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Nackt der Sonne entgegen

 NILS ASCHENBECK

in den Bergen entstand die Vision eines neuen Europas Betrachtungen zur 100jährigen Geschichte des Monte Verità bei Ascona


Die Geschichte, die um 1900 handelt, beginnt mit einer Krankheit, mit einer Seuche. Die Lungentuberkulose, die in europäischen Grossstädten grassierte, hatte dazu geführt, dass im ausgehenden 19. Jahrhundert Tausende einen langen Aufenthalt in den Bergen verschrieben bekamen. Nur an der trockenen Gebirgsluft und unter der heilenden Gebirgssonne konnten die entzündeten Lungen ausheilen - sofern man Glück hatte. In einer Zeit, in der es das Penecillin noch nicht gab, verbreitete die Tuberkulose Angst und Schrecken. Gerade die grossstädtische Boheme, die einen offensichtlich ungesunden Lebenswandel trieb, lebte im Bann der Krankheit. Jede Influenza trieb Angstschweiss auf die Stirn von Künstlern, Literaten und Privatiers.

Die Alpen aber auch die deutschen Mittelgebirgen boten die letzte Rettung. Trockene Gebirgsluft konnte negative Krankheitsverläufe aufhalten, konnte Leben verlängern, manchmal gar retten. Die Geschichte erlangt ihre Bedeutung mit einer radikalen, medizinisch kaum haltbaren Verallgemeinerung. Die Lunkentuberkulose, so die Reformer um 1890, sei ein folgerichtiges Phänomen der gründerzeitlichen Gesellschaft. Nur in den Großstädten mit ihren historistischen Plüsch-Höhlen, den dekadenten Ausprägungen bürgerlicher Existenz sowie den beengten, oftmals ungesund feuchten Unterbringungen der armen Leute können die Tuberkulose-Bazillen gedeihen. Sie stiegen, so dachte man, aus den Miasmen der Städte geradezu auf. Die Tuberkulose sei nichts anderes als die körperliche Ausprägung einer Krankheit, die alle Bereiche der Gesellschaft längst erfasst habe.

Dass die körperlich Kranken in alpenländische Sanatorien reisten, um Heilung zu suchen, lässt sich nicht allein durch die klare Bergluft erklären. Neben die eigentliche Kur (viel Sonne, viel frische Luft) musste der Ortswechsel treten: die Stadt war als Ort des allgemeinen Unheils zu verlassen!

Die ersten Luft-und Sonnenbäder wurden Mitte des 19. Jahrhunderts im früher österreichischen Veldes (heute Bled, Slowenien) von dem Schweizer Arnold Rikli (1825-1906) angeboten. Arnold Rikli gelang es, Luft und Sonne in ihrer Wirkung im `atmosphärischen Bad` zu konzentrieren. Er wies den Weg, wie das ungreifbare und gefährliche Medium des Sonnenlichts zu handhaben sei." - wie Giedion in seiner "Herrschaft der Mechanisierung" schrieb. Mit Riklis Naturheilanstalt begann die Rückkehr der Städter in die Berge und in die Wälder, begann die Gesundung" der Zivilisationskranken in erhabener Natur. Mit Rikli begann das symbolische Abschütteln der Zivilisation, das Ablegen einengender Kleidung und einengender Rituale. In Veldes lebten die Patienten eingehüllt in leichte, leinene Kleider, im Tagesaglauf konzentriert auf die Lichtkur. Die Kranken, die genug Geld hatten, um in die Berge zu fahren, bildeten eine eigene, fast homogene Schicht. Sie gehörten überwiegend zum Bürgertum, oftmals zum Bildungsbürgertum. Viele junge Kranke kamen in die Sanatorien, bevor sie ihre Weltanschaunng gefestigt hatten. Sie suchten zwischen Therapie und Spaziergang nach neuen Werten, die tiefer und substantieller waren als Geld und Wohlstand. Sie wollten ihrem Körper zuliebe das als materiell verstandene 19. Jahrhundert überwinden. Sie sehnten eine Ära herbei, in der ein gesunder Körper und ein gesunder Geist die höchsten Werte darstellten und zu einer Einheit geführt werden könnten.

