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Helmut Kreuzer

Die Boheme

 -Metzler Studienausgabe 1971-

3. Die Boheme als gesellschafts- und literaturgeschichtliches Phänomen. //Eine vorläufige Skizze//

Das Kapitel über soziologisch-historische Definitionen des Bohemebegriffs hat uns eine Reihe unterschiedlicher, z.T. gegensätzlicher Positionen vorgeführt. Die in der kritischen Darstellung gewonnenen Standpunkte und Resultate werden nun in diesem Kapitel herausgehoben und für einen skizzenhaften historisch-soziologischen Begrenzungs- und Beschreibungsversuch genutzt; spätere Teile des Bandes untersuchen dann ausgewählte Aspekte des hier nur knapp umrissenen sozialen Typs und Milieus näher und präsentieren die nötigen Belege.

Die dominierende Konvention des Wortgebrauchs bezieht den Bohemebegriff auf marginale Künstler und Autoren, deren 'abweichende' Lebensform und ihr Milieu. Einige Arbeiten, vor allem soziologischer Provenienz, versuchten dagegen, ihn auch auf nichtintellektuelle marginale Gruppen oder auf »abweichendes' Verhalten generell zu übertragen. Diese Versuche sind untereinander nicht kongruent, haben geringe Aussicht, sich durchzusetzen und bieten keinen Ersatzbegriff für den eingeschränkteren Bedeutungsspielraum, von dem auch sie ausgehen und der eines eigenen Begriffs bedarf. Die traditionelle Position ist daher vorzuziehen.

Deren Vertreter neigen teils zu einer historischen, teils zu einer ahistorischen Position. Im zweiten Fall muß der Begriff abweichendes Verhalten und oppositionelle Einstellung von Künstlern oder Autoren ohne Rücksicht auf das historischsoziale System bezeichnen, in dem sie begegnen. Geht man (m. E. mit Recht) davon aus, daß konformes wie abweichendes Verhalten von Individuen jeweils von einem gegebenen sozialen System konditioniert sind, von dem Ort des Individuums in diesem, den damit verbundenen Aufgaben, Bedürfnissen, Zwängen, Chancen, erscheint diese Möglichkeit des Begriffsgebrauchs wenig sinnvoll. Wenn man ihn auf Abweichungen jeder Art anwendet, d.h. wenn die Abweichung nicht in so engem Zusammenhang mit dem Autoren- oder Künstlertum steht, daß sie für einen überindividuellen Typus speziell dieser sozialen 'Klassen' charakteristisch oder spezifisch ist, wäre die Anwendung des Bohemebegriffs nach unseren bisherigen Überlegungen unangebracht. Schränkt man den Begriff aber auf bestimmte Abweichungen ein, bietet sich als Maßstab sofort und praktisch unausweichlich die Boheme des bürgerlichen Zeitalters an; man projiziert dann ihr Bild zurück in andere Systeme, konstatiert mechanisch Ähnlichkeiten, ohne den historischen Bedingungs- und Wirkungszusammenhang oder den 'Stellenwert' innerhalb der sozialen Systeme ins Auge zu fassen. Die Einbeziehung von Fran9ois Villon (oder Homer, Diogenes, Tasso etc.) diene als Exempel. Damit versperrt man sich die Möglichkeit, das historisch-soziale Problem der Boheme überhaupt als ein solches zu erkennen.

Die Gelehrten, mit denen wir bis zu diesem Punkte einig sind, veruneinigen sich über der Frage der historischen Begrenzung der Boheme, ihrer 'Geburt'. Sie betrachten zwar noch übereinstimmend, sicherlich mit Recht, die allmähliche Ablösung der 'mittelalterlichen' Wirtschaftsformen durch 'neuzeitlich'-kapitalisti-sche, im besonderen die Herausbildung eines Marktes auch für die Literatur sowie dessen wachsende, schließlich dominierende Bedeutung gegenüber dem Patronat als geschichtliche Voraussetzung für die Entstehung der Boheme. Da aber dieser Prozeß sich über Jahrhunderte erstreckt, divergieren die Grenzziehungen entsprechend weit: vom 16. bis ins 19.Jahrhundert, von der Gegenreformation bis in die Restaurationsepoche nach den napoleonischen Kriegen. Berechtigte Einmütigkeit herrscht darüber, daß zur Zeit des Bürgerkönigtums die Boheme etabliert ist und in Paris für lange Zeit ihre Kapitale gefunden hat (ungeachtet starker Bohemetendenzen auch in anderen Orten dieser Epoche, von London mit seinen Emigrantenzirkeln über jungdeutsche und vormärzliche Gruppenbildungen in Deutschland bis zum internationalen Künstlermilieu in Rom). Die frühen Datierungen, die den Bohemebegriff nicht erst im bürgerlichen Zeitalter erfüllt finden, berufen sich zumeist auf die Existenz eines Intelligenzproletariats, das sich in den Metropolen zusammenfindet. Aber es hat seinen guten Grund, daß der Bohemebegriff traditionellerweise nicht auf das Intelligenzproletariat als solches angewandt wird, sondern nur auf Teile desselben; auch verdient das Faktum Beachtung, daß bereits die ersten Zirkel, die ausnahmslos in allen einschlägigen Studien als bohemisch anerkannt wurden, die Gruppen der jüngeren französischen Romantiker um 1830, sich keineswegs nur oder überwiegend aus Intelligenzproletariern zusammensetzten. Die ökonomiegeschichtliche Voraussetzung der Boheme ist eben nicht die einzige überhaupt; und die proletarische Existenzform vieler Bohemiens ist noch nicht identisch mit der bohemischen als solcher.

Nicht die Armut ist entscheidend für die Definition des Bohemiens, sondern ein bestimmter, intentioneil unbürgerlicher Stil seines Lebens (der sich allerdings nicht unabhängig von den materiellen Existenzbedingungen der Armutsboheme ausformt) in der Verbindung mit gegenbürgerlicher Einstellung. Dieser Stil und diese Einstellung, von denen noch zu sprechen sein wird, beruhen auf historischen Voraussetzungen, die in der vorbürgerlichen Epoche allmählich und ungleichzeitig entstehen. Daher bilden sich in ihr unterschiedliche Vorformen der Boheme heraus, die sich über die Romantik durch mehrere Epochen zurückverfolgen lassen. Sie begründen das relative Recht der frühen, 'vorbürgerlichen' Datierungen.

Als vorbürgerlich in diesem Sinn bezeichnen wir das Zeitalter des Absolutismus; als bürgerliches Zeitalter die Epoche von 1789 bis 1917, von der Französischen Revolution bis zum Jahr des amerikanischen Kriegseintritts und der Oktoberrevolution. Es liegt auf der Hand, daß die feste Grenzziehung insoweit der Wirklichkeit widerspricht, als die bürgerlichen Tendenzen schon in der vorrevolutionären Epoche wirkten, andererseits der Absolutismus während des 19.Jahrhunderts vielerorts noch politische Bastionen behauptete, obwohl und auch weil er der bürgerlich-kapitalistischen Marktwirtschaft und den Industrialisierungstendenzen zunehmend freien Spielraum gab. Vorboheme und Boheme gehen dementsprechend ohne feste Grenzen ineinander über.

Dank der Erfindung des Buchdrucks entwickelte sich in den 'vorbürgerlichen' Jahrhunderten allmählich ein Markt für literarische Produktionen, der im 18. und in der ersten Hälfte des 19.Jahrhunderts frappierend wuchs. Damit war in der Regel eine zunehmende Konzentration des (nichtakademischen) intellektuellen Lebens in den großen Städten verbunden (ein Prozeß, den in Deutschland zunächst freilich die Kleinstaaterei behinderte). Viele konnten sich eine reelle Chance auf diesem Feld errechnen und wenigstens sicher sein, literarische Gelegenheitsarbeiten zu finden. Da das wachsende Angebot an Kräften und Produkten jedoch stets die Nachfrage überstieg, verband sich teils wirklich eine proletaroide Existenzform, teils immerhin das Gefühl der Bedrohung durch sie, der sozialen Unsicherheit mit dem Beruf eines vermögenslosen Schriftstellers ohne direkte sichernde Abhängigkeit von einem Mitglied der Oberschicht oder von den Kirchenämtern, Professuren und ähnlichen Stellungen des Fürstenstaates. Aber die Armut einer Intellektuellenschicht im vorbürgerlichen Zeitalter erlaubt uns auch dann noch nicht, von Boheme im vollen Sinn des Begriffs zu sprechen, wenn die Bindungen an Hof, Katheder und Kanzel gelöst oder nicht erreicht sind und die äußere Existenz Züge der Boheme vorwegnimmt. Der Bohemien mag das Kaffeehaus besuchen wie Savage in England und Diderot (oder Rameaus Neffe) in Frankreich; er mag den Alkoholismus mit Bellman gemeinsam haben, die Ächtung durch die Familie mit Günther, die Verfolgung durch die Kirche oder staatliche Institutionen mit Edel-mann oder Schubart - seine Einstellung zur Gesellschaft (und zum Verhältnis von Geist und Gesellschaft) ist anders, geschichtlich jünger, - weil die Gesellschaft anders, geschichtlich jünger ist, von der er sich separiert und die er attackiert.

