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Rückzug aufs Land - Isolierung vom LandDie ruralen Kommunen der Jugendbewegung Ulrich Linse Das Landleben gewinnt in Europa zum erstenmal eine eigentümliche utopische Färbung, als im Zuge der «Verhofung des Adels» eine «aristokratische Romantik» erblüht: «... als die Verhofung des Adels eine vollendete Tatsache war, als die Mitglieder des höfischen Adels längst auf den Landadel als verbauert und unzivilisiert mit unverhohlener Verachtung herabsahen, blieb das ländliche Leben dennoch zugleich ein Gegenstand der Sehnsucht. Die Vergangenheit nahm den Charakter eines Traumbildes an. Das Landleben wurde zum Symbol der verlorenen Unschuld, der ungebundenen Einfachheit und Natürlichkeit; es wurde zum Gegenbild des höfisch-städtischen Lebens mit seiner größeren Gebundenheit, seinen komplizierteren hierarchischen Zwängen und seinen stärkeren Anforderungen an die Selbstkontrolle des einzelnen Menschen.» (Norbert Elias) Nicht in der Wirklichkeit, aber in seinen Büchern und in seinen gesellschaftlichen Unterhaltungen und Vergnügungen griff der höfische Adel auf die ländliche Idylle und das Schäfer- und Hirtenleben zurück (ohne freilich von der realen Plackerei dieses Lebens noch etwas erahnen zu lassen). Mit der Industrialisierung und den von ihr aufgeworfenen politischen, sozioökonomischen und ökologischen Fragen wird die heilende Kraft des Bandes zur antirevolutionären Antwort auf die Herausforderungen der Industriekultur: die «Träume des 19. Jahrhunderts» (Jean Servier) kreisen um Modellgesellschaften - von der Phalanstère des Charles Fourier (1772-1837) bis zum Land Ikarien des Etienne Cabet (1788-1856) - in welchen die Auswüchse der Industrialisierung durch die Tugenden der ländlichen Produktionsweise vermieden werden sollen. Diese Utopien leben sich nicht in der Phantasie und im Spiel aus, sondern drängen zur Realisierung in der «Siedlung». Dieser Siedlungsbewegung (der Städter!) ist ein merkwürdig ambivalenter Charakter eigen: Sie hat im Deutschland des 19. Jahrhunderts den Zug von «Agrarromantik und Großstadtfeindschaft» (Klaus Bergmann), sie beinhaltet aber auch «Gesellschaftsveränderung durch Lebensreform» (Wolfgang R. Krabbe), ist also konservativ bis reaktionär auf der einen Seite, sozialreformerisch auf der anderen. Die Siedlungsidee ist deshalb (abgesehen von ihren religiösen Implikationen) auch ebenso im völkischen ideologischen Spektrum (Rassenpflege und Zuchtwahl) wie sozialistischen und anarchistischen (Gustav Landauers «Verwirklichungssozialismus») beheimatet. Vier Grundmotive werden für das lebensreformerische Siedeln genannt: «1) Ablehnung des herrschenden sozio-ökonomischen Systems, insbesondere des Privateigentums an Grund und Boden und des kapitalistischen Profitstrebens, dem man eine mehr oder minder durchgeführte Gütergemeinschaft entgegensetzte. 2) Streben nach einem utopischen Zustand der (Natürlichkeit, Wahrhaftigkeit und Echtheit) der - als Antizipation im kleinen Kreis - der Gesellschaft als ein revolutionierendes Anschauungsmodell dienen sollte. 3) Begründung von Lebensgemeinschaften, d. h.: das Ziel der Siedlungen lag in erster Linie in der Gemeinschaft selbst, sie waren also Selbstzweck. 