Im Jahr 1888 gründete der Wiener Arzt Christoph Hartung von Hartungen in Riva am Gardasee ein Sanatorium, in dem die neuen Naturheilmethoden zur Anwendung kommen sollten. Alkohol war als Form bürgerlicher Dekadenz verboten. Dank der zeitweisen Aufenthalte von Thomas und Heinrich Mann, von Franz Kafka und von Max Brod wurde das Sanatorium nicht vergessen. Doch vergleichbare Einrichtungen, die nur nicht von derart prominenten Gästen besucht wurden, gab es überall im zentralen Alpenraum, nahe den oberitalienischen Seen und bald auch in den deutschen Mittelgebirgen. Ihre Zahl ist heute nicht mehr zu ermitteln; es waren Hunderte. Einem dieser Häuser hat Thomas Mann mit dem "Zauberberg" ein Denkmal gesetzt: dem Waldsanatorium Dr. Jessen" in Davos (er hatte anlässlich eines Besuches seiner Frau Katja vom 15. Mai bis 12. Juni 1912 das Davoser Sanatoriumsleben kennengelernt).

Eindringlich beschreibt Mann im Zauberberg die Situation der kranken Städter, die sich kaum krank fühlten. Sie mussten ihre Tage auf den Veranden und Terrassen der grossen Sanatorien verbringen und in die Gebirgslandschaft blicken. Die in den Sanatorien praktizierten Behandlungsmethoden, die Lagerung der Patienten in offenen Loggien, generierte einen neuen Typ Architektur. Wesentliches Element der Kurhaus- Bauten ist die Aufteilung der langgestreckten Flügel in kleine Einheiten, in Zellen, die alle mit einer Loggia versehen sind. Die Insassen der Sanatorien lebten meist auf diesen überdachten Balkonen oder in den allgemeinen Liegehallen. Die reinlichen, leicht zu desinfizierenden Zimmer (Linoleumbelag) waren nur ein Anhängsel der Loggia, ein Notbehelf bei gar zu kalten Tagen. In den Loggien, deren endlose Reihung die Sanatoriums-Architektur in Davos bestimmte, waren die tuberkulösen Körpern zur Sonne und zur Landschaft hin ausgerichtet. Nur zu den Mahlzeiten, zu medizinischen Untersuchungen oder Behandlungen ("Seelenzergliederung") und zu geselligen Veranstaltungen verliessen die Kranken, die sich gesund fühlten, ihre Ausgucke ins Nichts. Meist jedoch blickten die zur Untätigkeit Verdammten in den Tannenwald oder auf die fernen Gipfel - und dachten an eine bessere Zulkunft, an eine bessere Welt. Der alltägliche, inhaltsleere Blick in die erhabene Natur geriet zur bestimmenden Erfahrung einer ganzen Generation.

"Hans Castorp stützte einen Arm auf die breite, glatte Fläche der Seitenlehne, blinzelte und ruhte, ohne Ocean steamships` zu seiner Unterhaltung in Anspruch zu nehmen. Durch die Bögen der Loggia gesehen, wirkte die harte und karge, aber hell besonnte Landschaft draussen gemäldeartig und wie eingerahmt. Hans Castorp betrachtete sie gedankenvoll."

Statt ein unterhaltsames Buch zu lesen, betrachtete Castorp die wie ein Gemälde wirkende Landschaft - er konnte sich der Landschaft, die vorerst durchaus keine Informationen gab, nicht entziehen. Das gedankenversunkene Blicken in die weite Landschaft war die typische Verhaltensweise der Sanatoriums- Insassen, war eine wochenlange, monatelange, manchmal gar jahrelange Übung zehntausender junger Europäer. Der Blick generierte bestimmte Gedanken - generierte Visionen einer besseren Gesellschaft, einer Reformgesellschaft. Zu den Patienten, die die Sanatorien bevölkerten, gehörte Gustav Pauli, späterer Direktor der Bremer und der Hamburger Kunsthalle. Pauli schrieb in seinen Erinnerungen über einen Aufenthalt in Falkenstein im Taunus:

"Zwei Autoren wurden unter den Leidesgenossen eifrig erörtert: der damals noch unbekannte Verfasser von Rembrandt als Erzieher`, Langbehn, [...] und Nietzsche. Langbehn war erst vor einigen Monaten erschienen; Nietzsche, der sein Lebenswerk gerade abgeschlossen hatte, begann erst jetzt das breite Publikum zu erobern. An Rang und Art verschieden genug begegneten die beiden sich doch in der Absicht, die deutsche Kultur zu veredeln und durch die Verkündung des Herrenrechtes der freien schöpferischen Persönlichkeit."