Walter Muschg glaubt, in Leipziger "Dichterlumpen" wie Christian Reuter und Johann Christian Günther die "Erstlinge der literarischen Boheme, des von der bürgerlichen Gesellschaft geächteten Dichtertums"1 erkennen zu können; aber diese Autoren sind lediglich Bürgern, aber noch nicht der "bürgerlichen Gesellschaft" konfrontiert. Beide haben aristokratische Protektion gesucht; Günther hat schwer darunter gelitten, daß er sie nicht in ausreichendem Maße zu finden oder sich zu bewahren vermochte. Ein Hunold hat zwar (äußerlich betrachtet) als "eine Art von Bohemien" gelebt, "ebenso unzuverlässig und bedenklich wie ein fahrender Komödiant" 2, aber er war sicherlich ebenso weit entfernt von einem programmatischen Außenseitertrotz wie vom Bewußtsein eines Bürger-Künstler-Gegensatzes. Die Boheme setzt geistesgeschichtlich den Rousseauismus mit seiner Zivilisationskritik und seinem Naturbegriff voraus - ihren ideellen Waffen gegen die Konventionen der Gesellschaft; sie ist nicht denkbar ohne die Tendenz zum Genie- und Übermenschenkult, ohne den historischen Triumph der Schöpfungsästhetik und des enthusiastischen Künstlerbilds, ohne ein Zusammengehörigkeitsbewußtsein der 'Künstlernaturen' gegenüber allen anderen, eine gemeinsame gefühlsmäßige Distanz vor allem zu den bürgerlichen Mittelklassen. Daß die Sakrali-sierung des Dichters zum Sprachrohr der Gottheit, zum Organ des Weltgeistes, zum geschichtlichen Erben der Priester, Heiligen und Propheten im 18.Jahrhundert zeitlich zusammenfiel mit der beginnenden Professionalisierung des Dichters zum freien Schriftsteller und mit der Ökonomisierung des Kunstwerks zur Ware, erzeugte eine Spannung zwischen der Idee und der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Dichtertums, die aus zahlreichen Dichterklagen der Säkularisierungsepoche vernehmbar wird. Das der neuen Ästhetik und dem neuen Dichterbild entspringende Postulat einer Emanzipation der Kunst von außerkünstlerischen Zwecken und Schranken, einer absoluten Selbstbestimmung des Künstler-Ich bedeutet soziologisch eine praktische Emanzipation des Künstlers von der Kontrolle durch Geschmacksträger außerhalb der künstlerisch-intellektuellen Welt. Die Orientierung an einer normativen Regelpoetik, am Geschmack des Hofes oder an den Erwartungen eines gebildeten Publikums wird in periodisch wechselndem Ausmaß ersetzt durch die Orientierung an Normen der Produktion und Kriterien des Urteils, die in abgesonderten Zirkeln in einem rein intellektuellen Milieu kreiert oder propagiert werden. Essentielle Bestandteile dieses Milieus sind die Vorboheme und die Boheme. Sie wächst bzw. schwindet an Bedeutung anscheinend proportional zur artistischen Emanzipation bzw. Anpassung gegenüber dem Geschmackspostulat nichtkünstlerischer, nichtintellektueller Schichten. Nur bedeutungslose Rudimente der Boheme existierten im Hitlerdeutschland' oder im stalinistischen Rußland, d. h. in Gesellschaften, die eine provozierend offene Ablösung der Kunst (oder der Künstler) von vorgegebenen politisch-sozialen Zwecken und vorgeschriebenen Normen oder Grenzen nicht tolerierten. Eine zumindest relative Bejahung oder praktische Duldung des Individualismus, des Liberalismus, einer Autonomie der Kulturbereiche4"durch die Gesellschaft gehört zu den Voraussetzungen einer Boheme. Schon daraus _ ergib t sich, daß die Boheme des 19. Jahrhunderts nicht nur als ein Gegensatz zur bürgerlichen Gesellschaft aufzufassen ist, sondern als ihr Produkt und Element. Sie ist ihr zugehöriges antagonistisches Komplement, und ihre Vorläufer in einer vorbürgerlichen Epoche sind bei aller Gegensätzlichkeit zum 'Bürger' doch auch Verbündete der bürgerlichen Tendenzen.

Ungeachtet aller literarischen Bürgersatire und Philisterkritik auch in der absolutistisch-ständestaatlichen Epoche hatten vor der Französischen Revolution Ideen, die auf 'Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit' gerichtet waren, aus den historischen Gegegenheiten heraus primär eine antiabsolutistische, antiaristokratische und probürgerliche Stoßrichtung; dasselbe gilt von individualaristokratischen Berufungen auf das Recht des 'Kraftkerls' zu unbeschränkter Selbstentfaltung oder auf den angeborenen Vorrang der Genies, der "Menschengötter! Schöpfer! Zerstörer! Offenbarer der Geheimnisse Gottes und der Menschen! Dollmetscher der Natur! Aussprecher unaussprechlicher Dinge! Propheten! Priester!" (Lavater)3

Sowohl radikallibertäre und egalitäre wie auch geniearistokratische Tendenzen und ökonomische Interessen mußten die 'freie' literarisch-künstlerische Intelligenz in Konflikt mit der bürgerlichen Gesellschaft bringen, nachdem diese sich - im Widerspruch zu einigen der aufklärerischen Ideen, in deren Namen sie begründet und begrüßt worden war - als sozial gespaltene Klassengesellschaft mit utilitaristisch-monetären Wertmaßstäben etabliert und eine kapitalistisch-industrielle Wirtschaft ausgebaut hatte, deren Produktions- und Erfolgsbedingungen sich die Arbeit der Dichter und Künstler nur begrenzt anpassen ließ. Zur marginalen Subkultur dieser Gesellschaft entwickelte sich die Boheme aus den Vorformen, deren wahrscheinlich wichtigste im 18. Jahrhundert die junge Generation der Sturm-und-Drang-Zeit ausgebildet hatte.

Die Zeit des Bürgerkönigtums, in der die Boheme als solche in das Bewußtsein der Öffentlichkeit trat, zugleich ein volles Bewußtsein ihrer selbst und einen ersten Höhepunkt in ihrer Geschichte erreichte, ist zum historischen Prototyp des Juste-Milieu geworden, d.h. derjenigen sozialen Zustandsform, die sich seither als die Hauptzielscheibe stereotypisierter sozialkritischer Attacken der Boheme und zugleich als deren bester Nährboden erwiesen hat. Die Julirevolution hatte die bürgerliche Vorherrschaft in der Form der konstitutionell-parlamentarischen Monarchie begründet. Louis Philippe "stützte sich auf das kapitalistische Großbürgertum und regierte" - nach einer prägnanten Lexikonformel - "zwar in liberalen Formen, aber in reaktionärem Geist"4. Er gab "mit seinem 'Enrichissez-vous!' der Bourgeoisie die Losung, die Nationalökonomen sprachen den brutalen Egoismus mit dem Schlagwort von der 'Harmonie der Interessen' heilig, die Sozialisten verbreiteten die frohe Botschaft von der Arbeit um der Arbeit willen, die schon Hegels »Phänomenologie« begründet hatte. Eine neue Führerschicht trat auf: der rücksichtslose Unternehmer, der kalte Realpolitiker, der skrupellose Spekulant. Und ein neues Publikum trat in Erscheinung: der Mittelstand"5.