4) Vor allem das Streben nach einem naturverbundenen Leben, Flucht aus der Großstadtzivilisation und der Gemeinschaftsfremdheit.» (Krabbe nach Manfred Fuchs) Die Jugendbewegung (ebenfalls ein städtisches Phänomen!) übernahm die in der lebensreformerischen und sozialutopischen Siedlungsbewegung liegenden Impulse und führte in der Weimarer Zeit eine Blüte kurzfristiger ländlicher Siedlungsexperimente herauf. Auch deren politisches Spektrum war breit und reichte von der anarchokommunistischen Ansiedlung Heinrich Vogelers (1872-1942) auf dem Barkenhoff bei Worpswede bis zur völkischen Siedlungspolitik der Artamanen, welche durch freiwillige Ernteeinsätze und Ansiedlungen in den deutschen Ostprovinzen die polnischen Landarbeiter zu verdrängen suchten. Die Artamanen spielten insofern eine Sonderrolle in der Jugendbewegung, als sie die einzige Organisation waren, «deren Denken fast ausschließlich um die Fragen der Landflucht und der Verstädterung kreiste» und die «mit einigem Erfolg von der Theorie zur Praxis überging und das Aktivismus-Ideal der Völkischen auf (ihre) Weise verwirklichte» (Bergmann). Die ruralen sogenannten «kommunistischen» Siedlungen der Jugendbewegung, die nach Ende des Ersten Weltkriegs - ausgelöst durch Kriegs und Revolutionserfahrung und sozioökonomische Verunsicherung -entstanden, waren dagegen das Werk einzelner linksbürgerlicher Jugendbewegter, die Gleichgesinnte um sich scharten. Ephemer und realpolitisch belanglos, wie diese ökonomisch scheiternden Gründungen auch waren (im Gegensatz zu den aus ähnlicher ideologischer Wurzel erwachsenen israelischen Kibbuzim), lassen sie doch in sprechender Weise deutlich werden, daß Lebensreform und Agrarromantik nicht notwendigerweise zu einem tieferen Verständnis der ländlichen Umwelt oder gar zu deren Veränderung führen müssen. Die utopische Idee dieser «kommunistischen» Siedlungsunternehmungen wird besonders deutlich aus den romanhaften Erinnerungen von Hugo Hertwig (1891-1959), der 1920 - anknüpfend an die «sozialbiologischen» Gedankengänge Ernst Fuhrmanns (1886-1956) und an lebensreformerische Impulse - bei Itzehoe/Kleve den Lindenhof gründete: Heinrich Reif (= Hugo Hertwig): «... Die sozialdemokratische-bürgerliche Nationalversammlung und der gefährliche Versailler Friedensvertrag sind inzwischen bittere Tatsachen geworden. Die sozialistischen Probleme sind damit nicht aus der Welt geschafft, denn die Entwicklung bleibt trotz aller vorübergehender Rückschläge keinen Augenblick stehen. Unter diesen Umständen halte ich es gerade jetzt für günstig, daß eine Anzahl geistiger Menschen aufs Land geht, sich hier ein größeres Anwesen erwirbt, alle Arbeiten selbst macht und jetzt von der Erde her gesehen alle Gesellschaftsfragen im Zusammenhang praktisch und menschlich erlebt, studiert, diskutiert. Mit dem Ziele: worauf kommt es an und wie muß man unter zivilisierten europäischen Verhältnissen ein völlig neues menschliches Gesellschaftsleben aufbauen. Was sind dabei die entscheidenden Punkte. Schon während der Bremer Revolution fand ich bei Heinrich Vogeler auf seiner Barkenhoff-Siedlung, an der sich vor allem Arbeiter beteiligten, Tendenzen: vom Lande, das heißt von der Erde her, das alte Gesellschaftsleben sozusagen von den Wurzeln her zu erneuern. Es meldeten sich sogar Industriearbeiter von der Werft, die erklärten; mit dem Besitzwechsel und der Kollektivierung ist es nicht getan, wenn wir tatsächlich doch nur das alte Leben restaurieren. In diesem Augenblick trat für mich neben dem sozialen Gedanken der biologische, und ich begriff: