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aus Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933 isbn 3-87294-787-7


Einleitung zum Handbuch

 Diethart Kerbs / Jürgen Reulecke

-Herausgeber des Handbuch der deutschen Reformbewegungen 1880-1933-


Als vor hundert Jahren die Zeitgenossen, vor allem das gebildete Bürgertum und die Intellektuellen, auf ihr 19. Jahrhundert zurück- und in das 20. Jahrhundert vorausblickten, schwankten sie zwischen Beklemmung und Hoffnung, Angst und Stolz, Zorn und Zuversicht. Viele priesen die vergangenen Jahrzehnte als Zeitalter der großen Erfindungen, als Epoche der Industrie und des Weltverkehrs, der rasanten Entwicklung von Gewerbefleiß und Wirtschaft. Andere sahen eher Verluste und neue Bedrohungen, mit denen der Fortschritt bezahlt werden müßte, hatten geradezu apokalyptische Visionen und ahnten gewaltige Zerstörungen. So schrieb z. B. einer der damaligen Zeitgenossen:

Wo aber der Fortschrittsmensch die Herrschaft antrat, deren er sich rühmt, hat er ringsum Mord gesät und Grauen des Todes1] Mancher, der 1913 dieses drastische Urteil des Naturwissenschaftlers, Philosophen und Psychologen Ludwig Klages (1872-1956) in der Festschrift zum Freideutschen Jugendtreffen auf dem Hohen Meißner gelesen hat, mag es für arg übertrieben oder gar für Schwarzmalerei gehalten haben. Am Ende des 20. Jahrhunderts jedoch, eines Jahrhunderts der Weltkriege und voll unerhörter Barbarei weltweit, das nicht zuletzt in mehreren geradezu industriell durchgeführten Massenvernichtungen ganzer Völker die grauenhaften Kombinationsmöglichkeiten von technischem Fortschritt und krasser Inhumanität gezeigt hat, erscheint uns Klages fast wie ein Prophet: Er hatte offenbar bereits jene Szenarien erahnt, für die einerseits manche Angehörigen der älteren Generation in unserer Gesellschaft noch Zeitzeugen sind und die andererseits unsere Massenmedien in Form farbig-aktueller Anschaubarkeit - fiktiv in Filmerzeugnissen aller Art und real in Form von voyeuristischer Berichterstattung über Kriegs- und Greueltaten - tagtäglich bis in die letzte Wohnstube transportieren. Zwar können wir die grundsätzliche Ambivalenz des Fortschritts und dessen Janusgesicht, d. h. die widersprüchlichen Potentiale der Moderne kaum klarer benennen, als es einige hellsichtige Zeitgenossen wie Ludwig Klages schon vor dem Ersten Weltkrieg - selbstverständlich im Sprachstil ihrer Zeit - getan haben, aber wir können jetzt am Jahrhundertende auf inzwischen unendlich viel mehr einschlägige Beispiele verweisen, die jene Ambivalenz belegen.

