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aus Handbuch der deutschen Reformbewegungen, isbn 3-87294-787-7


GEMEINSCHAFT UND GESELLSCHAFT

 Diethard Kerbs/Ulrich Linse

Die gesellschaftliche Situation in Deutschland war am Ende des 19. Jahrhunderts von der heutigen am Ende des 20. Jahrhunderts in vielfacher Hinsicht sehr verschieden. Dennoch gibt es in einigen grundlegenden Punkten bei aller Unterschiedlichkeit erstaunliche Parallelen, die es angezeigt sein lassen, die damaligen Fragen und Antworten noch einmal genauer zu studieren, um vor deren Folie Gesichtspunkte für die Auseinandersetzung mit den Tendenzen der Gegenwart zu gewinnen. Betrachten wir etwa die Art und Weise, wie der Sozialhistoriker Eric Hobsbawn die Krisenwahrnehmung der ersten Welt ab 1970 beschreibt: Die kulturelle Revolution in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts habe als Reaktion auf den rapiden Zerfall der traditionellen sozialen Normen, Strukturen und Werte, die so viele Einwohner der entwickelten Welt hilflos und verwaist zurückgelassen hatte, zu einer Inflation von kulturellen Identitätsgruppen geführt, der sich eine Person unzweideutig und jenseits allen Zweifels 'zugehörig' fühlen konnte. Ohne die bekannte Parallelerscheinung der Landkommunen-Bewegung zu erwähnen, fährt er fort: Noch nie waren die Worte 'Gemeinschaft', 'Gemeinde' und 'Gruppe' derart wahllos und sinnlos, gebraucht worden wie in den Jahrzehnten, in denen Gemeinschaften; im soziologischen Sinn im realen Leben kaum noch zu finden waren -'die Interessengemeinschaft', 'die Theatergemeinde', 'die Schwulengruppe'; schließlich sei auch der Appell an eine ''ethnische Identität' zu beobachten. 1]

Die Anfänge solcher Entwicklungen im deutschen Kaiserreich sind kaum übersehbar, nahmen aber dort auch ein spezifisch deutsches Profil an. Es vollzog sich ein gesellschaftlicher und kultureller Wandel vor dem Hintergrund von Individualisierung und Subjektivierung bzw. Kollektivierung im Gefolge der Ablösung von Gemeinschaften und traditionellen Institutionen durch die moderne Gesellschaft. 2] Als Folgen dieser Entbindung von Individuum und Gesellschaft (Nipper-dey) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch Industrialisierung und Verstädterung, Bevölkerungswachstum und Konjunkturkrisen lassen sich in Deutschland folgende Tendenzen beobachten:

Soziale Selbstverständlichkeiten, die Jahrhunderte gegolten hatten, wie z.B. Zunftordnungen, Familienstrukturen, Obrigkeitsverhältnisse usw. erlitten innerhalb weniger Jahrzehnte schwere Legitimitätseinbußen und Funktionsverluste. Die soziale Mobilität nahm zu; die Gesellschaft zergliederte sich in immer kleinere Bezugsgruppen. Trotz des ökonomischen Wachstums klafften die Lebenschancen der einzelnen weit auseinander. Dörfliche und kleinstädtische Lebenswelten schwanden; in großstädtischen Ballungszentren bildeten sich neue, weniger verbindliche Strukturen. Mit der sozialen Kontrolle ging oftmals auch der vertraute Lebensrahmen verloren. Die neuen sozialen Normen waren von zunehmender Distanz, aber z.B. auch von erhöhten Ansprüchen an Sauberkeit und Hygiene sowie von Gehorsam gegenüber unpersönlicheren Verkehrsregeln geprägt. Mit der Verstädterung lösten sich zudem die bisher auf dem Lande geltenden Normen im Verhältnis der Geschlechter, von Jung und Alt, Arm und Reich immer mehr auf. Je mehr die Möglichkeit allen offenstand, die eigene Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt zu verkaufen, desto weniger wurde Armut als Schicksal und als Grund für gleichsam angeborene Unterwürfigkeit empfunden. Und je mehr die etablierten Herrschafts- und Beschäftigungsverhältnisse durch Vertragsverhältnisse ersetzt wurden, desto größer wurde die Freiheit des Einzelnen, sich nicht nur eine andere Arbeit, sondern auch eine andere Autorität, einen anderen Glauben, eine neue soziale und seelische Heimat zu suchen.

