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"Der Blick ist gleichzeitig und überall"

Er drehte Das Brot der frühen Jahre und war Urvater des Neuen Deutschen Films

Es ist an der Zeit, dem Neuen Deutschen Film einen Gedenkstein zu errichten. Auf dem zu lesen wäre: Empfangen am 28. Februar 1962 (mit dem Oberhausener Manifest), geboren am 26. Juni 1966 (als Törless und Es Bundesfilmpreise erhielten), verwaist am 10. Juni 1982 (mit Fassbinders Tod) - und beerdigt am 13. Juli 2002. Oberhausen würde den Stein beanspruchen. Er könnte auch in Münchens Tengstraße stehen, wo im Chinalokal "Hongkong" das Manifest ausgeheckt wurde. Oder in Berlin, wo sich zwei Monate davor der Geist des Manifestes materialisierte, bevor er in Worte gefasst war: Dort drehte Herbert Vesely zur Jahreswende 1961/62 mit Das Brot der frühen Jahre den ersten "Neuen deutschen Film". Ein Pionier. Ein Kamikaze.

Denn der deutsche Film hatte viele Probleme. "Das Größte war der Schatten einer Vergangenheit, der sich über jeden Mut zu etwas Neuem legte," schrieb der wegen Hitlers nach Hollywood emigrierte Regisseur Douglas Sirk. "Die Fantasie verkroch sich in den Ruinen beschämender und banaler Erinnerungen und schien es für immer aufgegeben zu haben, aus dem Zustand lähmender Verunsicherung herauszufinden."

Die Ufa stand vor der Selbstauflösung, das Kinopublikum war binnen fünf Jahren von 817 auf 517 Millionen geschrumpft, die Jury des Bundesfilmpreises weigerte sich, eine Auszeichnung zu vergeben, und der Publizist Georg Ramseger fragte in seiner Preisrede: "Ist der deutsche Film am Ende?" Und wenn der 22-jährige Volker Schlöndorff, Regieassistent bei Resnais und Malle, erklärte, "Ich werde zurück gehen, um in meinem Land Kino zu machen - das es dort nicht gibt", dann sprach daraus jugendlicher Trotz wider besseres Wissen. Die am meisten zitierte Metapher für das bundesdeutsche Kino war die einer Wüste, wo Altproduzenten und -stars in bequemen Oasen der Restauration saßen und die Verwüstung um sich herum leugneten. Was heute als Förderzirkus abgetan wird, erschien noch nicht einmal als Fata Morgana am Horizont.

Einen unabhängigen Spielfilm zu planen, bedeutete eine endlose Durststrecke. Ein einziger hatte das auf sich genommen, der Stuttgarter Nervenarzt Ottomar Domnick, mit seinem experimentellen Jonas (1957), einem Film über die Liebe eines Arbeiters und einer Verkäuferin, die am Kriegstrauma des Mannes scheitert. Regieberater war ein 25-jähriger Wiener namens Herbert Vesely, der mit seinen expressionistisch, existenzialistisch, surrealistisch beeinflussten Kurzfilmen (An diesen Abenden) durch die Filmclubs zog und von einem anderen Kino träumte.

Er träumte nicht nur, sondern gründete 1957 die Produktionsfirma "Filmforum". Drei Jahre später stand sein Projekt - ein Drehbuch (nach Bölls Das Brot der frühen Jahre), ein Produzent (Hans-Jürgen Pohland), ein Kameramann (Wolf Wirth, bald Lehrmeister einer Generation von Bildgestaltern).

Er hatte Christian Doermer (einen populären, bisher eher braven Darsteller), Vera Tschechowa (Elvis' Schwarm während seiner deutschen Militärzeit) sowie ein Verbindungsglied zu dem, was parallel in Frankreich brodelte, zur "Nouvelle Vague": Zum unvergesslichen Schluss von Chabrols "Die Unbefriedigten" blickt eine Frau endlos in die Kamera, während sie mit einem gesichtslosen Mann tanzt: Karen Blanguernon. Auch im "Brot" wirkt dieses Gesicht. Doermer holt eine Studentin vom Bahnhof ab, am selben Tag wirft er sein Leben um, das auf Elektromechaniker, Heirat mit der Chef-Tochter und Betriebsfeste programmiert war.

Diesen Ausbruch erzählt Vesely radikal anders als der lineare Böll: "Das Vergangene und das Gegenwärtige durchdringen sich", sagt er. "Der Blick ist gleichzeitig und überall. Keine Handlung mit Rückblenden, sondern gleichzeitige Abläufe: Reflexionen, Möglichkeiten, Wirklichkeiten."

Als 26 Jung-Filmer (darunter Vesely, Pohland, Wirth und Doermer) in Oberhausen "Der alte Film ist tot. Wir glauben an den neuen" erklärten, hatte noch niemand das "Brot" gesehen, doch plötzlich lastete der ganze Anspruch der Rebellen auf diesen Schultern; die "Bild"-Zeitung ("Wir greifen nach der Goldenen Palme") bürdete ihm gar nationale Verantwortung auf.

Nach der Premiere in Cannes zeigte sich die heimische Kritik befremdet, die französische beflügelt: "Veselys Persönlichkeit ist unverkennbar. Und das ist etwas, das wir aus Deutschland seit langer Zeit nicht mehr kennen", lobte der "Figaro". Zu Hause erntete "Brot" fünf Bundesfilmpreise, doch als auf den Rufer in der Wüste nichts folgte, begann Opas Kino über "Bubis Kino" zu spotten und täuschte sich mit jedem neuen Wallace übers eigene Koma hinweg.

Im Gegensatz zur "Nouvelle Vague", die ein Jahrzehnt in den "Cahiers du Cinema" eine gemeinsame Ästhetik eingeübt hatte, waren die Oberhausener ein versprengter Haufen, ein jeder auf der Suche nach Selbstausdruck. Auch als die Bäche kreativer Energie 1966 endlich zur Welle zusammenflossen, bestand der Urquell auf seinem eigenen Weg: Herbert Vesely drehte nur noch vier Kinofilme - darunter Der kurze Brief zum langen Abschied - und hielt sich ansonsten mit TV-Futter über Wasser.

Sein Tod, 71jährig, in München, zieht den Schlussstrich unter ein glorreiches Kapitel deutscher Filmgeschichte und provoziert die Frage an das aktuelle Kapitel: Wo bleiben die "unverkennbaren Persönlichkeiten" von heute? Dass sich die unverwechselbaren Talente an den Fingern einer Hand abzählen lassen, kann angesichts von Fernsehgeldern, Fördergeldern, Börsengeldern und Fondsgeldern an fehlenden Strukturen nicht liegen. Vielleicht täte etwas mehr Wüstendurst gut. Doch das ist ein weites, ein anderes Feld.

(Hanns-Georg Rodek) ("Die Welt", 5. September 2002)

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