Die Patienten gingen ihrer täglichen Pflicht in den Liegehallen oder auf den Balkonen nach; dort begann die Abdrift der Gedanken - und bald wieder der Griff zum Buch; nicht zum Buch über Dampfschiffe, sondern zu Werken, die eine Gesellschaftskrituik leisten und gleichzeitig neue Wege aufzeigen. Langbehns "Rembrandt als Erzieher" und Nietzsches "Zarathustra" waren sicher nicht nur im Sanatorium Falkenstein die meistgelesenen Werke. In den Loggien wurde der Aufbau einer besseren "rembrandtdeutschen" Gesellschaft erprobt. Der Führungsanspruch der gebildeten Generation, der Anspruch, den Umbau der Gesellschaft von den Bergen aus in die Hand zu nehmen, konnte aus den beiden Werken, die hohe Auflagen erreichten, abgeleitet werden. Zarathustra war der erste Reformer, der in der Erzählung noch scheiterte, der jedoch, übertragen auf das beginnende 20. Jahrhundert, in der Realität Erfolg haben sollte. Nietzsches Kunstfigur wurde ganz wörtlich verstanden zum Vorbild einer Generation. Es gab damals Hunderte, wenn nicht Tausende Sanatoriumsinsassen, die sich als wahre Zarathustra-Nachfolger wähnten.

Zu den Zivilisationskranken, die nach eigener Sanatoriumserfahrung ein neues gesundes Leben in einem neuen Rahmen führen wollten, gehörten Ida Hoffmann (1864-1926), Henry Oedenkoven (1875-1935), Karl Graeser (1875-1915), Lotte Hattemer und Jenny Hofmann (die Schwester von Ida, geb. 1863), die Gründer des Berges der Wahrheit, der Monte Veritá am Lago Maggiore. In ihrer Autobiographie beschreibt Ida Hofmann die Intention des Ausbruchs aus den gründerzeitlichen Gewohnheiten.

"Aus dem Leben einiger Menschen will ich erzählen, welche innerhalb der heute allgemeinen, auf Egoismus und Luxus, auf Schein und Lüge gebauten Verhältnisse aufgewachsen, und teils durch Krankheit körperlicher, teils durch Krankheit gemütlicher Art zur Erkenntnis gelangt, Umkehr machten, um ihrem Leben eine natürlichere und gesündere Wendung zu geben."

Drei der Gründer des Monte Veritàs, Hofmann, Oedenkoven und auch Gräser, hatten lange Zeit in anderen Sanatorien zugebracht (Hofmann und Oedenkoven bei Rikli in Veldes). Sie waren Patienten, die nach langen Tagen auf den Liegeterrassen und Balkonen im Sommer 1899 ihre gemeinsame Idee einer neuen Gesellschaft entwickelt hatten.

"An die Natur müssen wir uns halten, uns in den Schutz ihrer alles frei gewährenden Gesetze stellen, durch sie gesunden, von ihr lernen, die jedem Lebewesen freie Entwicklung lässt, Ihre Gesetze sind so weise, so milde, so selbstverständlich, dass sie uns nicht drücken dürfen."

Die Gesetzte der Natur, von Darwin entdeckt, sind nach Hofmann- Oedenkoven allein wahr. Nur wenn man den Naturgesetzten strikt folgt, wenn man dem freien Lauf der Natur keine Hindernisse in den Weg stellt, könne eine gesunde, nicht Komplex-beladene Gesellschaft entstehen. Der in der bisherigen städtischen Zivilisation sozialisierte Mensch jedoch sei gehemmt eben durch die naturwidrigen Sachzwänge dieser Zivilisation. Ein Mensch, der der Natur folge, lebe deswegen freier, werde automatisch gesund und schaffe gleichsam nebenbei eine freie, harmonische Gesellschaft.

