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Gusto Gräser ist auf Besuch und es ist Revolution in München... Oskar Maria Graf (1894-1967)...aus „Wir sind Gefangene“ (e.A. 1927) XXIII IM STURM UND IM SUMPF Das Fräulein fuhr eines Tages nach Berlin zu seinen Eltern. Lästig, nun hatte ich keinen Menschen mehr, mit dem ich mich von Zeit zu Zeit aussprechen konnte. Pegu war schon länger in Blankenburg und tauchte nur hie und da auf. Zu meinem klumpfüßigen Zimmerherrn war eine Berliner Freundin gekommen, die mit ihm droben im kleinen Kämmerchen zusammen hauste. Der Mann war den ganzen Tag irgendwo im Landtag oder in der Stadt, seine Geliebte immer mit ihm. Um Schorsch waren stets die merkwürdigsten Leute. Allein traf ich ihn nie. Ein halbfertiges Ölbild stand auf seiner Staffelei im Atelier, er hatte die Arbeit liegen gelassen, und der Naturapostel Gusto Gräser logierte bei ihm. Der war gekommen und nicht mehr weggegangen. Die meiste Zeit lag er faul auf dem Diwan, klagte, er sei krank, und wenn er sich aufrichtete, fing er an in predigerhaftem Ton allerhand Stellen aus chinesischen Philosophen, aus Nietzsches Zarathustra und aus seinen eigenen Aufzeichnungen zu zitieren. Er war Vollblutvegetarier, hatte lange, wallende Christushaare, einen ebensolchen Voll- und Schnurrbart, trug eine Art Toga aus Sackleinwand auf dem Leib, die mit Holzstäbchen zusammengehalten war, darüber einen breiten Ledergürtel, darunter eine kurze Hose und an den Füßen Ledersohlen, die er mit Spagatschnüren festgebunden hatte. Er aß nur Obst, Gemüse und Brot und trank Wasser. So sanft war er, daß er nicht einmal seine Läuse und Flöhe tötete; so völlig hatte er sich der Natur genähert, daß er wie eine Ziege stank. Er gab vor, sich nur in Quellwasser zu waschen, und da es in der Stadt keine Quelle gab, wusch er sich überhaupt nie. Er predigte selbstverständlich gänzliche Abkehr von der Zivilisation, trug in seinem umgehängten Lederbeutel braune, viereckige Blätter, auf denen seine Ideen in aphoristischer Form gedruckt waren und verkaufte oder verteilte diese ab und zu. Ich kam einmal zu Schorsch und erschrak förmlich über die Verwüstung seines Ateliers. Schweigend und feindlich glotzte ich Gräser an. Mein Freund zog sich an, um mit mir zu gehen. Er knöpfte sich die Weste ein. »Knöpfe ... Das ist ... a-ah ... das ist sinnwidrig ... sehr sinnwidrig«, murmelte der Apostel. »Komm«, sagte Schorsch und ging mit mir. »Mensch, was hast du denn da für ein Ungeziefer bei dir?« Fragte ich ihn auf der Treppe. »Ich bring’ ihn nicht mehr los«, war die Antwort. »Was? ... Schmeiß ihn doch einfach hinaus!« rief ich. »Heut’ Abend hat er eine Versammlung ... Da gehn wir alle hin«, erzählte mein Freund statt jeder Antwort. Ich polterte. Wir trafen einen anderen Bekannten Schorschs, sehr elegant, mit Hornbrille, ungewöhnlich breitmäulig lächelnd. Ein beschäftigungsloser, spintisierender, literarischer Adeliger aus Berlin war es, der auch »in Revolution machte«. Äußerst beweglich war er, einen koketten Gang hatte er. »Ado von Achenbach«, stellte Schorsch ihn mir vor. Wir gaben uns die Hände. Der kleine Mann fing sofort zu diskutieren an. Ich erinnerte mich, ihn einmal im Simplizissimus und in der früheren Wohnung des Holländers gesehen zu haben. Er erzählte, im Rätekongreß sei vor einigen Tagen eine Polizeiabordnung gewesen und habe Mühsam und Levien verhaftet, nach einigen Stunden aber wieder entlassen. »Überhaupt – jetzt geht’s wieder aufs Letzte ... Entweder Räterepublik oder Reaktion ... Die Gewerkschaftler und Mehrheitssozialisten hintertreiben schon wieder ... Es ist noch immer Diktatur des Proletariats, aber kein Mensch kennt sich aus«, redete er weiter und reichte uns auswärtige Zeitungen. Die schrecklichsten Lügen standen darin. Der Vorwärts erzählte von einem Bürgerkrieg in München, von einem mörderischen Gemetzel der Münchner Unabhängigen und Spartakisten unter den Führern der Bayrischen Sozialdemokratie. Die Vossische Zeitung erklärte Arco, den Mörder Eisners, als