verita gänzlich anders aus. Ein fußbreiter Steg in der Wildnis, der schroff abfällt, sich wieder schräg aufwärts schlängelt, durch einen Dschungel von Bambus, vorbei an blühenden Mimosen und den geblichweiß leuchtenden Blüten der Lorbeerbäume. Steintreppen. Ein leeres Haus. Kein menschlicher Laut. Wieder schmale Treppen aus Felsgestein, aufwärts und abwärts und wieder aufwärts. Weiter, vorbei an einer mit fremdartigen, lilaroten Blumen überrankten Mauer. Ein alter Brunnenschacht, ein moosbewachsener weiblicher Torso aus müdem Stein, in trotzig verschlossener Haltung und mit dem Lächeln smaragdgrüner Brüste. Ein Pfad, der unter einer weinbewachsenen Pergola zu einem Platz mit einem Tisch aus rauhem Stein führt. Daneben eine Steinbank. Auf der Bank ein Mensch mit knisternd weißem Haar, das lang über Schulter und Nacken herabfällt. Eine alte Strickjacke und Kniehosen sind die Bekleidung. Die nackten Beine steckten in ausgetretenen Latschen. Und dieser Mensch sitzt da mit weit von sich gespreizten Beinen, schneidet sich seelenruhig einen Apfel durch, kaut wohlgefällig, spuckt die Reste aus.

Erst als ich direkt vor ihm stehe, hebt er langsam den Kopf, sieht mich bedächtig an. Aber welcher Blick! Aus dem greisen Gesicht leuchten die klaren, festen und springlebendigen Augen eines jungen Mannes.

''Guten Tag, Carlo, es freut mich, dich wieder zu sehen.

Carlo Vester reicht mir die Hand, heißt mich willkom-[77; Zeichnung]men, nicht freundlich und bietet mir so selbstverständlich einen Platz auf der großen Steinbank an, als ob wir uns jeden Tag träfen. Dabei ist es eine kleine Ewigkeit her, seitdem wir uns sahen. [78]

Einen Augenblick, ich hole nur den Wein und das Brot, sagt er und schon ist er weg, behändig wie ein Junge.

Es ist nicht Wein und Brot, es ist der Wein und das Brot. Der Wein ist sein eigener, das Brot bäckt er selbst. Der alte, unverwüstliche Carlo Vester, der letzte wirkliche Naturmensch, der letzte Pionier des Monte Verita, der Veteran, der sie alle zusammen überlebte. Alles hat er miterlebt, die ganze Geschichte des Berges. Nun ist er selbst ein Stück Geschichte geworden. Seine zerfurchten Gesichtszüge sind wie aus der Felsenwand des Berges gehauen.

Wir trinken seinen roten Wein und ich frage geradezu: Monte Verita, der Hotelbetrieb?

Ist den Wenigen nun vorbehalten, die es sich leisten können, von fünfundzwanzig Schweizer Franken aufwärts pro Tag dafür zu bezahlen. Man kann es auch für fünfzig bekommen. Wie man will, es steht einem ja frei, antwortet er.

Und Baron von der Heydt?

Er hat doch sein Werk vollbracht, großartig, -- großartig schöne Kulissen. Vester macht eine Pause, bekommt ein schelmisches Leuchten in den Augen. Oder auch der Fluch des Geldes, wie es einem behagt.

Und wie steht es mit dem Kulturleben auf dem Monte Verita?

Kuultuur? wiederholt Vester und wiegt das Wort auf der Zunge. Es gibt ja keine mehr, es ist keine Kultur mehr übrig, weder hier auf dem Berg noch in Europa. Die ist kaputtgeschlagen, und die Reste sind schon lange aufgebraucht. Wer hat denn die überschüssige Kraft dazu, neue Kultur zu schaffen? Er steckt sich eine lange Brissago-Zigarre an. Asien! Vielleicht Asien, sicher Asien. Von dort [79] wird es kommen. Von China! Die Welt wird mit China rechnen müssen. Vielleicht nur ein halbes Jahrhundert, dann wird man etwas zu sehen bekommen. Es wendet sich jetzt -- zum Besseren, zum Positiven, es geht wieder aufwärts. Noch in unserer Zeit, in diesem halben Jahrhundert.

Das Orakel des Berges der Wahrheit spricht.

Und ich frage nach der Wahrheit des Berges.

Frage, und du bekommst vielleicht eine Antwort, sagt Carlo Vester darauf gemütlich lächelnd. Frage nicht, und du findest die Antwort. Darum schweig!

Über ein halbes Jahrhundert brauchte das Himmelsstürmertum des Monte Verita um die Wahrheit zu erkennen: das Ziel liegt nicht darin, die ganze Welt umkrempeln zu wollen, sondern darin, sich sein Herz zu bewahren und Frieden mit sich selbst und seiner Umwelt schließen zu können.

Das ist die alte Wahrheit, die der eingesessenen Tessiner Bevölkerung schon immer bekannt war und nach der sie immer gelebt hat. Der Ring aller Lebensweisheit hat sich geschlossen, und es kann wieder von vorn beginnen.

Das Tessin ist und bleibt ein barockes Land.

Tief unter mir liegt Ascona. Dort kann man sie allezusammen heute noch treffen, sie sind immer noch hier, nur in einer neuen Ausgabe, eine neue Generation in Zellophanpackung: Psychoanalyseapostel und Astrologiepropheten, Astralbräute und Gemüsefanatiker, Dollarsucher und Picassoepigonen, und die ewige Prozession hysterischer Edelnymphen. Dort unten sitzen sie immer noch.

Beruhigt kann ich meines Weges ziehen, das Orakel des Monte Verita antwortete mir: Es ist nicht zu befürchten, daß sich vorläufig hier etwas ändern wird! [80]

Bei der Wegkapelle mit dem alten, geheimnisvollen Bilde der Madonna Nera, der Schwarzen Madonna, pflücke ich einen Zweig sprühend roter Blumen und lege sie der Madonna zu Füßen. Ob man eine schwarze Madonna zum Erröten bringen kann?

Ich bekomme ein dunkles Lächeln geschenkt und mache mich fort zu meinem Balkon der Wahrheit. [81]

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