die Weiterentwicklung des Sozialismus, über Hegel, Marx-Engels und Lenin hinaus, wird der biologische Sozialismus sein: die Sozialbiologie. Um ein wirklich neues menschliches Gesellschaftsleben aufzubauen, müssen wir erst einmal die Vorstufen unseres Gesellschaftslebens in der Natur erkennen. Und dazu wollen wir jetzt die erste Zelle schaffen, aus der, wenn wir richtig vorgehen, ein Staat erwachsen kann ... In den ersten Jahren werden wir uns wahrscheinlich darauf beschränken müssen, die bisherigen, von uns übernommenen Bodenverhältnisse und die üblichen Pflanzen- und Tierzüchtungen durch neue Bodenbearbeitung, neue Dünger und Ernährungsmethoden zu verändern. Es wird schon viel sein, wenn wir ohne zusätzliche Chemikalien und Spritzverfahren, hauptsächlich durch natürliche, aber hochwertige Ernährung von Boden, Pflanze und Tier zu gesunden und widerstandsfähigen Exemplaren kommen. Die bisherige Methode in der Landwirtschaft, auch in der Marsch, ist: immer größere Quantitäten an Nutzpflanzen, Milch, Butter, Eier und Speck zu erzeugen. Dabei denkt man lediglich mechanisch. Wir müssen aber organisch denken lernen und einsehen, daß die Qualität immer das Ziel jeder Produktion sein muß. Das habe ich während meiner Revolutionszeit auch in der Politik gelernt. Dort ist bisher alles am mechanischen Denken gescheitert.» Hilde Jäger: «... Nach der Revolution von 1918 gingen bereits eine ganze Reihe von Menschen unter der Führung entschiedener Bodenreformer aufs Land und gründeten Siedlungen. Heinrich Vogeler war nicht der einzige. Auf all diesen Siedlungen trat man für eine biologische Ackerwirtschaft und homöopathische Düngung ein. Man versuchte auch mit neuen Pflanzen den Nahrungskreis zu erweitern, die Ernährungsfrage für Tiere und Menschen wurde erörtert. Allerdings begriff man nicht wie Reif, daß unser Gesellschaftsleben eine Einheit von Pflanzen, Tieren und Menschen ist und grundsätzlich vom Acker her erneuert werden muß. Alle anderen Gesichtspunkte, auch die der Erziehung, Moral und der bürgerlichen Gesetze, müssen diesen Ausgangspunkt nachgeordnet werden. Auf uns hier ist man schon in den großen Städten aufmerksam geworden. Zuerst lachte man wohl, aber das ist vorbei. Jetzt wird unsere Siedlung in vielen Kreisen diskutiert.»[. . .] Als die Ernte in den Scheunen war, wurde der Hof zur Erntefeier geschmückt. Reif und Johannes fällten eine Tanne und richteten den Stamm als Erntebaum auf. Die Spitze bekam ein Sonnenrad mit dem Tierkreiszeichen und wurde mit bunten Bändern, Feldblumen und Erntegaben geschmückt. Die Frauen brachten auf dem Hof an den Gebäuden überall Grün und Blumen an und stellten Birkenzweige vor die Türen. Das sah hübsch und farbig aus. Spontan wurde auf dem Hof getanzt. . . Abends beteiligten sich die meisten an der Erntefeier des Dorfes im Gasthaus von Kleve. An langen Tischen, die ins Freie gestellt waren, saßen die Siedler gut verteilt zwischen den Einheimischen und tranken mit ihnen das Erntebier. Bis in die Nacht hinein tanzten die Männer mit den Frauen und Mädchen der Bauern. Die Frauen vom Lindenhof wurden von den jüngeren und älteren Bauern geholt. Fast sah es so aus, als hätte man sich aneinander gewöhnt. Das war zwar nicht der Fall, aber immerhin wurden die Siedler nicht mehr als Fremde empfunden . . . Als die Siedler wieder auf den Lindenhof kamen, war der Sonntag schon angebrochen. Sie entschlossen