Wieder einmal ist also ein fin de siecle angesagt, und auch diesmal machen sich - wie um 1900 - bei so manchem Beobachter, der über den Tellerrand der Tagespolitik hinauszublicken bereit ist, Katzenjammer und Pessimismus breit - dies umso stärker, je mehr er den Zufall des Kalenders, der uns ein rundes Datum beschert, als Herausforderung zur Bilanzierung versteht. Und tatsächlich: Niemand würde heute mehr wie weiland Wagner in Goethes Faust rundum behaupten wollen, ein Blick auf die abgelaufene Zeitspanne könne uns zeigen, wie wir's dann zuletzt so herrlich weit gebracht haben. Dennoch ist der Start in unser Jahrhundert selbst von vielen Kritikern keineswegs nur pessimistisch oder gar resignativ erlebt worden, trotz weit verbreiteter Zivilisationsskepsis vor allem in bildungsbürgerlichen Kreisen: Die Wahrnehmung und die Analyse vieler gesellschaftlicher Bedrük-kungen und Bedrohungen lösten gleichzeitig auch Tatwillen und Reformbereitschaft aus. Wie das im einzelnen aussah, wer mit welchen Konzepten auf welchen Wegen welche Ziele erreichen wollte und wo dann die eingeschlagenen Wege tatsächlich hinführten, das ist das Thema dieses Handbuchs und Nachschlagewerks. Allerdings muß an dieser Stelle deutlich betont werden, daß dessen Gegenstand nicht im strengen Sinn politische oder sozialpolitische Aufbruchsbestrebungen sind. Das heißt, daß hier z. B. weder anarchistische Zirkel und die Oppositionsbewegungen in den Parteien und politischen Verbänden, wie z. B. die sog. Jungen oder die Revisionisten in der deutschen Sozialdemokratie 2], noch die verschiedenen bürgerlich-sozialreformerischen Organisationen wie der Verein für Socialpolitik oder die Gesellschaft für Soziale Reform 3] vorgestellt werden, auch nicht die Friedensbewegung und die Kriegsdienstgegner einerseits 4] und solche staatsfrommen Mobilisierungsbestrebungen wie der Zentralausschuß für Jugend- und Volksspiele, der Jungdeutschlandbund andererseits. 5] Statt-dessen stehen die gewissermaßen aus dem Schöße der Gesellschaft entstandenen Bewegungen im Mittelpunkt, Bewegungen, die sich in je spezifischer Weise auf die Reformierung des individuellen Lebens bzw. des Lebensstils der Menschen konzentrierten, die die Veredelung, Emanzipation und Höherentwicklung der Individuen anstrebten und Vereinigungen bzw. Einrichtungen im wesentlichen zu diesem Zweck schaffen wollten. 6] Daß davon dann auch die Gesellschaft als ganze - das Volk, die Nation, die Volksgemeinschaft, die Rasse - Gewinn haben würde, war die selbstverständliche Überzeugung der meisten Protagonisten dieser Bewegungen. Bewegung heißt hier, daß neben dem Aufbruchs- und Erneuerungscharakter der Gruppierungen auch ein gewisses Maß an Organisation vorausgesetzt wird und somit das u.U. zwar spektakuläre, aber isoliert bleibende Auftreten einzelner Propheten ausgeblendet bleibt. 7]

Wenn Geschichte - so der Kulturhistoriker Johan Huizinga (1872-1945) - die Art und Weise ist, wie eine Gesellschaft sich über ihre Vergangenheit Rechenschaft ablegt, dann liegt es gerade an der Schwelle zum 21. Jahrhundert nahe, nachzufragen, welches historische Schicksal all jene Reformbewegungen und Problemlösungsentwürfe gehabt haben, die in den Jahrzehnten um 1900 als Reaktion auf die Herausforderungen infolge von rascher Industrialisierung und Technisierung, von Urbanisierung, Unterhaltungsindustrie und Massenzivilisation entstanden sind: Schließlich ist deren Ähnlichkeit mit manchen aktuellen Bestrebungen ganz offensichtlich; und wenn man auch nicht platt aus den Zielsetzungen und Aktivitäten, Irrwegen und Sackgassen, Erfolgen und Mißerfolgen der damaligen Bewegungen eindeutige Handlungsrezepte für heute ableiten kann, so mag es dennoch sein, daß sich aus den historischen Befunden einiges an Erkenntnis darüber gewinnen läßt, wie man das immer wieder so inflationär angepriesene Konzept der Reform - was auch immer die Zeitgenossen jeweils darunter verstanden haben 8] - an konkreten Beispielen analysieren, kritisieren und vielleicht auch weiterentwickeln kann.

An dieser Stelle können wir nicht jenes immens facettenreiche sozial-, kultur- und mentalitätsgeschichtliche Klima detailliert darstellen, in dem seit den 1880er Jahren die im folgenden vorgestellten Bewegungen gedeihen konnten: Viele Hinweise finden sich dazu in den einzelnen Beiträgen bzw. in den kurzen Einleitungen zu den sieben Hauptkapiteln. Außerdem liegt aus den letzten rund zwei Jahrzehnten eine Fülle leicht greifbarer einschlägiger Literatur, oft in Taschenbuchformat vor, in der man sich über jenes Klima gründlich informieren kann. 9] Auch ist vor kurzem ein voluminöses Handbuch erschienen, mit dem es mancherlei gemeinsame Schnittflächen gibt und in dem nicht zufällig eine Reihe unserer Autoren und Autorinnen ebenfalls mit Artikeln vertreten ist: Gemeint ist das Handbuch zur 'völkischen Bewegung' 1871-1918, herausgegeben von Uwe Puschner, Walter Schmitz und Justus H. Ulbricht. 10] Zu erwähnen sind weiterhin die beiden zeitlich einschlägigen Bände IV (1870-1918) und V (1918-1945) des Handbuchs der deutschen Bildungsgeschichte 11] sowie das Handbuch der Religionen, Kirchen und Glaubensgemeinschaften in Deutschland, das seit kurzem als Loseblattwerk von Michael Klöcker und Udo Tworuschka herausgegeben wird. 12] Und noch ein weiterer Hinweis: Gerade ist in erheblich ergänzter Form ein lange vergriffenes Werk neu herausgebracht worden, das auf dem Wege über eine Zentralfigur der Lebensreform, den Maler Fidus (= Hugo Höppener, 1868-1948), das Spektrum bürgerlicher Fluchtbewegungen unter dem Gesichtspunkt ihrer ästhetischen Praxis erschließt. 13]