Erst das Herauslösen des Einzelnen aus den Zwängen der Zivilisation und das Hineinsetzen in die Freiheit der Natur ermöglichte folglich den Neuaufbau der Gesellschaft. Henri's vorläufiges Unternehmen gipfelt in der Gründung einer Naturheilanstalt für solche Menschen, welche in Befolgung einfacher und natürlicher Lebensweise entweder vorübergehend Erholung, oder durch dauernden Aufenthalt Genesung finden und sich in Wort und Tat seinen Ideen, seinem Wirken anschliessen wollen. Hieraus erwächst auf Grund der Einnahmen und Anschluss Gleichgesinnter mit eventuell finanzieller Beteiligung, eine oder mehrere Ansiedlungen mit allgemeinem Bodenbesitz jedoch gesondertem persönlichen Eigentumsrecht, welches durch das individuelle Bedürfnis danach und durch die möglichst selbständige Herstellung der Lebensmittel und Gebrauchsartikel jedes Einzelnen begründet ist. Späterhin folgen die Anlagen von Mühlen, Webereien, Fabriken aller Art auf hygienischer Grundlage zur Betätigung der individuellen Fähigkeiten und Wünsche, nicht jedoch zur blossen Kapitalsanhäufung oder zur Entfaltung von Luxus - endlich Schulen zur Heranbildung persönlicher Anlagen."

Wenn erst genug Einzelne geläutert seien, dann werde der Aufbau des neuen Reiches konkret beginnen. Die geläuterte Gesellschaft des 20. Jahrhunderts, die aus den Heilanstalten entstehen sollte, war keine Utopie, an deren Wirklichkeit man nicht dachte. Vielmehr wurde die Folgerichtigkeit, Notwendigkeit und Automatik der Entwicklung gesehen. Wenn erst das private Auskommen organisiert war, werde selbst der Aufbau von Fabriken angegangen.

Die Pläne wurden schnell konkret.

"Im Oktober 1900 versammelten sich zu München in der Wohnung meiner Familie Menschen verschiedenster äusserer und innerer Gestaltung; doch beseelte mehr oder weniger fast alle ein gleiches Verlangen nach Verlassen der veralteten gesellschaftlichen Ordnung, besser Unordnung, zum Zwecke persönlicheren Lebens und persönlicherer Lebensführung - nach Freiheit."

Dabei wurde die Freiheit nicht als Anarchie, sondern als eine neue Form der Ordnung verstanden - als eine Ordnung, die den Naturgesetzen folge.

Die an der Gesellschaft erkrankten Menschen, die sich in München, dem Zentrum der deutschen Boheme, trafen und die einen Aufbruch aus der Boheme-Lethargie und aus der Boheme- Krankheit beschlossen, unternahmen sofort nach ihrer Zusammenkunft einen Fussmarsch an den Comer See. Die Gruppe suchte ein Gelände, ein Grundstück, auf denen das gesellschaftliche Experiment, die Neuordnung realisiert werden konnte. Offenbar genügte ein Grundstück nahe der Großstadt München keineswegs. Die fünf jungen Leute nahmen den beschwerlichen Weg über die Alpen in kauf, um ein ideales Areal zu finden.

Die oberitalienischen Seen gehörten um die Jahrhundertwende zu den beliebtesten Reisezielen der wohlhabenden Nordeuropäer, vorzugsweise der Deutschen und Engländer. Orte wie Como, Lugano oder Locarno erlebten um 1900 einen starken Aufschwung. Zahlreiche neue Hotelbauten entstanden damals. Die Jahre zwischen 1890 und 1914 gelten als die Belle Epoque" des schweizerischen Fremdenverkehrs.

Offensichtlich folgten die Fünf einem Ruf, der diesen Landschaften voraus ging. Es hiess damals, die Gegenden seien arkadisch oder idyllisch - ideale Voraussetzung für ein neues experimentelles Gemeinwesen, das den Blick in die unberührte, bukolische Natur als wichtigste Voraussetzung des Funktionierens begreift. In Ascona "bot sich Gelegenheit zur Ansiedlung und wir erwarben endlich ein herrliches Stück Land (1 1/2 ha) auf mässiger Anhöhe, über dem See." Die Fünfergruppe erwarb ein Grundstück, von dem aus man über den Lago Maggiore blicken konnte. Der Biograph des Monte Veritàs und noch Zeitgenosse der Gründergeneration, Robert Landmann, beschrieb den ursprünglichen Zustand des Berges.

"Die Kuppe war von Gestrüpp überwuchert, der Boden felsig, und nur an wenigen Stellen gab es tiefergehende Erde. Nach der Locaneser Seite hin stand ein kleines Steinhäuschen, das einmal eine armselige Osteria für Holzfäller gewesen war und in letzter Zeit als Stall gedient hatte. Von dort stuften sich terrassenförmig einige vernachlässigte Rebhänge hinab. [...] Nach Westen öffnete sich das breite Tal der Maggia. Zauberhaft war der Blick nach Italien zu. Zwischen zerklüfteten Bergen dehnte sich der unergründlich blaue Lago Maggiore aus."