sich,nach ein paar Stunden Schlaf auch die kirchliche Erntefeier des Dorfes mitzumachen. Reif sagte: «Wir müssen uns immer an den jahreszeitlichen Feiern der Klever Dorfgemeinschaft beteiligen. Dabei bekommen wir ganz von selbst mit ihr engeren Kontakt. So ein Dorf mit seiner kleinen Kirche in der Mitte, die aussieht wie ein uraltes Schiff, ist wirklich eine festverbundene Gemeinschaft, die in die Ewigkeit segelt. Nur daß das heute alles fest und bodenständig geworden ist. Aber der alte Schiffahrtsgeist steckt noch in solch einer Gemeinschaft, den müssen wir beleben. Wer weiß: eines Tages bestimmen wir dann den Kurs des alten Schiffes. Wir müssen die Kirche bloß umdrehen, dann wird sie wieder ein Schiff, das lossegelt. Augenblicklich sitzen alle ängstlich fest auf ihren gestrandeten Besitztümern und haben eine Heidenangst, wieder aufs offene Meer hinauszufahren. Aber wir müssen versuchen, wenigstens die Jugend ein bißchen aufzurütteln und sie von den schlimmen Besitzfesseln zu befreien, damit sie sich zu einem neuen Leben entschließt.» (Aus: Hugo Hertwig: Heinrich Reif II; unveröffentlichter autobiographischer Roman, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Frau Maria Hertwig) Die Wirklichkeit war jedoch prosaischer als diese Phantasien. Die jugendbewegten linksbürgerlichen Kommunarden waren zwar aufs Land geflüchtet, sie hatten aber in der dortigen Gesellschaft nicht Wurzeln geschlagen, sondern waren auf die politischen, revolutionären Impulse angewiesen, welche von den naheliegenden großstädtischen Zentren ausgingen - Vogelers Barkenhoff und Hertwigs Lindenhof waren auf Bremen ausgerichtet, die ebenfalls «kommunistische» Siedlung Blankenburg bei Donauwörth auf Räte-München. Die von Hans Koch (geb. 1897) 1919 ins Leben gerufene Blankenburger Siedlung trug den im Weltkrieg innerhalb der linksbürgerlichen pazifistischen Jugend entstandenen Wunsch nach einer Öffnung zur Arbeiterjugend Rechnung bei einer teilweisen ideologischen Übernahme bürgerlich sozialistischen Vokabulars (Gustav Wynekens «Jugendsozialismus» und Friedrich Bauermeisters Schlagwort vom «Klassenkampf der Jugend»): Angehörige aller Klassen, proletarische und bürgerliche Jugend sollten durch gemeinsames Siedeln einen «neuen Beginn klarer Menschlichkeit» (Koch) wagen. Trotzdem bewegte Koch schon damals neben diesem Ansatz einer spirituellen Regeneration zur Überwindung der Klassengesellschaft auch ein praktischer ökonomischer Gedanke: Ganz im Gegensatz zu den meisten Siedlungen der Jugendbewegung nahm er die Forderung Peter Kropotkins (1842-1921) ernst, die anarchistische Kommune solle in ihrem Ackerbau «über den gesamten Maschinenbau des Jahrhunderts» verfügen (Kropotkin). Von daher gewinnt seine Ablehnung, zu sofortiger landwirtschaftlicher Arbeit überzugehen, einem über die finanzielle Misere der Siedler hinausgreifenden Sinn: Koch erkannte, daß diese harte Arbeit für Stadtmenschen nur unter Einschaltung der Maschine möglich sein würde. So erinnert sich ein Maschinenschlosser noch, daß einer der entscheidenden Gründe für seine Teilnahme an der Siedlung Blankenburg ein Gespräch mit Koch gewesen war, in dem ihm dieser seine Absicht erklärte, mit der Zeit Maschinen zu nehmen und damit Ackerbau zu betreiben. Diese Hinwendung zur technischen Welt kam bei Koch nicht zufällig. Er war wohl erblich «belastet» durch seinen Großvater, einen Bergbauingenieur, und