Einige exemplarische Hinweise auf die Wahrnehmungen und Ängste hellsichtiger Menschen vor dem Ersten Weltkrieg sollen hier aber dennoch gegeben werden, um das große Engagement verständlich zu machen, das viele der Reformbewegungen beflügelte. Der einleitend zitierte Text Mensch und Erde von Ludwig Klages aus dem Jahre 1913 ist ein Musterbeispiel dafür, zu welchen Analysen man damals bereits kommen konnte. 14] Wer ihn heute liest und sich nicht vom Pathos jener Zeit irritieren läßt, der findet Erstaunliches: Da ist von den wetterfesten Phrasen jener Fortschrittler die Rede, die jeder Kritik an ihrem ausgreifenden Handeln immer nur die angeblichen Notwendigkeiten wirtschaftlicher Entwicklung, die Erfordernisse des 'Nutzens' und die unvermeidlichen Kosten des technischen Fortschritts entgegenhalten. Letztlich laufe aber - so Klages - der sog. Fortschritt auf Zerstörung hinaus, wobei Methode im Wahnwitz der Zerstörung stecke: Unter dem Vorwand moderner Rationalität werde die Vielfalt des Lebens immer mehr vernichtet, und dies müsse in letzter Konsequenz auch zu einer Selbstzersetzung des Menschentums führen. 15] Der Fortschritt, klagt der Autor,

rodet Wälder, streicht die Tiergeschlechter, löscht die primitiven Völker aus, überklebt und verunstaltet mit dem Firnis des Industrialismus die Landschaft und entwürdigt, was er von Lebewesen noch überläßt, gleich dem 'Schlachtvieh' zur bloßen Ware, zum vogelfreien Objekt 'ra-tioneller' Ausbeutung. In seinem Dienste aber steht die gesamte Technik und in deren Dienste wieder die weitaus größte Domäne der Wissenschaft.

Typisch für den Autor wie für viele weitere Ideenlieferanten der Reformbewegungen war ein bürgerlicher Antikapitalismus: Alle nur seelisch faßbaren Werte seien einer völlig gehaltlosen Macht gewichen, die sich sichtbar verkörpert in Geldbesitz, und daß die glänzenden Errungenschaften der Physik und Chemie einzig dem Kapital (dienen), darüber besteht für denkende Köpfe heute kein Zweifel mehr. 16] Und noch zwei weitere Argumentationslinien verdienen Erwähnung: Zum einen kritisiert Klages massiv die im Zuge eines sich ausbreitenden Sozialdarwinismus aufgekommene Irrlehre vom Kampf ums Dasein als einem angeblich natürlichen Grundgesetz. Diese Lehre diene nur zur Legitimierung von Eigensucht und rücksichtsloser Durchsetzung von Sonderinteressen und produziere ein wüstes Ringen um Macht, das auf ein geradezu apokalyptisches Ende hinauslaufe. 17] Zum anderen appelliert Klages - und hier sieht er nun doch einen Hoffnungsschimmer - an die junge Generation, die noch zum Fragen bereit und zu einer inneren Lebenswende fähig sei: Es gelte, den Schleier des Fortschrittsoptimismus zu lüften und die bedrohliche Selbsttäuschung aufzudecken, die er verhüllt. . Und im Rückgriff auf die unvergeßlichen Träume, aber auch weisen Vorausahnungen der Romantik zitiert er warnend Eichendorff: Denn aus dem Zauberrauche unserer Bildung wird sich ein Kriegsgespenst gestalten, geharnischt, mit bleichem Totengesicht und blutigen Haaren. 18]