Der Ausblick in die Natur konnte schöner und eindrucksvoller nicht sein. Für die Landwirtschaft oder gar für die Ansiedlung von Fabriken schien der erworbene Boden dagegen vollkommen ungeeignet. Die Sanatoriums-Erfahrung wirkte nach: der tätigkeitslose Blick in die Landschaft.

Doch auf dem Monte Monescia griffen die Siedler zum Spaten - sie begannen, die Theorie in die Praxis umzusetzen. Auf dem felsigen Boden entstanden bereits 1901 erste Hütten. Sie dienten den Gründern als Unterkunft. 1902 standen insgesamt fünf Hütten und ein Lesezimmer. Das sogenannte Russenhaus und die Casa Selma sind bis heute geblieben.

Der Beginn des Siedlungsexperimentes mit dem Hüttenbau war folgerichtig. Um nicht sofort den Zwängen der Zivilisation zu verfallen, sollte das Gesellschaftsexperiment bei den Wurzeln neu begonnen werden. Die einfache Holzhütte ohne jeden Schmuck wurde die Urform der neuen Gesellschaft. Der entblößte Mensch, der in karger, bewußt reduzierter Umgebung lebt, wurde als der Urbewohner einer zukünftigen kulturell hochstehenden Ära begrffen.

Die typische Monte-Verità-Hütte entstand als Holzkonstruktion auf einem Bruchsteinsockel. Neben der eigentlichen Hütte befand sich ein kleiner hölzerner Toilettenanbau. Vor die Hütte wurde eine Terrasse oder Veranda mit einem Knüppelholz-Geländer gesetzt: Landschaftsblick! Eine schmale Freitreppe führte seitlich auf die Terrasse. Durch das weit überstehende, flach geneigte Satteldach war sie vor Regen oder Schnee geschützt. Robert Landmann, später selbst Eigentümer des Berges und der Hütten, beschrieb die Situation:

"Um das Hauptgebäude gruppieren sich kleine Häuschen, die nur ein grosses Zimmer für ein, höchstens zwei Personen enthalten; das Mobiliar besteht aus eisernen Normalbetten, Stühlen und Waschtischen; ein Vorhang trennt Schlaf und Arbeitsteil, der einen Sekretär, einen französischen Schüttholzofen, einen Sessel und einen Schiffstuhl aufweist; in die Wände sind Schränke eingelassen. In diesem Wohnsystem soll die Freiheit des Individuums, das nicht als Herden- oder Hotelmensch gelten soll, zum Ausdruck kommen. Alle Bauten, alle Innenräume sind aus geöltem Holz hergestellt, sauber gehalten, mit elektrischem Licht und breiten Fensteröffnungen versehen; denn Licht und Sonne - viel Sonne suchen die hier in der Natur lebenden Menschen."

Die Einrichtung war auf notwendige Stücke reduziert. Von den wenigen Möbeln sollte das automatische (naturgesetzliche) Wachstum einer gesunden Kultur ausgehen, in der jedes Objekt einen von der Natur vorgegebenen Ort einnimmt. Üppige Pracht verbot sich für die Hütten-Bauherren allein schon nach den jahrelangen, die Sinne prägenden Erfahrungen im Sanatorium. Polster und Plüsch liessen sich nicht ausreichend reinigen, bargen womöglich den Bazillus der Tuberkulose in ihren Faserbüscheln. Blankes Holz und Linoleum hingegen liessen sich jederzeit desinfizieren, garantierten nichts weniger als Gesundheit.

1904 wurde die Casa Anatta errichtet, das Wohnhaus der Heilanstalt-Gründer Ida Hofmann und Henry Oedenkoven, das Haus der bereits Wissenden, der Gesunden, keineswegs eine Hütte der noch Kranken. Entsprechend neu, einmalig und "gesund" geriet die Architektur.

Die Casa Anatta ist als Holzbau auf einem Steinsockel ausgeführt worden. Alle Ecken sind gerundet. Die Flachdächer dienten als Sonnendächer. Bei der Casa Anatta scheinen die Veranden auf das Dach verlegt zu sein - die Organisation des Hauses ist nicht horizontal, sondern vertikal gegliedert. Das Licht- und Luftbad wurde auf dem Haus, nicht vor dem Haus genommen. Vermutlich konnte so das Naturerlebnis, das Sonnenbad mit nacktem Körper, ungestörter und gleichzeitig herausgehobener vollzogen werden. Der profane Hintergrund eines Bauwerks fehlte auf dem Dach, die freie Natur erstreckte sich rundherum.