Gleichzeitig kam es innerhalb weniger Jahrzehnte zu dramatischen Veränderungen der Lebensumwelt: Zuerst die Gasbeleuchtung, dann das elektrische Licht machten die Nacht zum Tage. Immer schnellere Verkehrsmittel überwanden Raum und Zeit. Die Massenpresse, das Telefon, später der Film und das Radio machten die leibhaftige Anwesenheit der Menschen zu Zwecken der Kommunikation und der Unterhaltung in vielen Bereichen überflüssig. Es bildete sich eine moderne Kommunikationsgesellschaft mit einer pluralistischen Öffentlichkeit heraus. Säkularisierung und Verwissenschaftlichung relativierten die herkömmlichen Gewißheiten des Glaubens und der Moral. Normen und Verhaltensstile pluralisierten sich. Aber auch der universale Anspruch und die integrierende Funktion von Wissen und Bildung wurden fragwürdig in einer Welt der professionalisierten Funktionseliten und Experten. Die politische Meinungsführerschaft der Gebildeten wurde zudem ausgehöhlt durch den Aufstieg von hauptamtlichen Funktionären und Berufspolitikern in Verbänden und Parteien. Es entstand eine scheinbar anomische Massengesellschaft, in der sich das Bürgertum fragmentierte und trotz einer bürgerlichen Gesellschaft durch einen immer noch mächtigen Adel von den politischen Spitzenpositionen ferngehalten und durch eine bedrohlich anwachsende organisierte Arbeiterschaft bedrängt sah. So schwankte gerade das Bürgertum zwischen Modernitätseuphorie und Kulturpessimismus, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifel. Und manchmal verbanden sich diese Gegensätze gar zu dem brisanten Gemisch einer fortschrittlichen Reaktion (Richard Hamann/Jost Hermand) bzw. einer konservativen Revolution (Armin Mohler). Soziale und politische Unruhen brachten vorher nicht gekannte Massen auf die Straßen der Großstädte. Zudem entstanden neue Mittelschichten im technisch-naturwissenschaftlichen wie im administrativen Bereich der Großbetriebe, die die traditionelle Deutungsmacht des herkömmlichen Bildungsbürgertums infrage stellten.

Alles das schuf einen erhöhten Orientierungsbedarf. Da die hergebrachten Kategorien immer weniger galten, wurde nach neuen Zugehörigkeiten gesucht, die Sinn und Anschluß vermitteln konnten, z.B. innerhalb des eigenen Geschlechts (Frauenbewegung) oder der eigenen Generation (Jugendbewegung) ebenso wie in selbsterfundenen oder herbeibeschworenen ideologischen Identitäten, die aus Rasse oder Volk abgeleitet waren. Zum Zwecke gemeinsamen Wirtschaften und Wohnens bildeten sich Genossenschaften; mit eigenständigem Kulturanspruch entstanden besonders aus der gebildeten bürgerlichen Jugend Gruppen und Bünde.

Vielen Bewegungen gemeinsam war der unübersehbare Drang zur Schaffung einer emotional überhöhten Gemeinschaft und damit zur Abkehr von der als zu kalt, zu anonym, zu feindselig empfundenen modernen Gesellschaft. Zunächst bedeutete Gemeinschaft nur soviel wie Gruppe, bezeichnete also einen Zusammenschluß von Menschen, der noch zahlenmäßig überschaubar war und wo noch jeder jeden von Angesicht kennen konnte. Durch Zustrom oder Zusammenschluß konnten sich solche Gruppen zum Bund erweitern, den man als eine Vereinigung von Menschen definieren könnte, die soweit hält, wie die emotionale und geistige Kraft ihrer jeweiligen Führer trägt - ein übrigens eigentümlich deutsches Phänomen.