Kriegsahnungen und apokalyptische Visionen waren damals durchaus keine Seltenheit 19]: Auch der fast gleichaltrige Gustav Wyneken (1875-1964), Philosoph, streitbarer Schulreformer und Propagandist einer eigenständigen Jugendkultur, hatte bei dem Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner im Oktober 1913 seine jugendlichen Zuhörer aufgefordert, sich nicht zum Waffengang mit einem Nachbarvolke verführen zu lassen, und sorgenvoll ausgerufen: Möge nie der Tag erscheinen, wo wir gezwungen sind, den Krieg in die Täler eines fremden Volkes zu tragen!20] Doch Appelle wie diese hinderten dann die meisten freideutschen Studenten, Wandervögel und jungen Lebensreformer im August 1914 nicht, dennoch meist begeistert, auf jeden Fall aber von ernstem Pflichtgefühl beseelt auf die Große Fahrt in den Orlog zu gehen. 21] Walter Flex hat ihnen in seinem nach dem Krieg mentalitätsgeschichtlich äußerst wirkungsmächtigen Büchlein Der Wanderer zwischen beiden Welten ein - aus der Rückschau in mancher Hinsicht verhängnisvolles - Denkmal gesetzt. 22] Ludwig Klages gehörte dagegen bei Kriegsausbruch zu jener winzigen Minderheit, die den Krieg nachdrücklich ablehnte: Ich werden den Alpdruck des Entsetzens nicht los bei dem Gedanken, daß die Blüte eines der größten Völker schonungslos hingeopfert wird, schrieb er am 18. September 1914. 23] Voll Abscheu wandte er ein Jahr später Deutschland den Rücken zu und ließ sich in der Schweiz nieder.

Freilich sollten aber auch, was die Weiterentwicklung von Klages nach dem Ersten Weltkrieg angeht, nicht nur seine weitsichtigen Analysen der Massenzivilisation und seine maßgeblichen Impulse für die Charakterologie, die menschliche Verhaltenslehre und die Graphologie erwähnt werden - Theodor Heuss wies aus Anlaß von Klages' 80. Geburtstag 1952 diesen Impulsen eine bewegende, ja erregende Kraft zu 24] -, sondern auch seine immer gehässiger werdenden antisemitischen Äußerungen. Mit dieser Haltung kann er zwar nicht platt als geistiger Wegbereiter des Nationalsozialismus abgestempelt werden, wie man das auch für manche anderen Zivilisationskritiker und Lebensreformer aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts nicht tun sollte, deren Ideen die Nationalsozialisten selektiv für sich nutzbar machten. Aber: Es zeigen sich an diesem - wie es ein Kenner von Klages einmal geschrieben hat - schändlich(en), unentschuldbar(en), eigentlich auch unerklärbar(en) Verhalten 25] des späteren Klages dennoch exemplarisch grundsätzliche Widersprüche sowie die Ausbeutbarkeit und ganz besonders die z. T. von vornherein mitgegebenen Ambivalenzen des Gedankenguts, _das viele der im folgenden vorzustellenden Bewegungen auszeichnete - Ambivalenzen, die nicht selten in gefährliche, weil inhumane Irrwege einmündeten.

Was das Spektrum ihrer Zukunftsentwürfe angeht, müssen sich offenbar alle modernen Gesellschaften - manchmal mehr, zeitweise weniger ausgeprägt - mit drei konkurrierenden Optionen auseinandersetzen: Eine konservative, gelegentlich restaurative oder reaktionäre Stoßrichtung zielt auf die Absicherung des Status quo oder propagiert gar die Rückkehr zu angeblich früher besseren Zuständen; eine revolutionäre Richtung will dagegen mehr oder weniger radikal diesen Status quo beseitigen und die geistige, rechtliche und/oder institutionelle Basis der Verhältnisse aufheben, vor allem aber diesen Verhältnissen ihre wirtschaftlichen und politischen Grundlagen entziehen, um die Möglichkeit eines grundlegenden Neuanfangs zu schaffen. Zwischen diesen beiden extremen Polen argumentiert und engagiert sich die heterogene Gruppe der Reformer aller Art, die angesichts sozio-ökonomischer und kultureller Wandlungen oder angestoßen durch neue Ideen einen evolutionären Prozeß favorisieren. 26] Häufig ging es dabei um die Suche nach einem sog. Dritten Weg, der aus einer festgefahrenen Zweifrontensituation auf neue Art zu Freiheit und Sonne führen sollte.