Auf dem Monte Verità wurde das passive In-die-Landschaft- blicken der Sanatorien in ein aktives Naturerlebnis umgeformt. Der nackte Tanz vor oder auf dem Haus angesichts einer grandiosen Landschaft geriet zum häufig wiederholten und vielfältig dokumentierten Ritual der Bergbewohner. Der Tanz unter freiem Himmel war die erste künstlerische Ausdrucksform der des Gesellschaftsexperiments. Der Ausdruckstanz, der Anfang des Jahrhunderts vom Monte Verità kommend, die Städte eroberte, wurde eine der wichtigsten Kunstformen der Reformer. Noch 1926 entstand unweit des Berges der Wahrheit ein eigenes Tanztheater für die Ausdruckstänzerin Charlotte Bara.

Auf dem Monte Verità sollte aus einer urtümlichen Naturlandschaft allmählich eine Kulturlandschaft geformt werden. Die Bergbesiedler versuchten, den kargen, steinigen Boden landwirtschaftlich zu nutzen. Zudem wurden Wiesen hergerichtet und abgezäunt, auf denen man Licht- und Luftbäder nehmen oder Reigen tanzen konnte.

Das Ablehnen städtischer Zivilisation war also nicht gleichzusetzen mit einer Idealisierung der unberührten Natur. Die Bergbesiedler hatten während ihrer Sanatoriums-Existenz lange genug in die unberührten Tannenwälder geblickt, um die Einsamkeit der Wildnis zu kennen. Die Wildnis wurde als unbestellter Boden gesehen, der alle Chancen bot, auf dem sich eine neue Kultur aufbauen liess.

Das Konstruieren einer neuen, wahrhaftigen Kultur auf einem verwilderten Hügel, auf eng begrenztem Terrain also, schien vorerst zudem einfacher als der Umbau der bestehenden Gesellschaft wie Henry Oedenkoven ausdrücklich schrieb:

"Innerhalb der bestehenden gesellschaftlichen Organisationen, die jede individuelle Regung im Menschen ersticken [...], ist eine freie Entwicklung nach Befreiung strebender Menschen undenkbar. Auf neuem Boden, auf neu zu erwerbendem Grunde soll das Unternehmen entstehen, dessen Gründung ich mit allen mir zu Gebote stehenden Mitteln schon seit mehreren Jahren als Ziel gesteckt habe."

Oedenkoven wollte alle Parameter kontrollieren, um nicht schon von vornherein Kompromisse eingehen zu müssen, um nicht ungewollt Sachzwängen zu unterliegen. Die umfassende Kontrolle der "neuen Gesellschaft" konnte nur auf eigenem Grund und Boden gelingen, auf dem nach eigenen (als Naturgesetzte bezeichneten) Regeln gelebt wurde.

Es ging den Monte-Verità-Gründern nicht um ein einfach zu realisierendes angenehmens Leben. Auch die Rückkehr in eine arkadische Natur war nicht das Ziel. Vielmehr gehörte der Gang hinunter vom Berg, den Nietzsches Zarathustra bereits (erfolglos) gegangen war, zum Programm der Reformer. Der Monte Verità sei keine Insel des Guten, keine Schäferidylle, sondern ein Experimentierfeld gesellschaftsrelevanter Unternehmungen.

"Nicht Naturmensch` sondern Kulturmensch` im Sinne der Zuchtwahl und aller durch Erkennen der Naturgesetze gebotenen Verfeinerungen ist der ideal strebende Mensch von heute." (Oedenkoven)

Nach dem langjährigen Aufenthalt in der pädagogischen Provinz Sanatorium wollten Hofmann und Oedenkoven nun selbst lehren, selbst erziehen. Dabei propagierten sie einen auf die Kultur übertragenen Darwinismus. Nur der gesunde, physisch und psychisch starke Mensch könne eine neue Gesellschaft begründen. Genau dieser Mensch sollte auf dem südschweizer Berg der Wahrheit geformt werden. Entsprechende Anmeldungen von Städtern wurden gerne aufgenommen.