Der Juste-Milieu-Haß der Boheme richtet sich nicht nur auf diese Gesellschaft, die bestimmt war von dem Interessenbündnis zwischen Königtum und Wirtschaftsbürgertum gegen 'extreme' zeitgenössische Richtungen (antiliberale Legitimisten, Bonapartisten, Republikaner) und gegen Sozialrevolutionäre Bedrohungen von unten. Sondern er erneuert sich gegenüber jedem strukturell vergleichbaren Gesellschaftszustand. Die objektiven Voraussetzungen des voll aktualisierten Juste-Milieu-Hasses der Boheme scheinen zu sein: zeitlicher Abstand von der unmittelbaren Erfahrung schwerer Not- und Kriegsjahre der Mittelklassen; Fehlen einer manifesten außenpolitischen Bedrohung; innenpolitisch ein krisenhafter Zustand des Unbehagens, ungeachtet relativer wirtschaftlicher Prosperität und relativ "liberaler Formen" des politischen Lebens; ein Arrangement dominierender wirtschaftsbürgerlicher Kräfte mit vorliberalistischen Institutionen (Monarchie, Kirche, Militär, Aristokratie) oder auch (vor allem im 20.Jahrhundert) mit nach-liberalistischen (z.B. Gewerkschaften, Arbeiterparteien). Dieses Arrangement dient einer wirtschaftlichen Evolution im Interesse der 'staatstragenden'. Schichten, einer Stabilisierung der Verhältnisse gegen wirklich oder scheinbar systembedrohende Tendenzen. Es nötigt heterogene politisch-soziale Kräfte zu wechselseitigen Konzessionen, formeller Loyalität, zur Verdunkelung der Gegensätze jenseits der Zone der verbindenden Kompromisse. Die Boheme ist unempfindlich für die positiven Züge des Juste-Milieu (des Friedens, des Prosperitätsdenkens, der partiellen Kompromißbereitschaft, der relativ "liberalen Formen", die eine symbolische Aggression durch die Boheme erst ermöglichen); sie vermißt Aufrichtigkeit, Unbedingtheit und ideelle Ziele und Maßstäbe.

So verwirft z.B. Fritz Mauthner 1893 die konservative Partei, weil sie "nicht einmal so konsequent ist, das absolute Königtum zu verlangen"; das Zentrum, weil es "eine Partei der Erde" ist: "ueberirdisch ist es nur in den Etiquetten seiner Handelsware"; die Nationalliberalen, weil sie "das greifbare Erbe der großen Revolution" als illiberal gewordene "bürgerliche Adelspartei" antreten; die Sozialdemokraten, weil sie alt und diplomatisch geworden seien und "das Lügen gelernt" hätten.6

Wenngleich wir nun konstatieren können, daß die Boheme im 19.Jahrhundert als Randgruppe eines ökonomisch-industriellen Entwicklungsstadiums in Erscheinung tritt, in dem der Wirtschaftsbürger zu einem repräsentativen Nutznießer und zur unentbehrlichen Stütze eines von unten bedrohten Status quo geworden war, so läßt sich doch nicht sagen, daß sie auf kapitalistische Staaten beschränkt sei. Die sozialistischen Staaten haben die radikalegalitären und -libertären, individualistischen und kunstemanzipatorischen Tendenzen der literarisch-künstlerischen Intelligenz nur zeitweilig unterdrückt, aber nicht überwunden. Seit der Entstalinisierung sind sie in Osteuropa wieder sichtbar geworden, verbunden mit offenkundigen Tendenzen zur Boheme. Das legt den Schluß nahe, auf den schon das Vorwort dieses Bandes hinweist, daß die Boheme ein (geistesgeschichtlich die Aufklärungsepoche voraussetzendes) potentielles Komplement zu den bisherigen geschichtlichen Formen der Industriegesellschaft ist.

Diese Boheme und ihre Lebensformen beschreiben wir zunächst skizzenhaft und noch ohne zureichende Belege folgendermaßen: Bestimmende Züge der typischen Einstellungen und Haltungen der Boheme sind generell ein programmatischer Individualismus, der sich, mit dem Willen zur Abweichung als solcher, ohne Scheu vor provokatorischer Wirkung (oft mit Lust an ihr) von Konventionen der Lebensführung und des ästhetischen, moralischen oder politischen Urteilens emanzipiert; zum ändern eine theoretische und praktische Opposition gegen die Geldwirtschaft und gegen eine ökonomisch-materiell und utilitaristisch orientierte Skala der Geltung, der Macht und der Möglichkeiten im sozialen Leben.

Die Boheme setzt sich aus informellen Gruppen zusammen. Diese leben oder treffen sich in den Künstler- und Studentenvierteln der Großstädte oder »malerischen' Vororten, in denen die Lebenskosten relativ gering sind, vereinzelt auch in Künstlerkolonien auf dem Lande. Ihre Treffpunkte sind öffentliche Lokale, das Atelier oder die Wohnung eines Mitglieds, u.U. auch Redaktionen, Buchhandlungen, Galerien. Nicht selten bildet eine einzelne Persönlichkeit ihr Zentrum; oft haben sie ihren eigenen Jargon. Nirgends fehlen Mitglieder, die Künstler oder Schriftsteller sind oder zu sein erstreben. Die Kreise stehen nicht nur Bohemiens offen, sondern z.B. auch Mitgliedern, die nur periodisch oder sporadisch im Milieu der Boheme erscheinen - ohne ihre bürgerlichen Berufe oder sonstigen Bindungen aufzugeben. Die Klassifikation als Bohemekreis, Künstlerkreis, Salon oder literarisch-künstlerischer Verein ist daher in manchen Fällen schwierig. Mischformen existieren, eine breite Zone des fließenden Übergangs zwischen der 'Kerngesell-schaft' und der Boheme, die zugleich ohne feste Grenzen mit anderen Randgruppen verbunden ist.

Der Weg in die Boheme wird von den Bohemiens als 'Ausbruch' aus der Gesellschaft, als bewußte Abkehr vom Milieu der 'autoritären' Schule, der elterlichen Familie, des bürgerlichen Berufs oder der Akademie erlebt oder nachträglich interpretiert. Abkömmlinge vieler Schichten treffen sich, z.B. junge Adlige, die der Verbürgerlichung entgehen wollen, Großbürgersöhne mit dem Verlangen nach der interessanten', künstlerisch 'genießenden' Lebensform der Boheme doree, viele Kleinbürgersöhne, die die Enge ihrer Verhältnisse sprengen, Mädchen und Frauen mit dem Willen zur 'Emanzipation'. Oft ist nicht die Erkenntnis einer Begabung, sondern der Bruch mit den 'Vätern', der Abscheu vor der bürgerlichen Existenz das primäre Motiv der Entscheidung zugleich für Künstlertum und Boheme-Existenz. Die 'Zuflucht' der Boheme nimmt jedoch, wird sie nicht nur passiert, leicht den Charakter der Falle an; der alternde Bohemien wirkt oft als tragische oder tragikomische Figur.

Der ungebundene Bohemien abseits der 'Kerngesellschaft' entgeht zwar deren sozialen Frustrationen, zieht sich aber (besonders in der Armutsboheme) andere zu, die mit zunehmendem Alter schwerer zu ertragen sind. Sowohl die Motive für die Abkehr von der Gesellschaft als auch der Druck der Verhältnisse in der Boheme treiben die Bohemiens zu symbolischen Aggressionen, die auch und nicht zuletzt die Funktion psychischer Entlastungsversuche. haben. Das bezieht sich auf die "Unarten und Unverschämtheiten der Boheme, ihre oft kindische Ambition, den ahnungslosen Bürger in Verlegenheit zu bringen und zu entrüsten, ihr krampfhaftes Streben, sich von den normalen, durchschnittlichen Menschen zu unterscheiden, die Sonderbarkeit ihrer Kleidung, ihrer Haartracht, ihrer Barte, die rote Weste Gautiers und die ebenso auffallende, wenn auch nicht immer so grellfarbige Maskerade seiner Freunde, ihre ungenierte und paradoxe Ausdrucksweise, ihre überspitzten, aggressiv formulierten Ideen, ihre Invektiven und Unanständigkeiten"7. Diese freilich polemisch formulierende Aufzählung Arnold Hausers ist speziell auf die Boheme der jüngeren Romantiker in Frankreich gemünzt, läßt sich aber in ihren deskriptiven Elementen generalisieren.

Den 'philiströsen' Konventionen und 'bourgeoisen' Werten der Gesellschaft setzt die Boheme einen programmatischen und praktischen Spontanismus entgegen, der zur Negierung des Allgemeinen, Normativen,.Objektiven und Vorgegebenen tendiert. Unter zeitlichem Aspekt erscheint er als Punktualismus, Hingabe an die Herrschaft des Augenblicks, Bereitschaft zu dauernder Verwandlung (nicht Entwicklung); die Entscheidung wird absolut in ihrer Isolierung vom Gestern und Morgen. Der Bohemien nimmt das Leben als Abenteuer, er will es zumindest dem Abenteuer offenhalten - wiewohl sich durchschnittliche Tagesläufe faktisch oft ziemlich monoton wiederholen. Immerhin ist ein unruhiges Kulturnomadentum, sei es auch nur in der Form des häufigen Wechseins von Wohnung und Wohnort, charakteristisch für einen Teil der Bohemiens und trägt zum ständigen Austausch verschiedener Bohemezentren bei, so daß sich etwa die vorwiegend deutschen Bohemekreise in Berlin, Wien und Prag, Leipzig, Zürich, Ascona, Paris usw. zum großen Teil kennen und überschneiden, wie sie auch mit vorwiegend nichtdeutschen Zirkeln personell verflochten sind.

