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aus ERSTE HILFE - DIE ZEITSCHRIFT AM RANDE DER STADT /oktober 1996 / münchen


Gewissermassen "Old School"

- Get into the social: kollektiv leben -

Mit „Economy Class" haben die Goldenen Zitronen im Herbst die sechste LP in ihrer über zehnjährigen Bandgeschichte veröffentlicht. Alle unsere Lieblings-Themen werden hier auf eine so noch nicht gehörte, hysterische Spitze getrieben. Nichts lag also für die ERSTE HILFE näher, als sich mit Ted Gaier und Schorsch Kamerun über München, Aufklärungsmusik und das „physische Erleben eines persönlichen Freiheits-Begriffes" zu unterhalten.

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München ist ja nicht nur die Stadt, die von jungen Menschen in Richtung Hamburg oder Berlin verlassen wird. Aus München werden auch gerne Mythen konstruiert: Das fängt mit der Vorstellung an, '68 hätte „in Wirklichkeit" an der Kunstakademie in München begonnen und setzt sich mit dem Bezug auf die Gruppe Spur, die Situationisten oder die Subversive Aktion fort. Andere Leute greifen noch weiter zurück. Da geht es dann um Katholizismus. Bayern als quasi feudales Land, in dem Herrschaft nicht abgeleugnet wird, wo es derb zugeht, und die Leute das Herz am richtigen Fleck haben. Wie seid ihr auf die München-Geschichte auf eurer neuen Platte gekommen?

Ted: Ich bin hier aufgewachsen. Deshalb kenne ich München. Eine Art Liebeslied an München zu schreiben, wollten wir bestimmt schon seit fünf Jahren. Der konkrete Anlaß für „Munich" war dann der Feuchtwanger-Roman „Erfolg" - dort sind Münchens Widersprüchlichkeiten und der ganze Wahnsinn ja ganz gut zusammengebracht - und ein paar Morgende im Englischen Garten...

Meint ihr, daß hier eine spezifische Form von Macht existiert, daß es so etwas wie eine „bayerische Art" gibt, die Herrschaft nicht so „sozialtechnologisch-unauffällig", sondern „derb" ausübt?

Ted: Aus den 8Oern weiß ich noch, wie das mit der Freizeit '81 abging und wie mit dem Milb der Punk-Geschichte in einem Herbst der ganze Boden unter den Füßen weggezogen wurde. Wie das so durchgenagelt wurde. Das ist schon eine spezifische Art von Macht. Ich glaube, seither hat sich in München in dieser Hinsicht nicht mehr viel entwickelt. Natürlich gibt es jetzt auf einem ganz anderen Level Sachen wie das Ultraschall, aber das ist ja auch wieder gut konsumierbar. Was ich jedenfalls auffällig finde, ist, daß diese Ansätze immer wieder abgebrochen sind, sei es die Räterepublik, die Existentialisten-Zirkel, Freizeit '81 oder die Alternativ-Szene Ende der 70er. Erst neulich ist mir wieder aufgefallen, wie stark soziale Kontrolle hier funktioniert. Vor etwa einem Jahr haben wir mit den THREE NORMAL BEATLES hier gespielt, durchgemacht und morgens auf der Leopoldstraße ein paar Lose gekauft. Was wir gewonnen hatten, war nutzloser Schund, ein Schlüsselanhänger, den ich wegschmiß, worauf mich sofort eine Dame darauf aufmerksam machte, daß ich das ja auch in den Müll werfen könnte. Das ist ein Grad an sozialer Kontrolle, der für eine Großstadt wirklich beispiellos ist.

Sicher funktioniert soziale Kontrolle hier besonders gut. Aber das ist ja nur ein Grund für das Abbrechen von Ansätzen. Darüberhinaus sind auch viele Leute nach Hamburg oder Berlin gegangen. Wenn man sich die dortigen Großstadt-Szenen anschaut und dann den bayerischen und schwäbischen Anteil abzieht, bleibt nicht so wahnsinnig viel übrig.

Schorsch: Für Berlin gilt das vielleicht. Aber so viele Münchner gibt es in Hamburg immer noch nicht. Stuttgarter haben wir da in rauhen Mengen und das verstärkt sich auch noch. Aber Münchner? So oft trifft man die nicht in Hamburg.

Ted: Tatsache ist ja aber wohl, daß sie in bestimmten Etappen weggegangen sind. Was ich mich frage, ist, wie eigentlich die Boheme-Szene aus den 60ern hier verschwunden ist. Ich denke ja immer, das war die Olympiade, der U-Bahn-Bau und der Machtwechsel zur CSU.

Und was denkt ihr über die 50er und 60er Jahre in München, die Großstadt- und Boheme-Szene in der Kunstakademie und bei den Schwabinger Krawallen?