Ernsthafte Reformer sitzen allerdings oft zwischen allen Stühlen, und umgreifende Reformen durchsetzen zu wollen, gleicht allzu meist einem Bohren in dicken Brettern, dies trotz der Tatsache, daß der Begriff Reform schon früh zu einem politischen Verheißungsbegriff ersten Ranges im Parteiengerangel geworden ist. Reformer lassen sich zudem leicht kritisieren, karikieren und ironisieren: Für die einen sind sie Traumtänzer und illusionäre Idealisten ohne Bezug zur harten Realität, für die anderen allenfalls halbherzige Weltverbesserer, belächelte Gutmenschen oder gar Feiglinge, denen es an Mut oder Ein-sicht fehlt, den wirklich radikalen großen Sprung zu wagen. So haben bereits in ihrem Kommunistischen Manifest von 1847/48 Karl Marx und Friedrich Engels dieser Spielart der Bourgeoisie vorgeworfen, sie wolle bloß die bestehende Gesellschaft beibehalten mit Abzug der sie revolutionierenden und sie auflösenden Elemente, und zählten dazu Ökonomisten, Philantrophen, Humanitäre, Verbesserer der Lage der arbeitenden Klassen, Wohltätigkeitsorganisierer, Abschaffer der Tierquälerei, Mäßigkeitsvereinsstifter, Winkelreformer der buntscheckigsten Art. 27] Auch wenn sich bis heute die verwendeten Begriffe im einzelnen geändert haben: Die oben angesprochene Grundkonstellation für Menschen, die sich für umfassendere soziale, politische, ökonomische Reformen oder auch nur für Alternativen in Teilbereichen des gesellschaftlichen und individuellen Lebens eingesetzt haben/einsetzen, ist in den rund eineinhalb Jahrhunderten der Diskussion über solche Reformen weitgehend gleichgeblieben! Dennoch: Eben in der vermittelnden Funktion zwischen jenen beiden bequemeren Positionen, deren eine die Macht des Faktischen, deren andere die rigorose moralische Überlegenheit für sich reklamiert, liegt die wichtige, oft unterschätzte Bedeutung des Reformerischen.

So sehr auch immer wieder Sonderlinge und betontes Außen-seitertum in einzelnen Reformbewegungen anzutreffen waren, so undankbar auch das Geschäft der ernstzunehmenden Reformer als Mahner und Anreger oft war, und so begrenzt ihre Erfolge auch ausfielen: Ohne sie fehlte jenes entscheidende Element allen gesellschaftlichen Fortschreitens, das sich auf die abstrakten Nenner Utopie und Alterität, verstanden als Fähigkeit zum Denken in Alternativen, bringen läßt. Reformbewegungen können (und wollen oft) Stachel im Fleisch ihrer Zeit sein; ihre Forderungen können provozieren, zur Stellungnahme zwingen und den Blick auf neue Möglichkeiten der Lebensund Gesellschaftsgestaltung jenseits des Eingefahrenen und ungeprüft Weiterpraktizierten lenken. Mit anderen Worten: Sie erhalten günstigenfalls in der Gesellschaft die Fähigkeit zum Umdenken und Umlernen bis hin zur tatsächlichen Veränderung von Einstellungen und Verhaltensweisen. Damit ist jedoch kein pauschal positives Werturteil über die verschiedenen Reformbewegungen per se gefällt. Ausdrücklich muß auch hier an die oben schon angesprochene Ambivalenz und nicht seltene Widersprüchlichkeit mancher Bewegungen erinnert werden. 28] Jede dieser Bewegungen und jeder Einzelne, der sich einer solchen Bewegung angeschlossen hat, muß sich deshalb immer wieder neu der Frage nach der humanen Qualität und Verallgemeinerbarkeit ihres/seines Menschenbildes stellen, das hinter den jeweiligen Reformzielen und -bestrebungen steht. Dieser Frage nachzugehen, ist letztlich auch eine Empfehlung an die Leser und Benutzer dieses Handbuchs, wenn sie sich für die Geschichte und die Wirkungen einzelner der hier dargestellten Bewegungen interessieren. Eins ist wohl sicher: Die Grundfrage nach dem Verhältnis von Reform und Revolu tion wird eine epochale Herausforderung von erheblicher historischer Tiefe und utopischer Brisanz bleiben. Sie kann hier auch nicht ansatzweise ausdiskutiert werden 29], zumal - wie bereits erwähnt - die im engeren Sinne politischen Bewegungen nicht in diesem Handbuch behandelt werden.