Das Verhältnis zu Besitz und Erwerb steht im Zeichen von Verzicht und Verschwendung. Charakteristisch sind Leichtsinn, der sich der Sorge entschlägt, Fähigkeit zur Reduktion der Bedürfnisse, die Bedenkenlosigkeit einer parasitären Existenz und eine Solidaritätsgesinnung in Gelddingen. Die Unregelmäßigkeit der Einkünfte und die Verachtung der Planung führen zu jähem Wechsel von momentanem Überfluß und Phasen der Entbehrung. Die Bereitschaft zu Fest und Gelage ist immer gegeben. Der Alkoholismus in der Boheme (für viele verhängnisvoll) hat neben äußeren auch innere Gründe. Wie der Narkotismus ermöglicht er Ekstasen, in denen die Enthemmung und Steigerung des Ich mit der Erlösung vom Bewußtsein der Misere und der Vereinzelung, der künstlerischen Rand- und Inselexistenz zusammenfällt. Rauschbedürfnis, Spontanismus, Nonkonformismus äußern sich im Sexuellen als praktischer Libertinismus, ideell als Sakralisierung des Eros. Charakteristisch ist auch eine paradoxe Verbindung von Geltungsverlangen und Publikumsverachtung. Phasen der Depression und der euphorischenSelbst-überschätzung wechseln ab; nicht zufällig tragen die beiden wohl berühmtesten reichsdeutschen Bohemecafes (das Berliner "Cafe des Westens" und das Münchener "Cafe Stefanie") den Übernamen "Cafe Größenwahn". Der Bohemien bedarf in seiner Not- und Konfliktsituation des forcierten Selbstbewußtseins. Ein Genie-und Schöpferkult grassiert, der für die Künstler generell oder für einzelne 'Meister' charismatische Führerrollen im sozialen Leben beansprucht.

Die Boheme sympathisiert mit den 'Erniedrigten und Beleidigten' jeder Art, unterprivilegierten Rassen, Nationen, Klassen, aber mindestens in gleichem Maß mit den Randgruppen, die Marx verächtlich als "Lumpenproletariat" bezeichnet hat - mit den Vagabunden, die man exotistisch glorifiziert, z. T. auch den Kriminellen, den Prostituierten und Zuhältern. Diese erscheinen - wie die Homoerotiker -der Boheme als verwandte Außenseiter, Träger einer freieren Moral des Individuums oder Opfer einer doppelten Moral der. Gesellschaft. Die politisierenden Bohemiens favorisieren radikale und revolutionäre Bewegungen, vertreten aber in der Regel individualistische oder ultraradikale Abweichungen von den organisierten Parteien und Massenbewegungen. Ihre stärkste Affinität haben sie zum Anarchismus, teils zu einer regressiven Ausprägung, die sich an der Idee der Zerstörung berauscht, cäsaristische Übermenschen, Verbrecher, Terroristen und Barbaren zu literarischen Idolen erhebt, teils zu einem spiritualistisch-utopistischen Anarchokommunismus mit humanistisch-pazifistischen, rousseauistischen und anti-industrialistischen Tendenzen.

Die Existenz der Boheme hat die Literaturen und Künste seit der Romantik stark beeinflußt, nicht nur, aber auch durch ihre eigenen Produktionen. Das Bohemeleben bietet günstige Voraussetzungen für die Produktivität durch die Konzentration auf die künstlerisch-geistige Existenz, die ständige wechselseitige Anregung, den internationalen Konnex, ungünstige durch die äußere Misere, den Mangel an Zeitökonomie, Planung, Arbeitsethos, die Verachtung des Publikums und des literarischen 'Betriebs', die verbreitete Neigung, die Produktivität über das Produkt, den Schöpfungsrausch über sein Resultat, das künstlerisch-romanhafte Leben über das künstlerische Werk (als bloßes Surrogat) zu erheben. Zwar kann man nicht von einem gemeinsamen Werkstil der Boheme überhaupt sprechen. Die literarisch-künstlerischen Richtungen des 19. und 20.Jahrhunderts sind nur in Ausnahmefällen auf sie beschränkt. Doch ist eine Affinität zu Richtungen erkennbar, die Formen und Grenzen sprengen oder auflösen, mit den extremsten Möglichkeiten einer Kunst, einer Gattung, einer Technik experimentieren, ebenso zu den literarisch-künstlerischen Möglichkeiten der Improvisation und Assoziation. Auch werden viele Bohemiens auf Grund ihrer Arbeitsweise und ihrer Einstellungen offenbar vor allem kleinen und lockeren Formen gerecht. Doch sind die monumentalen Konzeptionen (z.T. als uneingelöste Versprechen) gleichfalls typisch. Charakteristisch ist auch eine Produktion, die im spielerischen Wettstreit entstand und nur mündlich überliefert wurde: die Anekdoten, Wortspiele, Schüttelreime usw., von denen die Boheme-Memoiren schwärmen.

Die Boheme hat eine große stilgeschichtliche Bedeutung bereits durch ihre Funktion als Knotenpunkt und Umschlagplatz von Ideen, besonders von neuen und extremen Ideen, als Resonanzraum und Ausstrahlungsfeld eigenwilliger oder revolutionärer Talente. Dem Spontanismus und dem Punktualismus der Boheme entspricht stilgeschichtlich der Avantgardismus. In dessen Zeichen sieht sie sich aufgerufen gegen erstarrte Formen und den herrschenden Geschmack, legitimiert zu einem sich ständig erneuernden Enthusiasmus für jeweils wechselnde Objekte, zu einer prinzipiellen Instabilität. "Skepsis! Ja! Gegen das Alte! Aber Glauben an das Neue!" (Strindberg)8 Gewiß ist auch die akademische, korrekte, traditionelle Produktion in der Boheme legitim beheimatet. "Ich habe große Künstler gekannt [...] die in ihren Werken die radikalsten Konventionsverächter waren und in ihrem persönlichen Gebaren alles eher als Schwabinger Typen, und umgekehrt sah ich in Schwabinger Ateliers Bilder und Skulpturen, die sich mit pedantischer Sorgfalt an die akademische Konvention hielten, deren Schöpfer aber in Erscheinung und Lebensführung allen westeuropäischen Gepflogenheiten eine wahrhaft nihilistische Verhöhnung entgegenstellten." (Mühsam)9 Es liegt z.B. auf der Hand, daß sich der Anspruch auf die spezielle Künstlermoral einer Boheme-Existenz im Prinzip ebenso mit der Bejahung einer Bürgermoral für Bürger wie mit der Bejahung einer konservativen oder gefälligen Kunst verträgt.

Dennoch ist die Erwartung einer rebellischen Boheme-Kunst nicht unberechtigt. Tatsächlich hat die Boheme einen großen Anteil an der internationalen Vielzahl neuer, z.T. provokatorischer Stilrichtungen seit der Romantik. Äußere Gründe spielen mit: Junge, noch nicht arrivierte Künstler sind am ehesten für Neues aufgeschlossen und außerdem daran interessiert, im Kampf für eine neue Richtung bekannt zu werden und die Literatur der Älteren zu entwerten. Die tägliche Geselligkeit der Boheme, ihre Tendenz zu Radikalisierung und Pointierung, zur Opposition und Sezession als Werten an sich, schaffen ein Klima, das der Ausbildung und Aufnahme avantgardistischer Gedanken, Programme und Muster förderlich ist; ihrer Verbreitung kommt die Lust an aufsehenerregenden Aktionen zur Propagierung des jeweils Neuen zugute, am Skandalerfolg.

Man wird durch Posen betrogen, welche ich liebe, um die guten Leute zu verblüffen, épater les bourgeois [...] neugierig, wie viel sie sich denn eigentlich von meinem Talente gefallen lassen, und vielleicht auch einfach aus Reclame (H. Bahr).10
Hier gibt es nur: Heyse, Lingg, Große [sie], Schack, Greif auf der einen und wir, die Neuen, auf der anderen Seite [...] Man schimpft uns Ferkel, Kothwälzer, Fin-de-siecle-Menschen, literarische Sozialdemokraten, und weiß ich was alles; aber man liest uns, discutiert uns, geht in unsere Abende, kauft unsere Bücher, unsere Flugschriften etc. (O. Panizza).11

Am Beispiel der deutschen Literatur seit dem Naturalismus soll dieser Anteil wenigstens angedeutet, in Stichworten umrissen werden - stellvertretend für andere Epochen und Regionen. Im Unterschied zum bürgerlichen Realismus oder dem pathetisch-nationalen Stil der Gründerzeit fand der deutsche Naturalismus eine soziologische Basis zunächst in den Gruppen der Boheme und. der Halb-Boheme.