unzurechnungsfähig. Andere Blätter stellten es so hin, als sei in München kein ruhiger Bürger seines Lebens mehr sicher. Das Berliner Tageblatt sprach schon von einer Räterepublik Bayern. Die Rumpfregierung war noch da und arbeitete mit dem Zentralrat zusammen. Noch war alles unentschieden. Haussuchungen nach aufgespeicherten Lebensmitteln wurden gemacht, ein Erlass Tollers hatte angeraten, die großen Hotels zu inspizieren und dort beschlagnahmte Vorräte den Lokalen der Arbeiterviertel zuzuteilen, eine Aufforderung an alle Bürger zur Waffenablieferung war ergangen, sonst nichts. Kreß von Kressenstein, der deutschnationale Verleger Lehmann, höhere Offiziere, Studenten und sonstige rechtsstehende Persönlichkeiten waren als Geiseln im Hotel Bayerischer Hof. »Oberst Epp sitzt in Coburg und wirbt Freiwillige für die Weiße Garde ... In Württemberg und Baden, überall sind Noske-Anwerbestellen ... Alle auswärtigen Studenten lassen sich einreihen ... Die Münchner Garnison steht sehr wacklig«, berichtete Achenbach pessimistisch. Flieger kreisten in der Luft. »Was machen denn die?« fragte ich. »Die bringen Aufklärungsflugblätter aufs Land«, erfuhr ich. »Wie steht’s denn da draußen?« erkundigte ich mich abermals. »Solang Gandorfer (Der Bruder des blinden Gandorfer, welcher mit Eisner am 7. November zusammen ging und inzwischen gestorben war.) bei uns ist, geht’s ja noch leidlich, aber meistens sind die Bauern verhetzt und wollen nichts mehr liefern«, sagte Achenbach. »Und hier ist alles uneinig«, brummte ich. Mir graute. »Servus!« sagte ein sehr blasser, hagerer junger Mensch mit schmalem Gesicht und gesellte sich zu uns. »Ah, Tautz! Servus! « grüßten Schorsch und Achenbach und fragten nach neuen Nachrichten. »Der Generalstreik soll vorläufig abgebrochen werden ... Bewaffnung wird beraten, Landauer und Marut sind Kultusräte«, erzählte er. Dann kamen wir auf die Versammlung Gräsers zu sprechen und wurden heiterer. »Das muß eine Gaudi werden«, rief Tautz. »Ja und dann gehn wir alle mit zu Schorsch und ekeln den Kerl ’raus«, schlug ich vor. »Überhaupt, warum erscheint ihr so wenig im Künstlerrat, ihr Drückeberger!« räsonierte Tautz. »Ich bin Privatperson ... Und überhaupt diese ganzen Künstler, da bin ich mißtrauisch ... Zu was überhaupt immer der Unterschied: Künstler und Proletarier? ... Entweder man stellt sich in eine Reihe mit dem Arbeiter oder man bleibt weg ... Wenn’s so ist, brauchen wir keinen Künstlerrat«, warf ich ein. »Wir sind doch Proletarier!« meinte Tautz und forderte mich abermals auf, im Landtag zu erscheinen. Ich nickte beiläufig. Wir gingen auseinander und trafen uns abends in der Gräser-Versammlung alle an einem Tisch, der Zimmerherr mit seiner Freundin, Tautz, Achenbach, Schorsch und ich. Der Saal war ziemlich voll. Geraucht sollte nicht werden. Wir rauchten. Es ging auch bereits laut zu. Vorne saßen schwärmerische Mädchen mit Gretchenfrisur, alte Jungfern, Wandervögel, idealistische Sonderlinge und dergleichen. Auch biedere Biertischler, Parteigesichter, typische Spartakus-Gestalten und anderes Volk war da. »Was soll denn der Quatsch! ... Der Kerl muß ausgeräuchert werden!« polterte mein Zimmerherr. »Solche Grasfresser verwirren bloß!« »S-s-st! ... S-s-st!« mahnten die vorderen immer wieder und warfen böse Blicke auf uns. Gusto Gräser kam hereinmarschiert und stieg aufs Podium. »Ziegenbock! « plärrte wer. Alles lachte. Andere wieder entrüsteten sich. Gräser machte eine halb segnende Armbewegung und fing seine monotone Predigt an. Ein unverständliches Sammelsurium von Zitaten und verschrobenen Meinungen ergoß sich über die Anwesenden, begleitet von Beifall, Gelächter, Hohnrufen und Klatschen. Vom Geist der Gewaltlosigkeit fing der Apostel an. »Ach was Geist! Schnaps brauchen wir!« schrie ich lausbübisch. Unser Tisch fing zu lachen an. Der Lärm wurde stärker. Gusto Gräser redete unbeirrt weiter. »Grasfressen und faulenzen ist sinnwidrig!« stichelte ich abermals. »Jawohl! Diktatur des Proletariats!