Ted: Die Kunstakademie ist mir vor allem als Mythos bekannt. Als Kinder hat man uns da hingeschickt, und wir sollten alles vollschmieren - was wir dann auch gemacht haben. Die Künstler an sich gingen mir zu der Zeit - mit fünf - ziemlich auf die Nerven. Was noch interessant ist aus dieser Zeit, ist die Musikszene. Die ersten interessanten Bands, die eine eigenständige Musik gemacht haben, kamen mit Embryo und Amon Düül aus München. Das habe ich auch als Kind mitgekriegt. Da kamen dann Embryo in den Kindergarten, haben uns Instrumente in die Hand gedrückt, und wir sollten „free" drauflos machen - was mich auch genervt hat. Vielleicht wollten die „Spirit" aufsaugen - oder was weiß ich. Dann kamen Künstler und haben unsere Ärsche in Gips genommen. Die waren dann auch sehr hoch dotiert und hingen für tausend Mark beim Bürgertum.

Eure Ärsche?

Ted: Ja, unsere Ärsche hingen da. Damit hat diese Kommune in der Giselastraße einen ziemliehen Reibach gemacht. Und dann ist da noch diese Geschichte mit Glam-Rock und Fußball. Die ganzen 70er-Stars sehen ja um 74 genau genommen alle wie Zuhälter aus -und Breitner hat am Anfang für die ROTE HILFE gespendet. Es macht Spaß, daraus ein Stück zu machen. Über eine andere deutsche Stadt ein Stück zu machen, ist dagegen doch weitgehend uninteressant.

1993, nach den rassistischen Übergriffen von Hoyerswerda und Rostock, habt ihr euch zusammen mit Leuten aus der Musik-, Kunst- und Politik-Szene in den „Wohlfahrtsausschüssen "an dem mittlerweile schon tot diskutierten Cross-over von Pop & Politik versucht. Wie seht ihr diesen Ansatz heute, nachdem der anfängliche Aktionismus wieder verschwunden ist?

Ted: Für mich ist der Ansatz eigentlich noch nicht verschwunden. Nach den letzten Aktionen war aber plötzlich irgendwie die Luft heraus. Eine Reaktion darauf ist diese Platte. Die Platte spielt in vier oder fünf Fällen aus der Sicht von solchen Leuten und zeigt auf, daß das, was an dieser Wohlfahrtsausschuß-idee gefehlt hat, war, das Soziale mit einzuschließen - also auf einer physisch empfindbaren Ebene ein soziales Gefüge zu schaffen, das über das Politische und das gemeinsame Am-Tresen-Stehen hinaus funktioniert. Als das aus den Schlagzeilen verschwunden war, sind alle Bohemiens wieder in die Kneipen gegangen und stehen da heute noch. Das ist das Problem von dieser Wohlfahrtsausschuss-Geschich-te gewesen. Für viele Leute war das nur eine andere Version von bürgerlicher Empörung. Vielleicht ist man heutzutage aber auch schon so vereinzelt, daß man anders als '68 gar nicht mehr auf die Idee kommt, beispielsweise sein Leben kollektiv zu organisieren oder Kommunen zu gründen. Das ist alles kein Thema mehr. Die Leute führen ihr Single-Dasein, wovon auch diverse der neuen Stücke handeln.

Dieser Trend hängt ja wohl auch mit den Einflüsterungen des Neoliberalismus zusammen. Schließlich werden an allen Ecken hochindividuelle Konzepte angeboten. Was machen wir mit diesem „individuellen Leben"?

Ted: Zur Entwicklung des kollektivistischen 68er-Modells gehörte natürlich auch die Absetzung von dem damals vorgegebenen Modell, das derart rigide war, daß man es nicht ertragen konnte. In den 70er Jahren ging der Kampf um individuelle Freiheit noch mit einem politischen Kampf einher. Letztendlich waren die ganzen Errungenschaften aber irgendwann als Ware willkommen und im konsumierbaren Rahmen systemunterstützend: Rockmusik, Drogen, Mode... das ist ja alles notwen dig, um Wirtschaftswachstum zu erarbeiten. Heute, wo Rock musik Menschenrecht ist, und jeder sich seine schrille kleine exzentrische Note doch bitteschön anschaffen sollte, hat das zu dieser Vereinzelung geführt. Man hat ja immer gehofft, Aufklärung über so etwas wie Unterdrückung würde bewirken, daß sich etwas verändert. Das ist aber nun wirklich gescheitert.

Warum macht ihr dann überhaupt noch so stark an Aufklärung und Information orientierte Sachen, wenn ihr das Konzept Aufklärung für gescheitert haltet?

Ted: Das ist noch lange kein Grund, nicht weiter aufzuklären und zu sagen: Es geht anders. Das ist eine ethische Frage - sonst wird man zum Zyniker. Außerdem gibt es im ganz persönlichen Bereich physisch empfindbare Ansätze von Freiheit. Daran glaube ich, und das erlebe ich auch. Das klingt jetzt schon sehr christlich. Aber „das Maul aufmachen" und zu denken, daß deswegen jemand mitmacht, sind zweierlei Sachen. Ich denke, das Maul muß man auf alle Fälle aufmachen, ohne zu kalkulieren, ob man damit Erfolg hat. Das ist ja das Resignative an den postmodernen Phänomenen, daß alle über Unterdrückungsmechanismen Bescheid wissen, aber behaupten, „das wurde doch alles schon tausend mal gesagt, das ist halt so". Das ist ein Grund, warum die Linke hier am Boden liegt. Weil man dieses realpolitische Erfolgs-Ding so verinnerlicht hat, daß man denkt: „Es macht nur Sinn, was Erfolg bringt". Damit fängt das ganze Dilemma eigentlich an.