Es war die Zeit, da jede Woche eine neue Zeitschrift aus irgend einem neuen Bethlehem kam, bald grasgrün, bald blutroth gekleidet, aber immer berufen, der harrenden Nation den Befreier aus der langen Noth zu bringen[...] Es war die Zeit, da das jüngste Deutschland wirklich nur aus unbekannten und nichtsnutzigen Jungen bestand, die vor der Zeit der Schule entlaufen waren. (H. Bahr)12

Die Unterdrückung der Sozialdemokraten durch das "Sozialistengesetz" zog ihnen die Sympathie der Boheme zu; die Parteinahme im politischen Bereich traf sich glücklich mit dem literarisch 'modernen' Interesse am sozialen Problem und am proletarischen Milieu. Der Generationenkonflikt begann im Bürgertum zum Problem zu werden - ein wichtiger Faktor sowohl für die Ausbreitung der Boheme wie der jungen' Literatur vom Naturalismus bis zum Expressionismus. Auch führende Gestalten der naturalistischen Bewegung waren zumindest vorübergehend Glieder oder Mittelpunkte von Bohemekreisen und Träger von Bohemetendenzen, die Harts und Conradi, Holz und Schlaf, M. G. Conrad und andere mehr. Die Friedrichshagener Kreise berührten und überschnitten sich mit der Boheme ebenso wie zahlreiche andere in Berlin, München, Wien, Leipzig. Bleibende Züge der Boheme und bestimmte Züge der naturalistischen Bewegung kongruierten, u.a. die Bevorzugung des Häßlichen, Niederen, Ausgestoßenen (der Kranke, der Alkoholiker, die Dirne, der Bohemien wurden Handlungsträger), die Aversion gegen die Klassik und die Sympathie für den Sturm und Drang und das Junge Deutschland, der Hang zur Proklamation und die Bindung an die Großstadt. Daß sich die Naturalisten nicht nur zu überregionalen Gesinnungsgruppen um neue Zeitschriften zusammenschlössen, sondern auch in lokalen Vereinigungen, eröffnete den örtlichen Bohemekreisen besondere Einflußchancen.

Unter den Bedingungen der neunziger Jahre drängte die Wirkkraft Nietzsches und der anarchistischen Tradition den sozialdemokratisch-marxistischen Einfluß zurück. In den politisierenden Kreisen dominierten anarchosozialistische und anarchoindividualistische Gruppen (um Landauer, Mackay u.a.). Stilgeschichtlich entspricht dieser Entwicklung das Vordringen der 'Neuromantik', der Dekadenz und der anderen gegennaturalistischen Strömungen:

schon renommiert man mit sich als mit einer Decadence-Erscheinung. Als wollte man mit schäumenden Bechern und dem letzten Hochgefühl von Übermut und Kraft, von Grausamkeit und Selbstgefühl sich in den Abgrund stürzen! (Leo Berg, 1892)13
Es kommt uns sehr gelegen, es hilft der modischen Leidenschaft, die nach und nach jede andere Begierde in uns verschlungen hat: sentir d'extraordinaire [...] Darum nach unempfundenen Reizen das Wühlen durch die schaurigsten Laster, daher das irre Schweifen nach den letzten Winkeln der Erde, daher die fletschende Wuth um neue Parfüme, brünstigere Farben und die fremdesten Klänge (H. Bahr).14

Führer der neuen Richtungen, Przybyszewski, Strindberg, Dehmel waren Mittelpunkt der Boheme im Berliner "Schwarzen Ferkel". In der Kaffeehausboheme vertrug sich der persönliche Kontakt mit den gegensätzlichsten literarischen und politischen Anschauungen. Ein Beispiel ist, seit 1896, das traditionsreiche "Cafe des Westens", Hauptquartier des Berliner literarischen Lebens bis in den Expressionismus hinein. Hier verkehrten ebenso Maximilian Bern und Paul Lindau wie der junge Max Reinhardt, Franz Blei und Roda Roda, Max Oppenheimer (Mopp) und Eise Lasker-Schüler, Wolfgang Goetz und Mynona, Herwarth Waiden und der Kreis um Kurt Hiller. Um erzbohemische Persönlichkeiten wie Peter Hille, Paul Scheerbart, O. E. Hartleben, später auch um Theodor Däubler, flochten sich Anekdoten und Legenden in großer Zahl.

Die Wiener Boheme (im "Cafe Griensteidl", "Central" usw.) gewann am Ausgang des Jahrhunderts besondere Bedeutung. Selbst der junge Hofmannsthal und Schnitzler berührten sich mit ihr. Hermann Bahr verkündete ihr die Parolen der internationalen Avantgarde; Peter Altenberg galt jahrzehntelang als ihr originellster Repräsentant; seine Skizzen und Aphorismen bezeugen besonders sinnfällig die Affinität zwischen dem Impressionismus und einem Grundtyp des Bohemiens. Karl Kraus, der ihn protegierte, entfaltete die stärkste Faszinationskraft unter den kreisbildenden Figuren.

Auch in München, der Stadt des »Simplizissimus« und der »Jugend«, war die Zahl der Kreise damals groß. Wedekind und Franziska von Reventlow wirkten hier an der »Emanzipation des Fleisches'; die "Kosmiker" um George und Wolfs-kehl, Persönlichkeiten wie Klages und Schuler, Dülberg und Derleth, daneben Halbe und Blei sowie eine Legion anderer Talente spielten eine Rolle. Otto Groß propagierte in der Boheme von München und Ascona, Wien und Berlin frühzeitig die Psychoanalyse (und auch den Narkotismus, der ihm selber zum Verhängnis wurde). Er zeuge hier für die Selbstzerstörungskraft der Boheme-Existenz, während Hugo Lyck als Repräsentant eines Bohemetyps genannt sei, der einen ungeheuren Anspruch und eine große Suggestionskraft mit nur beschränktem dichterischen Vermögen vereinigt, - exemplarischer Fall eines reinen Boheme-Prestiges ohne objektives Fundament, das niemals über die Zirkel der Außenseiter hinausging, aber bis heute in Romanen und Memoiren, z.B. bei Leonhard Frank und Hans Blüher, seine Spuren zeitigt.

Neue Künstlerkolonien. außerhalb der Städte blühten auf, teils aus dem reformerisch-utopistischenMotiv, Inseln einer idealen Gemeinschaft (meist anarcho-kommunistischen Gepräges) zu schaffen, teils aus der Sehnsucht nach Oasen der Schönheit in der 'Wüste' der modernen Welt. Die große Rolle des Erotischen in den gegennaturalistischen Richtungen kommt Bohemeneigungen entgegen, ermöglicht die intensive Beteiligung der Boheme und wird wieder durch diese gesteigert. Gleiches gilt auch für die Wertschätzung skizzenhafter Kleinformen, für die Freiheit zum Phantastischen, Grotesken, Skurrilen, das Interesse am Müßigen, Perversen und Neurotischen. Der 'neuromantische' Exotismus erneuerte für die Boheme nur eine alte Tradition aus den Tagen Nervals; die niedere Boheme öffnete sich dem Vagabundentum stärker als zuvor, auch literarisch (Ostwald sammelte »Lieder aus dem Rinnstein«). In der Boheme doree, welche die stärksten Bindungen an die gegennaturalistischen Richtungen einging und die Grenze der Boheme zum Dandysmus, zum Welt- und Lebemännischen hin überschritt, wurden Reisen nach Afrika, Asien, Mittel- und Südamerika zur Mode. Die Boheme dieser Epoche unterscheidet sich, vor allem in München, von älteren und späteren deutschen Gruppen z.B. durch den Glanz ihrer Feste, einen gesteigerten Kult der freien Liebe, des Theaters und Varietes, des Tanzes und des Spiels, auch durch eine Ver-stärkung von Narkomanie und Okkultismus.