« sekundierten einige am Tisch. Schon stimmten die anwesenden Spartakisten bei. Die Wandervögel gurrten wütend, die Jungfern und Mädchen zischten gehässig. »Nieder mit der Natur! Es lebe die Technik!« schrie mein Zimmerherr. »Spartakus marschiert.« »Wir sind keine Menschen mehr – «, rief Gräser, das andere ging unter. »Nein, Viecher!« warf ich ins Toben. »Der große Mittag kommt!« salbaderte der Apostel abermals. »Auf dem Lokus!« schrie Tautz. Nichts hörte man mehr, nichts als ein verworrenes, schimpfendes Redegeräusch. Jeder trompetete jetzt seine Meinung aus. Drollig war es, Gräser stand machtlos oben und schüttelte nur noch ab und zu den Kopf. Ein fanatischer Spartakist stieg auf den Tisch und hielt die übliche Propagandarede: »Proletarier! Die Weltrevolution marschiert! Schließt die Reihen um Spartakus! Nieder mit der Bourgeoisie und mit dem verräterischen mehrheitssozialistischen Gesindel! Die Macht kann nur mit Gewalt erobert werden! Hoch Liebknecht! Hoch Rosa Luxemburg und Lenin! « Alles stimmte bei und ging lachend auseinander. »Sehr unterhaltlich! Wunderbar!« hörte man von allen Seiten. Wir gingen mit Schorsch auf sein Atelier und warteten Gräser ab. »Der muß raus!« stimmten wir alle überein. Gräser kam, und wir fingen an, ihn zu verspotten; grob, gemein und absichtlich verletzend stichelten wir auf ihn. Er murmelte bloß ab und zu ein sanftes Wort. »Also, bitte, Natur! Natur, Herr Nachbar! Morgen bitte Lager nehmen im Englischen Garten!« sagte ich zuletzt fast drohend, und endlich gingen wir. Erst nach zwei Tagen räumte Gusto Gräser das Feld. Man sah ihn in der Stadt herumlaufen. Stets verfolgte ihn ein Rudel Kinder. Wir erfuhren, daß er sich in einem Ziegenstall eingenistet hatte. Es tauchten um jene Zeit massenhaft solche Sonderlinge auf. Einer trug einen langen Zopf und Strohhut, sehr enge, karierte Hosen und eine ebensolche Joppe. Er suchte die Menschenaufläufe und lispelte dann jedem ins Ohr: »Christus sind wir! Seid ruhig, ihr Menschenkinder! Hämmert nicht euer eigenes Kreuz!« Und ebenso hurtig verschwand er wieder. Ein anderer – sehr verwahrlost gekleidet, mit bezwickertem, bissigem Gesicht – saß meistens in den Cafes herum und rechnete. Auf lange, weiße Blätter malte er Tabellen, und wenn ihn wer ansprach, erklärte er ihm schnaufend, wenn jeder täglich nur neunzig Gramm Roggenbrot und zehn Gramm Fleisch äße, wäre kein Elend mehr. Besonders wütend war er gegen die Konditoreiwaren. Stand er vor einer solchen Anlage, dann schimpfte er drauflos: »Da, da, Herr Nachbar, da! ... Sehn Sie’s nicht ein! ... Dieser Luxus ist unser Ruin ... Der Zuckerbäcker ist der größte Verbrecher ... Gegen die muss man vorgehn ...« Christenmenschen predigten in Versammlungen, Nacktkulturanhänger verteilten ihre Kundgebungen, Individualisten und Bibelforscher, Leute, die den Anbruch des tausendjährigen Reiches verkündeten, und Käuze, die für Vielweiberei eintraten, eigentümliche Darwinisten und Rassentheoretiker, Theosophen und Spiritisten trieben ein harmloses Unwesen. Einmal nachts ging ich über den Stachus. Ein magerer Mensch schoß auf mich zu, steckte mir hastig einen Zettel zu und lief eilends in der trüben Dunkelheit weiter. Ich trat unter eine Laterne und besah den Wisch. Nichts weiter stand darauf als: »Der Jude spricht dazwischen! Deutsche, besinnt euch!« Zu alledem stieg die Gärung in den Massen immer mehr. Die bürgerlichen Zeitungen erschienen wieder, aber der Zensurrat redigierte sie. Die sozialistischen Parteien bekämpften sich unablässig und mit größter Hitzigkeit. Im Hotel Wagner tagte eine proletarische Versammlung in Permanenz. Spartakisten und Unabhängige hielten dort ständig Reden, Mehrheitssozialisten wurden niedergeschrien. Resolutionen wurden abgefasst, Abordnungen zusammengestellt, die ihre Forderungen stets sofort dem Zentralrat im Landtag überbrachten. Ein fortwährendes Aus und Ein, ein dauerndes Hin und Her war es. GräserVita, GräsersLeben nacherzählt, Bilder aus seinem Leben, ein paar seiner Gedichte. More info: http://www.oskarmariagraf.de/ |