er selbst berichtet, wie er schon als Kind während einer Rheinfahrt nicht vom Maschinenraum des Schiffes wegzubringen gewesen war. Vielleicht hatte ihn dann seine eigene körperliche Behinderung durch eine Kriegsverletzung am Ellbogen auf die Idee der Entlastung der menschlichen Arbeitskraft durch Maschineneinsatz gebracht. Neben Kropotkin scheint aber die Idee der Technisierung seiner Kommune vor allem auf den Einfluß des Sozialreformers Konrad von Meyenburg (1870-1952) zurückzugehen, den Koch wohl 1919 in Basel besuchte. Dieser hatte aus naturphilosophischen Vorstellungen einer biologischen Bodenbearbeitung heraus um die Jahrhundertwende die erste Bodenfräse erfunden und konstruiert. Diese und spätere Erfindungen hatten für Meyenburg die soziale Bedeutung, die Arbeit des Kleinbauern zu mechanisieren, um dadurch die Ernährung des Landes und die Erhaltung des wirtschaftlich niedergehenden Kleinbauerntums in der Schweiz und in Deutschland zu sichern. Obwohl diese Begegnung mit Meyenburg für Koch von richtungsweisender und lebensformender Bedeutung war, gelangte er zu einer weiteren Konkretisierung der von Meyenburg angeregten Pläne (die bei ihm vielleicht schon damals umgedeutet wurden in die Möglichkeit einer maschinellen Unterstützung von Stadtmenschen bei der ungewohnten Landarbeit) in Blankenburg jedenfalls noch nicht. Offenbar kam es über die Frage der Mechanisierung zu erbitterten Debatten zwischen Maschinenbejahern und -gegnern unter den Blankenburgern, wobei die letzteren nach Vorwurf der ersteren den «Dienst am Boden» am liebsten mit bloßen Händen vollzogen hätten. Koch gibt heute diesen reaktionären Stimmen die Hauptschuld für seinen Weggang aus Blankenburg. Zukunftsträchtig wie seine Idee war, wird ihr 1919 aber sicher auch noch das nötige Startkapital gefehlt haben. (Koch vervollkommnete Meyenburgs theoretischen Ansatz 1937 mit der Schrift «Biologische Bodenbearbeitung mit Kleinmotoren»; erst nach dem Zweiten Weltkrieg baute er bei Bad Oldesloe die Hako-Werke [Motorgeräte für Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, Wein- und Obstbau, Privatgarten und Industrie] auf.) Nicht zuletzt ist das Scheitern der Siedler darauf zurückzuführen, daß sie politisch und gesellschaftlich nicht im dörflichen Leben Blankenburgs verwurzelt waren. Die Problematik des Verhältnisses jugendbewegter Siedler zu den Dörflern zeigt sich generell in Untersuchungen der deutschen bürgerlichen Jugendsiedlung: Die Siedler halten sich durch ihr elitäres Bewußtsein für besser als die Außenwelt - man will Abstand von ihr, gleichzeitig jedoch auf sie einwirken. Dem kommt die Bevölkerung nicht entgegen: die Jugendbewegung ist ihr unbekannt, die religiöse und wirtschaftlichen Theorien der Siedler passen nicht in ihr geschlossenes Weltbild, die Not der Stadtjugend als Erfahrungshintergrund der Jugendbewegung ist ihr fremd, mit den äußeren Symbolen der Jugendlichen (der Kleidung - insbesondere der kurzen Hose bei Männern - und der Klampfe) können sie nichts anfangen. Die gegenseitigen Beziehungen sind deshalb «rein sachlicher Natur» (Georg Becker). Trotzdem war das Verhältnis zwischen Siedlern und Bauern innerhalb dieses Rahmens entwicklungsfähig: So konnte am Beispiel des Haberthofes in Hessen gezeigt werden, daß die nachbarlichen Beziehungen zunächst sehr lose waren, und sich die Bauern zurückhaltend bis mißtrauisch verhielten. Mit