Der Däne Holger Drachmann und O.J. Bierbaum wirkten als literarische Pioniere eines künstlerischen Kabaretts nach Pariser Muster; nach der Jahrhundertwende Schossen die Kabarette der deutschen Boheme aus dem Boden. Ihre stilgeschichtliche Bedeutung liegt - wenn man nur im engsten Sinn literarhistorisch wertet - vor allem in der Belebung und Verbreitung der Bänkelsangballade .und -, des Chansons, des grotesken Liedes (Morgenstern), der Parodie. Das "Überbrettl"/ Ernst von Wolzogens schlug die Bresche; die "Elf Scharfrichter" (mit Wedekind, Greiner, von Gumppenberg, Falckenberg, Lautensack u.v.a.) wurden für eine Reihe von Nachfolgern stilbestimmend. "Es überwog in Lyrik, Balladen, Satiren, szenischen Parodien, auch ernsten Kleindramen, in Puppenspielen und Schattenspielen die Kritik an der zeitgenössischen Salonmoral, dem Spießergeist, dem Amü-siertheater des Bürgertums, an der Staatsautorität."15 Das intimste dieser Kabarette schuf Hille in Berlin, am populärsten wurde der "Simplicissimus" (mit Dauthendey und Blei, Mühsam und Scharf, Ringelnatz, Endrikat u.a.). In Wien folgte unter anderem die "Fledermaus" Friedells und Polgars. Neue Formen gewann das literarische Kabarett mit den anspruchsvollen expressionistischen Gründungen der "Neopathetiker" (um Hiller, Heym und van Hoddis) und des 'Sturm' von Herwarth Walden (mit Nebel, Schreyer, A.R.Meyer u.a.), im dadaistischen "Cabaret Voltaire" in Zürich (mit Ball, Emmy Hennings, Arp, Huelsenbeck, Tzara u.a), schließlich im Berlin der Nachkriegszeit, als Kabarettautoren wie Klabund, Tucholsky, Weinert und Walter Mehring einen Stil der aggressiven Prägnanz entwickelten. Diese Tradition ist in Wolf Biermann und dem Protestsong der sechziger Jahre (F.J. Degenhardt u.v.a.) wieder lebendig geworden.

In der Zeit des Expressionismus trat die Berliner literarische Boheme wirksamer hervor als die Münchener, trotz Becher, Bachmair und Ball. Viele Zirkel der Expressionisten und der Dadaisten in Berlin, Leipzig, München, am Niederrhein, in Zürich, Wien, Prag usw. berührten oder überschnitten sich mit der Boheme. Treffpunkte waren Kabarette und Cafestammtische, Redaktionen, Buchhandlungen und Galerien. "In diesem unsicheren Berlin, seiner verbissenen Geldgier und zweifelhaften Lustigkeit, mußten rebellische Literaten verfahren wie die Ur-christen im alten Rom: man war gezwungen, krypterisch Gott zu opfern. Die Öffentlichkeit lachte und spottete über sie, meist aber schwieg man." (Rudolf Kayser)16 Alle Komponenten - die hymnisch-ekstatische, die artistisch-experimentelle, die sozialkritisch-aggressive, die nihilistisch-zynische - fanden Repräsentanten in der Boheme.

Wie in allen verwandten Richtungen der bürgerlichen Literaturepoche dominierten auch im Expressionismus junge Autoren; eine Fülle von Zeitschriften und Flugblättern erschien.

Man denke, zu Goethes Zeiten: gerade, wenn Gedanken fehlen, stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein. Jetzt ein Wort ? Eine Zeitschrift, zwei Zeitschriften, ein ganzes Dutzend Zeitschriften. Rededelirien. (Döblin)17

Die Manifeste suchten zum Teil den Stil der wilden Hyperbel: "Dreitausend Jahre Kunst ziehen sich lautlos in den Orkus zurück" (R. Kurtz)18.

Kunst Konzentration Extrakt Expression krassen Knall Aristokratie Entlarvung Creation definitive Definition Aeternismus. Unsere Psychologie wird euch skan-dalisieren. Unsere Syntax wird euch asphyxiieren. Wir werden eure großen Konfessionen belächeln, abstrakt und augurisch. (Hardekopf)19

Die Bewegung als Ganzes fesselt den Blick mehrmals der einzelne Autor; ihre Impulse erscheinen wichtiger als das einzelne Werk. Offensichtlich ist in einer solchen Bewegung und für sie die Boheme von besonderer Bedeutung; hier erreicht sie am leichtesten eine stilgeschichtliche Wirkung. Da der Expressionismus teilweise aus der Boheme hervorging und zunächst nur in ihr einen sozialen Resonanzraum fand, wurden beide in der Öffentlichkeit (zu Unrecht) zeitweilig identifiziert. "Wir waren, außerhalb unseres Kreises, das Gesindel aus dem Cafe Größenwahn", schrieb Schickele 1920 rückblickend, "und kein Redakteur einer anständigen Druckschrift konnte sich soweit vergessen, als daß er die Stilübungen von irren Analphabeteil gedruckt hätte oder auch nur für sie eingestanden wäre. Der Stilunterschied zwischen den Werken spielte keine Rolle. Man bemerkte ihn nicht. Es dauerte eine Weile, bis die Kritik soweit war, daß sie den einen hervorhob, üni die ändern damit totzuschlagen."20 An den Stilzügen und Programmen des Expressionismus vermag Bohemiens vieles anzusprechen, zum Beispiel Subjektivismus und Pathos des 'Schreis', Antihistorismus, die Absage an »ständische' Theater-,Ränge' und 'bürgerliche' Illusionsbühnen, die Aversion gegen die Weimarer Klassik, literarische Bekenntnisse zu Sturm und Drang, Romantik, Vormärz politische Bekenntnisse zu Proletariat und 'Lumpenproletariat'.

Der Krieg erschwerte vielen Bohemiens in Deutschland die Behauptung ihrer Einstellung und ihres Lebensstils. Die Verbundenheit politischer Gegner im selben Kreis wurde schwieriger. Die Einberufungen zum Militär dezimierten die Boheme, Emigrantengruppen splitterten ab. Sie radikalisierten sich teils politisch, teils literarisch-künstlerisch. Der Zürcher Dadaismus ist ein Produkt der Boheme und so widersprüchlich wie sie selber: reiner Übermut und Hohn der Verzweiflung, Kulturhaß und Kunstliebe, politische Radikalität und asketische Religiosität, Spekulation auf den Skandalerfolg und Publikumshaß durchdrangen sich unentwirrbar.

Die partielle Destruktion der alten Staatsform und Gesellschaftsordnung durch die Niederlage beraubte die Boheme der stabilen Gegenmacht, auf die sie so lange bezogen war, und erschloß ihr die Möglichkeit ungehemmterer Aktivität und wirksameren Engagements. Die Revolution zog viele Bohemiens in ihren Bann und stellte sie vorübergehend in das Rampenlicht der politischen Geschichte: sie wurden in Soldatenräte oder andere revolutionäre Gremien gewählt. Gleichzeitig eroberte sich der Dadaismus Stützpunkte in Berlin und Hannover.

Dada! Wir haben uns aus dieser stinkenden Verlogenheit hinausbegeben, wir reißen Ihnen den Kopf ab, wir trommeln damit dem feierlich verlogenen Künstler die Magengegend entzwei - und wir haben für Sie alle nur ein hohnvolles Gelächter. (Raoul Hausmann)21

Kurt Schwitters nahm mit seinen Einfallen zur "Merzbühne" die Intentionen der ',Happening"-Autoren um vierzig Jahre vorweg:

Man nehme Zahnarztbohrmaschine, Fleischhackmaschine, Ritzenkratzer von der Straßenbahn, Omnibusse und Automobile, Fahrräder, Tandems und deren Bereifung, auch Kriegsersatzreifen und deformiere sie. Man nehme Lichte und deformiere sie in brutalster Weise [...] Menschen selbst können auf Kulissen gebunden werden. Menschen selbst können auch aktiv auftreten, sogar in ihrer alltäglichen Lage, zweibeinig sprechen, sogar in vernünftigen Sätzen. - Nun beginne man die Materialien miteinander zu vermählen.22

Im Vordergrund des allgemeinen literarischen Interesses stand zwar der Expressionismus, der seinen äußeren Kulminationspunkt erreichte, aber er war vielen seiner Repräsentanten bereits problematisch geworden - wie manchen Bohemiens der Lebensstil der Vorkriegsboheme.