Hütten mit Veranden wurden nach 1900 rasch populär. Bei der überwiegenden Zahl der in den Jahren kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs errichteten Neubauten läßt sich das Hüttenmotiv unschwer erkennen. Die Hauptelemente der Sanatorien wie der Berghütten, die zum Berg, zum Wald oder zum Meer hin ausgerichteten Veranden und Loggien, wurden plötzlich auf zahlreiche Orte in ganz Europa übertragen. Innerhalb von kürzester Zeit entstand ein neuer Stil - die Reformarchitektur. Die Südwestloggia -im Wochenendhaus in der freien Natur oder in das Pseudo-ländliche Haus in der Grossstadt eingefügt, gelegen unter einem hohen Hüttendach - war nun Zeichen der gesunden Familie, die alle Tiefen der Gründerzeit überwunden habe.

Zu den Wochenendhausbesitzern an der Ostsee, die sich am Seeblick erfreuten, gehörte Zauberberg-Autor Mann, der in Nidden (Litauen) ein traditionell erscheinendes, reetgedecktes Holzhaus besass. Die grosse Veranda ermöglicht den Fernblick über die kurische Nehrung - Richtung Südosten. Die Aussicht hiess in Nidden allgemein "Italienblick" - der Ausguck der Monte-Verità- Siedler von dem Schweizer Hügel in die mediterane, tatsächlich italienische Seenlandschaft wurde geradezu zitiert. Noch heute lässt sich die programmatische Ausrichtung der Architektur nicht verkennen. So heisst es noch 1996 in einem Zeitungsbericht zur Wiedereröffnung des Hauses als Museum:

"Von der windabgewandten Seite der Nehrung, von einer vierzig Meter hohen Düne, blickt das braune Haus in einem unendlichen Bogen über das Haff nach Osten. Es liegt nicht auf der Kuppe, sondern oben am Hang wie ein griechischer Tempel. Oder wie die Balkonloge, von der Hans Castorp im Zauberberg` die Alpen in hotelbequemer Einsamkeit` betrachtete. Überhaupt ist die Terrasse das Zentrum des Hauses." (Tomas Steinfeld)

Mann selbst nannte "seine" Bucht "Portofino" - nach dem gleichnamigen Ort an der italienischen Riviera, an dem Nietzsche seinen Zarathustra begann.

In die Liste der Sanatorien und idealistischen Genossenschaften gehören auch Künstlerkolonien wie Worpswede. Im Gegensatz zu den Naturheilanstalten fehlte den Künstlerkolonien die organisatorische Geschlossenheit. Doch auch in Worpswede wurde der Rückzug in eine erhabene, aber dennoch erschlossene Natur erprobt. Vom Worpsweder Weyerberg aus konnte man in die weite Moorlandschaft blicken. Licht und Luft waren ohne Begrenzung zu finden. Die Menschen, die hier seit jeher lebten, schienen unberührt von jeder Zivilisation - und doch lag die Grossstadt Bremen nur wenige Kilometer entfernt. In Worpswede entstanden in ihrer Grundausrichtung durchaus mit den Monte-Verità-Hütten vergleichbare Bauten. Heinrich Vogelers Barkenhof, ein erweitertes Bauernhaus, liegt am Osthang des Weyerberges. Die Front des Hauses zeigt nach einem Umbau durch Vogeler Richtung Osten, zur aufgehenden Sonne. Um diesen Effekt zu erzielen, hatte Vogeler den vorhandenen bäuerlichen Altbau, der sich von der Sonne eher abwandte, "umdrehen" müssen. Vogeler erstellte 1898 quer zum Altbau einen neuen Flügel, der die zentralen Räume des Hauses aufnahm, der auch die neue Schauseite bildete. Die Giebelseiten des Bauernhauses dienten nunmehr lediglich als Seitenflügel. Vor der neuen Schauseite des Hauses erstreckte sich ein terrassenartiger Garten. Durch eine zentrale Tür gelangte man direkt in diesen Bereich.

Heinrich Vogelers Bild "Sommerabend auf dem Barkenhoff", das 1905 entstand, verdeutlicht, wie sehr - zumindest in der Phantasie - das häusliche und gesellige Leben auf die Veranda oder Terrasse gelegt wurde.

Zudem versuchte Vogeler genau wie die Monte-Verità-Siedler eine harmonische und gleichsam naturgesetzliche Kultur aufzubauen -auf eine Familie beschränkt!