Fussnoten:

  • 1 Ludwig Klages: Mensch und Erde. In: Freideutsche Jugend. Zur Jahrhundertfeier auf dem Hohen Meißner 1913. Jena 1913. Hier zitiert nach dem Faksimileab-druck in: Winfried Mogge; Jürgen Reulecke (Hg. ): Hoher Meißner 1913. Der Erste Freideutschejugendtag in Dokumenten, Deutungen und Bildern. Köln 1988, S. 173.
  • 2 S. dazu Peter Friedemann (Hg. ): Materialien zum politischen Richtungsstreit in der deutschen Sozialdemokratie 1890-1917 (2 Bde. ). Frankfurt/M. u. a. 1977; vgl. auch diverse einschlägige Artikel in dem in der DDR von einem Autorenkollektiv hg. Handbuch der Geschichte der bürgerlichen Parteien und anderer bürgerlicher Interessenorganisationen vom Vormärz bis zum Jahre 1945 (2 Bde. ). Leipzig 1968/1970.
  • 3 S. Rüdiger vom Bruch (Hg. ): Weder Kommunismus noch Kapitalismus. Bürgerliche Sozialreform in Deutschland vom Vormärz bis zur Ära Adenauer. München 1985, sowie Ursula Ratz: Sozialreform und Arbeiterschaft. Die Gesellschaft für Soziale Reform... , Berlin 1980.
  • 4 S. Karl Holl; Wolfram Wette (Hg. ): Pazifismus in der Weimarer Republik. Beiträge zur historischen Friedensforschung. Pader born 1981; außerdem: Helmut Donat; Karl Holl (Hg. ): Die Friedensbewegung. Organisierter Pazifismus in Deutschland, Osterreich und der Schweiz. Düsseldorf 1983.
  • 5 S. z. B. dazu Thomas Nipperdey: Jugend und Politik um 1900. In: ders.: Gesellschaft, Kultur, Theorie. Göttingen 1976, S. 338-359; Klaus Saul: Der Kampf um die Jugend zwischen Volksschule und Kaserne. Ein Beitrag zur Jugendpflege im Wilhelminischen Reich 1890-1914. In: Militärgeschichtliche Mitteilungen. Jg. 6, 1971, S. 97-143; Jürgen Reulecke: Bürgerliche Sozialreformer und Arbeiterjugend im Kaiserreich. In: Archiv für Sozialgeschichte (Bd. XXII). 1982, S. 299-329.
  • 6 Der Begriff Lebensreform bezeichnet nur einen, wenn auch zentralen Kernbereich dieses Spektrums; dazu Wolfgang R. Krabbe: Gesellschaftsveränderung durch Lebensform. Göttingen 1976; zuletzt Eva Barlösius: Naturgemäße Lebensführung. Zur Geschichte der Lebensreform um die Jahrhundertwende. Frankfurt/M.; New York 1997; s. außerdem Gottfried Küenzlen: Der Neue Mensch. Zur säkularen Religionsgeschichte der Moderne. München 1994.
  • 7 S. dazu Ulrich Linse: Barfüßige Propheten. Erlöser der zwanziger Jahre. Berlin 1983.
  • 8 Zum langfristigen Begriffswandel des Begriffs Reform s. den Artikel von Eike Wolgast: Reform, Reformation. In: Otto Brunner; Werner Conze; Reinhart Koselleck (Hg. ): Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland (Bd. 5). Stuttgart 1984, S. 313-360; s. auch Martin Greiffenhagen (Hg. ): Zur Theorie der Reform. Entwürfe und Strategien. Heidelberg; Karlsruhe 1978. Weitere Ausführungen s. u. in dieser Einleitung!
  • 9 Z. B. Klaus Vondung (Hg. ): Das wilhelminische Bildungsbürgertum. Zur Sozialgeschichte seiner Ideen. Göttingen 1976; Christoph Conti: Abschied vom Bürgertum. Alternative Bewegungen in Deutschland von 1890 bis heute. Reinbek 1984; Corona Hepp: Avantgarde. Moderne Kunst, Kulturkritik und Reformbewegungen nach der Jahrhundertwende. München 1987; August Nitschke u. a. (Hg. ): Jahrhundertwende. Der Aufbruch in die Moderne 1880-1930 (2 Bde. ). Reinbek 1990; Kaspar Maase: Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850-1970. Frankfurt/M. 1997; Carola Groppe: Die Macht der Bildung. Das deutsche Bürgertum und der George-Kreis 1890-1933. Köln; Weimar; Wien 1997.