Und wo seht ihr einen Ausweg aus diesem Dilemma?

Ted: Mein Modell ist, daß man möglichst kollektiv wohnt und möglichst kollektiv mit dem umgeht, was einen persönlich betrifft. Das ist natürlich keine wirkliche Perspektive, weil das - wie man ja an der Vereinzelung vor dem Computer sieht -von gestern ist. Aber ich persönlich, als alter Romantiker, glaube daran. Das gilt bei der Band dann auch ökonomisch: Wir kontrollieren möglichst den ganzen Produktionsablauf -vom Selbst-Produzieren bis zum Cover-Design und dem Promotion-Text. Aber das ist natürlich ein Spielfeld. Ich kann es den Sternen nicht übelnehmen, daß sie zu Sony gehen. Ich denke nur, daß sie selber nicht damit glücklich werden. Wir sind mit unserer Situation soweit glücklich, daß wir uns in einem intakten Rahmen bewegen, wo ein Austausch auch konstruktiv ist, wo wir nur minimal kollaborieren und uns um Strategien scheren müssen. Aber das ist natürlich nur eine symbolische Angelegenheit. Genauso wie die Idee dieser Platte, wie bei Jazz möglichst frei zu spielen, nur eine symbolische Idee von Freiheit ist. Die Free-Jazz-Idee war ja, das menschliche Zusammenleben individuell so frei wie möglich zu gestalten und trotzdem ein Kollektiv zu sein. Letztendlich steht diese Argumentation natürlich auf ziemlich wackligen Füßen und läuft auf eine ziemlich anti-technologische Haltung heraus. Aber ich muß sagen: Das ist das, was mir etwas gibt. Das macht für mich Leben aus. Auch '68 war ja das physische Erleben das entscheidende, nicht der theoretische Überbau. Das physische Erleben eines persönlichen Freiheitsbegriffs, der natürlich nicht am Computer funktioniert, sondern durch Austausch mit Freunden. Ich bin da gewissermaßen Old-School.

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Kindergarten oder Kulturrevolution ?

Mikropolitischen und kulturrevolutionären Praktiken wird vor allem Unwirksamkeit vorgeworfen. Die Veränderungen, die sie bewirken, seien zu klein und zu unbedeutend, um überhaupt bemerkt zu werden. Oder sie würden durch Trendsetting und Ästhetisierung ihres politischen Charakters beraubt und in den gesellschaftlichen Mainstream integriert: als dernier cri auf dem Markt der interessanten Abweichungen und Exotismen. Menschen, die von politischem Realitätssinn geleitet werden, bestehen deshalb auf der Trennung von großer Politik und privatem Kleinkram. Streng ökonomietheoretisch orientierten Kritikerinnen fehlt vor allem der Zusammenhang der verstreuten und divergierenden Mikro-Praktiken zur gesellschaftlichen Totalität: Praktiken, die nur an der Oberfläche der kapitalistischen Vergesellschaftung herumkratzen, könnten nie zu einer radikalen Erkenntnis, geschweige denn einer Aufhebung des warenproduzierenden Systems gelangen. Da es den marxistischen Kritikerinnen andererseits nicht gelingt, die konkrete Lebenswirklichkeit der Individuen lückenlos aus den Kapitalgesetzen abzuleiten, neigen sie dazu, diesen Bereich des „bloß Subjektiven" einfach zu ignorieren bzw. als Ort der illusionären Verkennung und der trügerischen Freuden von sich zu weisen.

Tatsächlich sind Ansätze, die vom alltäglichen Leben ausgehen, der Gefahr ausgesetzt, sich zu verzetteln und sich endlos in Einzelheiten herumzutreiben. Die 80er Jahre haben gezeigt, wie leicht die Befassung mit den kleinen Dingen des Lebens in esoterische Befindlichkeitskontrolle oder Lifestyle-Design umschlagen kann. Losgelöst vom Zusammenhang einer linken Gegenkultur, die sich als gesellschaftsver-änderndes Projekt verstand, kann die Aufwertung von „Differenzen" und die Spezialisierung auf die Suche nach der eigenen, unvergleichlichen Identität die reaktionärsten politischen Schauspiele begleiten. Von der eigenen Erfahrung, Eigentümlichkeit oder „Identität" auszugehen, ist selbstverständlich nicht per se befreiend, sondern kann, im Fall der Subkultur jede Menge Stumpfsinn und, im Fall nationaler Eigenheiten, weitaus Übleres hervorbringen.


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