Die Bereitschaft zu führen und sich führen zu lassen, wuchs allenthalben. Selbsternannte Propheten und charismatische Führer fanden Hunderte, ja mitunter Tausende von Anhängern und organisierten sie in Weltanschauungs-Bünden oder religiösen Sekten. Gemeinschaftskult und kultische Gemeinschaftsfeiern sollten anstelle nüchtern-rationaler Zweckgemeinschaften treten. Das Autoritätsvakuum mußte gefüllt, Sinnschneisen mußten in die undurchschaubare Welt des raschen Wandels geschlagen werden.

Da der einzelne (und erst recht: die einzelne) oft genug schon davon überfordert war, die richtige Berufs- und Partnerwahl zu treffen, durch Hygiene und Kleidung, Benehmen und dialektfreies Reden für seine bzw. ihre soziale Akzeptanz zu sorgen, schloß man sich zwecks weitergehender Orientierung nur zu gern mit anderen zusammen. Teile der bürgerlichen Großstadtjugend distanzierten sich von ihren Eltern und von den bislang gültigen Konventionen der besseren Gesellschaft. In Ablehnung von Heuchelei, Doppelmoral und angemaßter, aber nicht vorgelebter Autorität zogen sie hinaus in die Natur, um dort, weitab der großen Städte, ein freies Jugendleben zu führen - wenigstens am Wochenende. Stabilere Formen nahm das naturgemäße Leben der Jugend in Landkommunen und Landerziehungsheimen an.

In den großen Städten herrschte nicht nur ein unbeschreibliches Elend mit Obdachlosigkeit und Wohnungsnot; dort verbreiteten sich auch Prostitution und Geschlechtskrankheiten in epidemischen Ausmaßen. Die Verunsicherungen waren bis in wohlhabende Schichten hinein zu spüren. Das Problem provozierte unterschiedlichste Antworten, die von der Sexualberatung bis zur Rassenhygiene reichten. Gemeinsam war diesen Bestrebungen von Geburtenplanung oder Eugenik eine hohe Bewertung von Körperlichkeit und Sexualität. Die Tabuisierung der Geschlechtsthematik wurde immer mehr durchbrochen; die Befreiung des Leibes oder, wie wir heute sagen würden, die sexuelle Revolution begann. In der ideologischen Einfärbung solcher Bewältigungsstrategien spiegeln sich wiederum die verschiedenartigen Strömungen der Sinn- und Richtungssuche. Gemeinsam war vielen Orientierungsangeboten ein kollektivnarßistischer Appell: Das Heil wurde nicht selten in der euphorischen Übersteigerung dessen gesucht, was man ohnehin war: in der Jugendlichkeit, in der Männlichkeit, im Frausein, im Deutschsein oder im Arischsein - als ob das jeweils ein Verdienst oder eine Auszeichnung gewesen wäre. Phantasievollere Menschen gründeten später auch internationale, gemischtgeschlechtliche und multikulturelle Gemeinschaften (und sogar Schulen), um ihren Anhängern Halt, Sinn, Sicherheiten und Perspektiven zu bieten.

Schließlich erlebte auch der Begriff Volk im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Renaissance; es entstand eine völkische Bewegung, die sich ursprünglich ebenfalls im Gegensatz zu Gesellschaft und Staat definierte. Im Grunde stand hinter alledem der vitale Wunsch, den kalten Verkehrsverhältnissen und Verwaltungsstrukturen mit sozialen Bündigungen oder Bewegungen zu begegnen, die wenigstens etwas von der verlorenen bzw. früheren Zeiten unterstellten Wärme und Verbindlichkeit zurückzubringen versuchten: ein Wunsch, der dann von dem kältesten aller deutschen Herrschaftssysteme - dem des NS-Staates - schamlos ausgenutzt und pervertiert werden konnte (wie so vieles, was um die Jahrhundertwende an Hoffnungen und Wünschen formuliert worden war).


Fussnoten:

  • 1 Eric, Hobsbawn: Das Zeitalter der Extreme. München 51997, S. 532.
  • 2 Thomas, Nipperdey: Deutsche Geschichte 1866-1918. Bd l: Arbeitswelt und Bürgergeist. München 1994, S. 189; dort auch das folgende Zitat.
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