der Zeit wurden die gegenseitigen wirtschaftlichen Beziehungen reger; erleichtert wurde dies durch die Tatsache, daß die Bauern anerkannten, daß die Siedler in ihrer Feld- und Gartenarbeit tüchtig seien und, was psychologisch besonders wichtig war, sie sich durchgehungert hätten. Trotzdem war aber in diesem Falle eine innere Annäherung zwischen Siedlern und Dörflern nicht eingetreten (Becker). Ähnlich, aber differenzierter berichtet ein Blankenburger Arbeiter über das Verhältnis der Kommunarden zu ihrer Nachbarschaft: «Wenn auch im Anfang wenig Verständnis für die Siedler vorhanden war, so entwickelte sich so nach und nach doch ein recht erfreuliches Vertrauen zu uns, wenn auch neugierige Interessiertheit oft der erste Brückenschlag war. Das Dorf Blankenburg lag abseits der größeren Verkehrsstraßen und war noch ganz in die ländliche Beschaulichkeit eingebettet, von modernem Zeitgeist unberührt und auch wenig aufgeschlossen für städtische Kultur und Politik. Das Gebaren der Siedler schockierte die Bauern wohl anfangs und amüsierte sie doch auch zugleich. So war z. B. unser Baden in dem Flüßchen Schmutter ihrem religiösen Empfinden nicht entsprechend, wenn es auch in Badehosen und Trikots geschah. Deshalb mußte sogar ein Assessor vom Bezirksamt bei uns vorsprechen. Aber später gestanden uns die Bauern, daß sie nun bei Dunkelwerden auch zum Baden in die Schmutter gehen.» Es blieb aber das Distanzbewußtsein der Dörfler, denen die Siedler zu «frei» waren - mit all den sexuellen bis politischen Bedeutungsinhalten dieses Begriffs. So wird vom gleichen Gewährsmann berichtet: «Eigenartig empfanden wir es, daß es im Dorfe, nachdem wir zur nächtlichen Stunde einer Gouvernante im Dorf einmal ein Gespensterständchen gebracht hatten, am anderen Tage hieß: Spartakisten sind im Dorf; Wir wußten aber, daß die Bevölkerung keinen richtigen Begriff davon hatte, was nun eigentlich Spartakisten seien.» Bei einem Gespräch im Januar 1972 in der Dorfwirtschaft Blankenburgs konnte der Verfasser selbst erleben, wie als letzte blasse Erinnerung an die Siedler nur noch der Ausdruck (Spartakisten) übriggeblieben war. Offenbar faßte dieser Ausdruck für die Einwohner 1919 (und noch heute) das erschreckende Erlebnis des Einbruchs der politischen, ökonomischen und ideologischen Moderne in die Dorfgesellschaft zusammen - ein Ausdruck, in dem das starke Gefühl der Bedrohung der traditionell-statischen Agrargesellschaft durch das gesellschaftlich-politische Umbrucherlebnis mitschwingt. Fast krampfhaft suchte der «Volksgeist» diese Krisenerfahrung in die bayrischen Mythologie zu integrieren und so begreifbarer zu machen: Wie ähnlich an anderen bayerischen Orten auch hat sich bis heute in Blankenburg eine Eisnerlegende erhalten: Dieser hätte gerade noch mit einem Flugzeug aus Blankenburg entwischen können, sonst hätte man ihn verhaftet: Die Gestalt Kurt Eisners als Symbol für ein neues industriell-revolutionäres Bayern verschmilzt so mit dem traditionellen Wilderermotiv. Die unterschiedlichen politischen und kulturellen Traditionen erwiesen sich als unüberbrückbare Kluft zwischen Dörflern und Siedlern . . . Wesentlichtes Beurteilungskriterium war jedoch für die Nachbarschaft die wirtschaftliche Leistungskraft der Siedler, denn hier allein war für die Dörfler ein Vergleich mittels einer - zumindest aus ihrer Sicht -vorrangigen Wertkategorie möglich. So monierte der