Die Gleichzeitigkeit eines gesteigerten Ichgefühls und eines leidenschaftlichen Verbrüderungsdranges im Expressionismus und den ihm verwandten Richtungen korrespondiert mit einer alten Boheme-Paradoxie. Bei der Entstehung der Bohemekreise begegnet man demselben Zusammentreffen von betontem Egotismus oder Individualismus einerseits, spontaner Kameraderie und starkem, allzeit experimentierendem Gemeinschaftswillen, utopistisch-revolutionärer Gemeinschaftserwartung andererseits. An Bohemiens überhaupt, aber besonders auffällig an den expressionistischen Bohemiens, zeigt sich, daß sie den Ausbruch aus den bürgerlichen Ordnungen durch emotional bedingte, möglichst rauschhaft erlebbare Bindungen kompensieren wollen. Aber diese Sehnsucht sucht sich nicht nur in adäquaten Formen Erfüllung, sondern richtet sich zugleich auf Objekte (wie Kirche oder Proletariat, Volk oder Menschheit), denen gegenüber diese emotionelle, so pathetische wie labile Beziehung wenig angemessen erscheint. Der Ernüchterungsprozeß in den Zwanziger Jahren nach den Erfahrungen der Revolutionszeit führte dann teilweise zu einer Rationalisierung oder Traditionalisierung und Dogmati-sierung dieses affektgeladenen, irrational-spontanen, ,bündischen' Verhältnisses, indem aus manchem Gefühlsrebellen oder Gefühlschristen ein dogmatisch gebundener Konvertit, Agitator oder Funktionär wurde. Der neuen 'Sachlichkeit' auf der Seite solcher Bohemiens kam eine gewisse Tendenz zur Auflösung wie auch zum 'Bündischen' in diesen "zur Boheme neigenden, umstürzlerischen und der Tradition abholden Jahren" 23 auf der Seite der Gesellschaft entgegen. So drangen in die führenden Cliquen von Parteien, Sekten und Bünden aller Art ehemalige Bohemiens oder Halb-Bohemiens ein, und zwar nicht nur als Ideologen. Umgekehrt sahen sich die politischen Extremisten der Zeit teilweise ins Boheme-Milieu verwiesen. (Auch Hitler mußte seinen Münchner Stammtisch, "bevor er in der mondänen Carlton-Teestube eine Sensation bildete", zeitweilig in der Osteria Bavaria etablieren, wo "denn doch die Boheme und damit eine gewisse Narren- l freiheit" herrschte.24) Bei nicht wenigen Expressionisten schlug das 'O-Mensch- i Pathos' in den Zynismus der Enttäuschung um: "Das Wörtchen 'rot' ist sogar schon kitschig geworden. Arbeiter in einer Straße vor Maschinengewehren, totaler Unsinn! [...] Was bleibt übrig? [...] Die Hosen runtergerissen. Die Schande offen ausgelacht [...] A bas le bourgeois! Zerfetzt ihm seinen Regenschirm! Das ist bei Gott nicht dramatisch. Aber man lacht sich selbst ein bissei tot, und der Tod ist der letzte Kitzel, der unsere Langeweile noch etwas bemeistern kann." (Iwan Goll)25

Wo die Traditionen der Vorkriegsboheme unverändert fortgeführt wurden, traf sie die höhnische Kritik der alten Bohemiens. So charakterisierte Mühsam 1927 in der »Vossischen Zeitung« das berühmte "Romanische Cafe", das das Erbe des "Cafes des Westens" angetreten hatte, als "Meinungsbörse" und erklärte die Boheme für tot, "so tot, daß man aus ihrem Moder Memoiren ziehen kann" 26. Hier verkehrten arme wie reiche Theaterleute und Maler, Schriftsteller, emanzipierte Damen und intellektuelle Lebemänner der Gesellschaft (darunter John Höxter und Moriz Seeler, Wieland Herzfelde und George Grosz, Arnolt Bronnen und Rudolf Leonhard, Francesco von Mendelssohn und Ruth Landshoff, die nach ihrer Emigration in der New Yorker Boheme eine Rolle spielte, noch in der New Bohemia der sechziger Jahre). Daneben aber bildeten sich neue, z.T. auch neuartige bohemehafte Kreise, teils unter avantgardistischem, teils unter politischem Vorzeichen, zum Beispiel das 'Frontliteratentum' der radikalen Rechten, an dem Ernst Jünger zeitweilig partizipierte, und entsprechende Kreise auf der Linken (z.B. um Plievier). Erinnerungswerke von Bronnen, Jung, von Salomon, Zuckmayer, Klaus Mann und anderen berichten davon. Der junge Brecht (Held in Marieluise Fleißers autobiographischer Boheme-Erzählung »Avantgarde«, 1963) war das stärkste und ursprünglichste Talent in der neuen Boheme der Zwanziger Jahre, die sich in Berlin in besonderem Maß internationalisierte, bis die Machtgewinne des Nationalsozialismus zu bedrückend wurden. Christopher Isherwoods Good-bye to Berlin (1939) ist ein romanhafter Rückblick auf diese Phase.

Nach der Machtergreifung Hitlers schwanden die sozialen Voraussetzungen einer Boheme allmählich; bis 1936 hielt sich die "Pension Fürmann" in München. Schon 1933 setzte ein "Massen-Exodus" deutscher Autoren und Künstler ein.27 In Amsterdam, Zürich, Paris, Südfrankreich (Nizza, Sanary sur Mer), Spanien (Mallorca), in Wien und Prag, später in den Vereinigten Staaten sammelten sich Kreise und hielten wechselseitig Kontakt. "Besonders während der ersten Jahre des Exils, von 1933 bis 1936, war dies Gefühl der Zusammengehörigkeit stark und echt. Ja, die verbannten Literaten bildeten [...] eine wirkliche Gemeinschaft innerhalb der diffusen und amorphen Gesamtemigration." (Klaus Mann)28 Die Kreise wurden vielfach politisch aktiv, ein Teil nahm bohemischen Charakter an; autobiographische Romane bzw. Erinnerungswerke von Albert Vigoleis Thelen, O.M.Graf, Hermann Kesten, Klaus Mann u.a.m. erzählen von ihnen. Joseph Roth hielt "Cercle in den Kaffeehäusern von Paris, Wien, Amsterdam und anderen Metropolen. Wo er sich auch gerade aufhalten mochte, immer wurde sein Tisch zum Zentrum. Dem Autor des »Hiob« und des »Radetzkymarsch«, der übrigens keineswegs die Rolle des 'Meisters' spielte, eignete jene kreisbildende Attraktion, die manchmal zu den natürlichen Eigenschaften und Manifestationen des Talents gehört. Kollegen und Bewunderer umgaben ihn, während er mit einer nicht ganz geheuren, vielleicht verzweifelt scherzhaft gemeinten Begeisterung vom kaiserlichen Gedanken schwärmte und dabei ein dunkles Gläschen nach dem anderen kippte [...] Der Dichter Roth beging langsamen Selbstmord, trank sich mählich zu Tod". (Klaus Mann)29

Die inneren und äußeren Schwierigkeiten der Existenz und die Verfolgung forderten ihre Opfer. 1933 wurde Theodor Lessing in Prag ermordet; 1934 starb der narkomanische Lyriker und Erzähler Wolfgang Hellmert von eigener Hand, 1935 Tucholsky. Die Liste ließe sich so fortsetzen, bis 1945, als Alfred Wolfenstein sich in Paris das Leben nahm; "sogar bei den materiell relativ Gesicherten blieben die lebenstechnischen Probleme von quälender Kompliziertheit, wozu der psycho- logische Druck, die seelische Spannung kam. Da war die Angst [...] vor einem Verhängnis, das man immer unabwendbarer, immer unentrinnbarer werden sah; und da war der Ekel." 30

Nach dem Krieg fehlte in Deutschland die soziale Basis für einen Antagonismus von Boheme und Gesellschaft. Erst das Jahrzehnt nach der Währungsreform bildete allmählich in der Bundesrepublik, auch in Österreich eine prosperierende 'bürgerliche' Gesellschaft mit liberalen Formen heraus, die das Komplementär-phänomen einer Boheme erwarten ließ. Die wichtigste Vereinigung, die "Gruppe 47", wurde jedoch, trotz Mitgliedern wie Jakov Lind, nie als Ganzes zum Träger bohemischer Tendenzen. Ihr Kontrastphänomen war zunächst mehr das gewollte Einzelgängertum (etwa Arno Schmidts) oder die unfreiwillige Vereinsamung (etwa Ludwig Hohls). Auch im Künstlerroman wurde primär die Vereinzelung thematisch, noch 1963, in Heinrich Bölls »Ansichten eines Clowns« oder Thomas Bernhards »Frost«. Zu dieser Zeit waren die neuen Bohemetendenzen bereits sichtbar hervorgetreten; sie verstärkten sich in den folgenden Jahren, gingen allerdings mit fließenden Grenzen in studentisch-politische (Berliner 'Kommune I') oder semi- bzw. nichtintellektuelle Gruppenbildungen über (Gammler). Ihre Vorgeschichte reicht in die fünfziger Jahre zurück. Damals hatte in Wien, von Skandalen begleitet, der Weg des Malers Hundertwasser zu internationalem Erfolg begonnen. 1958 veröffentlichte er sein »Verschimmelungsmanifest gegen den Rationalismus in der Architektur«.