In Worpswede lebte damals ein zweiter erfolgreicher Künstler, der ebenfalls einen alten Bauernhof erworben hatte - Bernhard Hoetger. Er ergänzte 1915 den Altbau um einen langgestreckten flügelartigen Vorbau und richtet den neuen Bauteil ebenfalls exakt nach Osten aus. Diese Ausrichtung schien für Hoetger entscheidend zu sein: er nahm in Kauf, dass Anbau und Altbau nicht im rechten Winkel zueinander standen, dass sich schwer zu nutzende dreieckige Räume ergaben. Vom neugebauten, symmetrisch angelegten Flügel des "Brunnenhofes" führt eine breite Terrasse in einen langgestreckten Garten. Hier konnte Hoetger seine Sonnensehnsucht ausleben, die er mit den Monte-Verità-Siedlern teilte. In den Garten stellte Hoetger eine Jünglingsskultpur, die ihre Hände zur aufgehenden Sonne erhob.

Der der Morgensonne entgegenblickende nackte Mensch war ein zentrales Motiv der Reformer - er symbolisiert den emphatischen Blick in die Landschaft, symbolisiert die ganze Hoffnung auf ein besseres Morgen. Auch die Villen, die Karl Moser um 1900 in Baden am Rhein errichtet hatte, und die Landhäuser anderer Reformarchitekten wurden mit Frauenskulpturen ausgestattet. Die Skulpturen sind jeweils zur freien Landschaft, zur Aussicht ausgerichtet.

Hugo Höppener, der als "Fidus" bekannt wurde, zeichnete bevorzugt junge Nackte, die die Sonne anbeten oder die Reigen tanzen - genau wie die Berg-der-Wahrheit-Siedler. Ein Bergbewohner verbreitete Postkarten, die seinen nackten Körper im eigenen Garten beim Umgraben zeigen. Der ohne Kleider betriebene Sonnenkult drang bis in die Gebrauchsgrafik, drang so auch bis in die grossen Städte. Lithographieranstalten, Verlage und Zeitschriften verwandten den die Arme erhebenden, nackten jungen Menschen in ihren Signen, Briefköpfen und Werbeanzeigen -als ein Bedeutung tragendes, ein Bedeutung vermittelndes Element. Noch 1933 wurde beim Porzellanhersteller Hutschenreuther eine Sonnenkind" genannte Porzellan-Figur nach dem Entwurf von Karl Tutter in das Programm genommen. Bei dem "Sonnenkind" handelt es sich um eine junge nackte Frau, die ihre Arme der Sonne entgegen streckt. Auf dem Kurhaus in Meran entstand 1914, als Bekrönung des Giebels, eine Gruppe tanzender Frauen mit langen, wallenden Kleidern. Das Motiv scheint direkt dem Monte-Verita entlehnt. Die nackten Körper, in Porzellan gebrannt, in Bronze gegossen oder zu Papier gebracht, waren die Kunstform des Rituals, waren erstarrter Ausdruckstanz, waren nichts anderes als eine neue sakrale Kunst der herbeigesehnten, aber noch nicht wirklich existierenden Reformgesellschaft.

Der Tanz mit halbnacktem Körper sollte zur körperlichen wie geistigen Gesundung führen und gleichzeitig Zeichen der neuen, gesunden Kultur sein.

Die Skulpturen, die Grafiken oder die Druckerzeugnisse versprachen den symbolischen Sieg über die Lungentuberkulose, versprachen den Sieg über alle Krankheit und alle Hässlichkeit des 19. Jahrhunderts, versprachen das bessere 19. Jahrhundert.

Die jungfräuliche Nacktheit stand in voller Unschuld gegen alle kalkulierte Ornamentiertheit. Die Sonnenanbeterskulpturen wandten sich ab von den Städten, liessen selbst die Reformlandhäuser als Etappen hinter sich. Sie zeigten stets in die weite, unberührte Natur, dorthin, wo die gute Zukunft des Menschen liege. Die nackten Männer- und Frauenleiber, die auf ihren Bruchsteinsockeln oder zwischen Efeugeranke standen, verwiesen auf das ferne Ziel der idealen Gesellschaft - sie verkörperten die Utopie der Reformer.

Die Utopie scheiterte im Krieg. Als auch Hans Castorp vom "Zauberberg" abberufen wurde, um in einen schmutzigen Krieg zu ziehen, endete eine grosse Ära der Reform. Trommelfeuer und Materialschlacht vertrugen sich nicht mit einer evolutionären Entwicklung einer neuen, wahrhaftigen Ästhetik.

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