  • 10 Erschienen München i. a. 1996.
  • 11 Christa Berg (Hg. ): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (Bd. IV). München 1991; Dieter Langewiesche; Heinz El mär Tenorth (Hg. ): Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte (Bd. V). München 1989.
  • 12 Erscheint als Grundwerk mit jährlich 2 3 Nachlieferungen seit 1997 (Verlagsort Landsberg/ Lech).
  • 13 Janos Frecot; Johann Friedrich Geist; Diethart Kerbs Fidus 1868-1948. Zur ästhetischen Praxis bürgerlicher Flucht bewegungen (Neuauflage). Hamburg 1997 (Erstausga be München 1972).
  • 14 S. Anm. 1. Zu Klages s. Hans Eggert Schröder: Ludwig Klages zu seinem hundertsten Geburtstag am 10. 12. 1972. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (Bd. 4). Jg. 1972, S. 140-145; s. auch Hans Kasdorff: Ludwig Klages im Widerstreit der Meinungen. Eine Wirkungsgeschichte von 1895-1975. Bonn 1978.
  • 15 Klages, Mensch und Erde, S. 180 (s. Anm. 1).
  • 16 Ebd., S. 185.
  • 17 Ebd, S. 182
  • 18 Ebd., S. 188 (Klages zitiert hier eine Passage aus Joseph von Eichendorffs Roman Ahnung und Gegenwart aus dem Jahre 1815).
  • 19 S. dazu Klaus Vondung: Die Apokalypse in Deutschland. München 1988.
  • 20 Zitiert aus der Rede Wynekens am 12. 10. 1913 auf dem Hohen Meißner, abgedruckt in Mogge; Reulecke, Meißner (s. Anm. 1), S. 294.
  • 21 Winfried Mogge: Wandervogel, Freideutsche Ju gend und Bünde. In: Thomas Koebner u. a. (Hg. ): Mit uns zieht die neue Zeit. Der Mythosjugend. Frankfurt/M. 1985, S. 179 ff.; s. auch Gudrun Fiedler: Jugend im Krieg. Bürgerlichejugendbewegung, Erster Weltkrieg und sozialer Wandel 1914-1923. Köln 1989, sowie Dietmar Schenk: Die Freideutsche Jugend 1913-1919/20. Eine Jugendbewegung in Krieg, Revolution und Krise. 1991.
  • 22 Zu Walter Flex' Buch -erstmalig erschienen München Oktober 1916 - als Kultbuch der Nachkriegszeit s. Justus H. Ulbricht: Der Mythos vom Heldentod - Entstehung und Wirkung von Walter Flex' Der Wanderer zwischen beiden Welten. In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (Bd. 16). Jg. 1986/87, 8. 111-156.
  • 23 Zit. bei Schröder, Klages (s. Anm. 14), S. 141.
  • 24 Ebd., S. 144.
  • 25 Otto Weise: Ludwig Klages in unserer Zeit (Rezension des Buches von Kasdorff, s. Anm. 14). In: Jahrbuch des Archivs der deutschen Jugendbewegung (Bd. 12). Jg. 1980, S. 225-231, hier S. 226.
  • 28 Grundsätzlich dazu Küenzlen, Der Neue Mensch (s. Anm. 6).
  • 29 S. dazu Christian Graf von Krockow: Reform als politisches Prinzip. München 1976, und Martin Greiffenhagen: Überlegungen zum Reformbegriff. In: ders. (Hg. ): Zur Theorie der Reform (s. Anm. 8. ), S. 7-34, sowie - exemplarisch am Beispiel des Central-vereins für das Wohl der arbeitenden Klassen -Jürgen Reulecke: Sozialer Frieden durch soziale Reform. Wuppertal 1983. Vgl. auch Stefan Ruß-Mohl: Dramaturgie politischer Reformen. Reformkonjunkturen, neue soziale Bewegung und politisches Krisenmanagement. In: Aus Politik und Zeitge schichte. Jg. 26, 1982, S. 3-25.
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