Einen bohemisch-kabarettistischen Zirkel bildeten gleichfalls in Wien die Avantgarde-Autoren H. C. Artmann, Gerhard Rühm, Konrad Bayer. Peter O. Chotje-witz vermittelte zwischen ihnen und literarischen Gruppen in Berlin. Dort gewannen auch Künstler-, Originale' wie Schröder-Sonnenstern, Bilbo und Mühlenhaupt zunehmende Publizität. Kreuzberger Bohemezirkel spiegeln sich in Werken von Robert Wolfgang Schnell und Günther Bruno Fuchs. Das Motiv des literarischen Tramps machte sich (unter dem Einfluß der amerikanischen Beat Generation) im Roman geltend (Hans Christian Kirsch, Mit Haut und Haar, 1961; Ingolf Hamm, Nadou, 1967). Bazon Brock suchte 1960 nach "Ausdrucksenergien" in den "Katakomben der Gesellschaft" und proklamierte ihre "parataktische Manifestation in Reihen, Blockbildungen, marschierenden Wortverbänden, Koppelungen, Bildkomplexen, Ausrufen, Schreien, Sprachlappen, -inseln, -flecken, der Situationswörter, in Wortstreuungen, Haufen, Ballungen, Klumpen, Kolonien"31.

Zur gleichen Zeit etwa begann das amerikanische Happening in Deutschland Fuß zu fassen. Deutsche und österreichische Bohemegruppen, Galerien und Theater, z.T. unter Beteiligung von Bohemiens aus den Vereinigten Staaten (Higgins, Macunias u.a.m.) fanden seit 1962 viel Publizität für ihre Versuche, mittels einer Art von Spontantheater (teils auch Straßentheater) die Grenzen zwischen Produktion und Rezeption, ,Kunst' und 'Leben' aufzuheben. "Leben ist Kunst - Kunst ist Leben" heißt die Bekenntnisformel des international aktivsten deutschen Happening-Arrangeurs, Wolf Vostell, "um die nun gar ein Prioritätsstreit ausgebrochen ist zwischen ihm und dem hannoverschen Total-Künstler Timm Ulrichs, der sich selber ein lebendes Kunstwerk nennt" 32. Die Verteidiger dieser Tendenzen beriefen sich auf die Traditionen der Boheme. "Welten [...] werden aus dem Chaos geboren, und wo kein Chaos mehr da ist, muß man es schaffen [...] Alfred Jarry, Apollinaire und Schwitters lächeln ihren Enkeln. Die große Unruhe bricht wieder aus. Sie sei gepriesen." (Heinz Ohff)33

Der Einfluß des wiederentdeckten Dadaismus, extremer bohemischer Experimente in der Musik (von John Cage u.a.) sowie aggressiver Künstlermanifeste machten sich geltend; die "Situationisten" forderten 1960 "DEN KITSCH, DEN DRECK, DEN URSCHLAMM, DIE WÜSTE [...] Wir sind gegen die Wahrheit, gegen das Glück, gegen die Zufriedenheit, gegen das gute Gewissen, gegen den fetten Bauch, gegen die HARMONIE"34. Randverlage (V.O.Stomps u.a.) und kleine Zeitschriften schössen seit den fünfziger Jahren aus dem Boden, vermehrten sich sukzessive und förderten unbekannte junge Autoren, bohemische Außenseiter, artistische Pornographen (Dieter Hülsmanns).

Wir haben eine gute Zeit! Zeitschriften der jungen Generation zuhauf! Manche gehen nach sechs, sieben Ausgaben wieder ein. Keine Abonnenten, das Taschengeld ist zu Ende. Es zählt der Impuls, es geht um den Humus unserer Literatur [...] Es hat in den letzten Jahren in der Bundesrepublik 300 bis 400 junge Zeitschriften gegeben, die allein mir bekannt wurden [...] Welche Wirkung, die von diesen Zeitschriften ausging! Welche Kraft, sie zu verlegen, welche Hoffnungen! Allen diesen Zeitschriften war eines gemeinsam: das Experiment.35

Als Horst Bingel diesen Rückblick von 1963 zum zweitenmal publizierte (1968), hatte sich die neue literarische Boheme bereits Literaturpreise (Wolf Wondratschek) und führende Plätze auf den Bestsellerlisten erobert. Der wohl erfolgreichste dieser deutschen Roman-Bestseller, Hubert Fichtes »Die Palette« (1968), hat als Gegenstand das gleichnamige Hamburger "Neuboheme"-36 und Gammlerlokal: "das tollste Lokal der Welt. In der Palette gibt es alles. Die Palette ist das beste, was es in Hamburg gibt. Es lohnt sich wieder in Hamburg zu leben, weil es die Palette gibt."37


fussnoten:


  • 1 W.Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 257.
  • 2 Herbert Singer, Der galante Roman, Stuttgart 1961, S. 36.
  • 3 Lavater, Physiognomische Fragmente; zit. nach Roy Pascal, Der Sturm und Drang, Stuttgart 1963, S. 170.
  • 4 Der Große Brockhaus, Bd. 7, Wiesbaden 1955, S. 349.
  • 5 W.Muschg, Tragische Literaturgeschichte, S. 389.
  • 6 Fritz Mauthner, Eine Unterschrift. In: Die Zukunft, Bd. 3, 1893, S. 448, S. 449, S. 450.
  • 7 Arnold Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, S. 204.
  • 8 Strindberg, Werke, Bd. IV: Briefe, München o.J. [1956], S. 263.
  • 9 Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, S. 140f.
  • 10 H. Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, Frankfurt/M 1894, S. 95.
  • 11 O.Panizza an Cäsar Flaischlen, 3.8.1895 (Marbacher Literaturarchiv).
  • 12 Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, S. 49.
  • 13 Leo Berg, Der Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Kunst, München 1892, S. 10.
  • 14 Bahr, Studien zur Kritik der Moderne, S. lof.
  • 15 Fritz Martini, Stichwort Kabarett im Reallexikon der dt. Literaturgeschichte, hrsg. v. Merker-Stammler, 2. Aufl., neu hrsg. v. W.Kohlschmidt u.W.Mohr, 1958ff.
  • 16 Rudolf Kayser, Literatur in Berlin. In: Das junge Deutschland 1918; zit. nach: Expressionismus. Literatur und Kunst 1910-1923, Ausstellungskatalog des Schiller-Nationalmuseums, Nr. 7, 1960, S. 22.
  • 17 A.Döblin, Neue Zeitschriften. In: Die neue Rundschau, 1919; zit. nach: Expressionismus, Ausstellungskatalog, S. 248.
  • 18 Rudolf Kurtz, zit. nach: Expressionismus, Ausstellungskatalog, S. 49.
  • 19 Ferdinand Hardekopf (unter dem Pseudonym Stefan Wronski), Die Aeternisten. Erste Proklamation des Aeternismus, April 1916; zit. nach: Expressionismus, Ausstellungskatalog, S. 125.
  • 20 Rene Schickele, Wie verhält es sich mit dem Expressionismus ? Zit. nach Raabe, Expressionismus, S. 178.
  • 21 Raoul Hausmann, Dadaistische Abrechnung. In: Die junge Kunst, H. i, 1919; zit. nach: Expressionismus, Ausstellungskatalog, S. 232.
  • 22 Kurt Schwitters in seinen Forderungen zur Merzbühne, 1918; zit. nach: Happenings. Fluxus. Pop Art. Nouveau Realisme. Eine Dokumentation, hrsg. v. Jürgen Becker und Wolf Vostell, Reinbek b. Hamburg 1965, S. 7 u. S. 8.
  • 23 Leopold von Wiese, Erinnerungen, Köln u. Opladen 1957, S. 58.
  • 24 Hans Brandenburg, Im Feuer unserer Liebe, München 1956, S. 342f.
  • 25 Ivan Goll, Es gibt kein Drama mehr; zit. nach Pörtner, Literatur-Revolution I, S. 391 u. S. 392.
  • 26 Mühsam, Unpolitische Erinnerungen, S. 31.
  • 27 Vgl. Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 310; vgl. Wilhelm Sternfeld und Eva Tiedemann, Deutsche Exil-Literatur 1933-1945. Eine Bio-Bibliographie. Mit e. Vorwort v. Hanns W. Eppelsheimer, Heidelberg/Darmstadt 1962.
  • 28 Klaus Mann, Der Wendepunkt, S. 311.
  • 29 Ebda., S. 330.
  • 30 Ebda., S. 359-
  • 31 S.Movens. Dokumente und Analysen zur Dichtung, bildenden Kunst, Musik, Architektur, hrsg. v.Walter Höllerer, Franz Mon u. Manfred de la Motte, Wiesbaden 1960, S. 116.
  • 32 Vgl. Happenings, S. 16.
  • 33 Heinz Ohff, Aus dem »Roman der Modernen Kunst«. In: Happenings, S. 369.
  • 34 Manifest der Gruppe Spur, München 1960; vgl. Happenings, S. 47.
  • 35 Horst Bingel, Flugblatt der Galerie Kyklos zur »i.Literarischen Pfmgstmesse Frankfurt am Main«, zit. nach: Literarische Messe 1968, S. 8.
  • 36 Hubert Fichte, Die Palette, Reinbek b. Hamburg 1968, S. 31.
  • 37 Ebda., S. 27.
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