Nachbarbauer, daß eine der Kommunardinnen «gerne ihre Schenkel gesonnt» statt gearbeitet habe; und die Polizei berichtet im August 1919: «Von den Bauern des Ortes Blankenburg scheint die Siedlung anfangs mit etwas scheelen Augen angesehen worden zu sein. Doch stehen sie jetzt offenbar dem Unternehmen nicht mehr sympathielos gegenüber, seitdem sie gesehen haben, daß dort fest gearbeitet wird. Der Bürgermeister des Ortes äußerte auf Befragen, daß die Leute im Gartenbau wirklich etwas leisten.» Freilich blieb das Mißverhältnis, daß für die Dörfler der ökonomische Aspekt der Siedlung, für die Kommunarden selbst nur sekundär, das wesentliche Beurteilungskriterium blieb. So kam es zu den bereits erwähnten wirtschaftlichen Kontakten -aber ... bei einigen Personen ging doch die Beziehung über das bloß sachlich-wirtschaftlich Nötige hinaus. Unversucht blieb jedoch eine gewollte Beeinflussung der Bauern durch die Siedler. Dies ist um so erstaunlicher, als diese sich selbst alle stolz als «Landwirte» bezeichneten und doch zumindest der Versuch zur Gründung eines Bauernrates in der Revolutionszeit von ihnen zu erwarten gewesen wäre. Hans Koch scheint aber von Anfang an die Bauernschaft als mögliches Substrat einer geistigen Regeneration ausgeschlossen zu haben. Dabei war er vielleicht schon damals mit den Idealen des dänischen Pastors Nikolai Frederik Severin Grundtvig (1783-1872) bekannt: In «Dänemark war die Voraussetzung für die Entstehung genossenschaftlicher Selbsthilfebewegungen der dänischen Bauern die von Grundtvig geplante und seit der nationalen Niederlage von 1864 praktisch als echte Bildungsanstalt für die Bauern realisierte «Volkshochschule» gewesen, in deren Absicht es nicht lag, Jungbauern den Weg zu «besseren» Berufen zu eröffnen, sondern das ländliche Bildungsniveau zu heben und damit die selbständige Initiative auf dem Lande zu fördern. Dänemark schien Koch aber unmöglich mit Deutschland vergleichbar: Dort seien die intelligenten Bauern auf dem Lande als Bauern geblieben, in Deutschland seien die gescheiten Bauernsöhne Pastoren oder Lehrer geworden und nur die Dümmsten seien gut genug für die Scholle gewesen : « Mit diesem Rest, der auf dem Lande bei uns übrig war, konnte man keine neue Menschheit aufbauen» - und der kluge Nachwuchs, «das waren inzwischen Pastoren geworden und warben für die Kriegsanleihen». Ja, nicht einmal zur Anwendung seiner technischen Ideen hielt er sie für fähig - nicht die Bauern wollte er deshalb mit seinen Maschinen beglücken, sondern die Winzer und Gärtner. So lagen die Blankenburger Bauern nicht nur völlig außerhalb des politischen, sondern auch des ideellen Wirkungsfeldes der Kommune; man ließ sich auch nicht zur Gründung einer Arbeitsschule, wie sie Heinrich Vogeler in Worpswede aufbaute, herab. Damit beraubte sich die Siedlung auch ihrer ökonomischen Ausstrahlungsmöglichkeit, die zu einer Form der technisierten Genossenschaft bei erhöhtem Bildungsniveau der Bauern hätte führen können. Die Siedler blieben eine auf ihre eigene Spiritualität fixierte Gemeinschaft; die Stadtmenschen waren unfähig, einen Beitrag zur Lösung der Probleme ihrer ländlichen Nachbarschaft zu leisten. (Aus: Ulrich Linse; Die Kommune der deutschen Jugendbewegung, München 1973, Zeitschrift für Bayrische Landesgeschichte, Reihe B, Heft 5/1973, S. 155-159) Literatur
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