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Eine Klasse für sich

Von der Emanzipation zur Weltrevolution: Die adelige Kommunistin Alexandra Kollontaj und ihr Weg ins Sowjetreich

 Dietrich Geyer*

Wie abgegriffen und grob sind all die Schablonen, in die man sie zu fassen suchte: "Amazone des Feminismus", "Walküre der Revolution", "Grande Dame der sowjetischen Diplomatie"! Aber selbst in solch matten Phrasen spiegelt sich noch die Faszination, die von dieser selbstbewussten Frau ausging: Alexandra Kollontaj - schon zu Lebzeiten eine Legende.

Dabei ist sie, als sie kurz vor ihrem 80. Geburtstag, am 9. März 1952, stirbt, ein knappes Jahr vor Stalins Tod, im eigenen Lande fast vergessen. Die Partei, der sie diente, nimmt von ihrem Ende nicht Notiz. In der Prawda steht keine Zeile über sie zu lesen. (Erst zwei Jahrzehnte später, in den siebziger Jahren, entdeckt man sie wieder: stilisiert zur revolutionären Ikone im realsozialistischen Osten, diskutiert als Vorkämpferin des Feminismus im Westen.) Begraben wird "die Kollontaj" nicht an der Kremlmauer, sondern auf dem Prominentenfriedhof am Moskauer Neu-Jungfrauen-Kloster in unmittelbarer Nähe der Außenkommissare Tschitscherin und Litwinow. Ihnen war sie im Herbst 1922 zugeordnet worden, als Stalin, der Generalsekretär der Partei, die Genossin in den auswärtigen Dienst versetzte.

Revolutionär, Tribun, Diplomat: Seltsam, dass die drei Vokabeln, die auf ihrem Grabstein stehen, im Russischen nur in maskuliner Form zu haben sind. Auf banalere Weise ließ sich nicht verschweigen, was die Tote einst für die eigentliche Bestimmung ihres Lebens hielt: den Kampf um die Befreiung der Frau, ihrer Liebesfähigkeiten eingeschlossen. In ihren besten Jahren war sie von der Gewissheit ganz erfüllt, dass dieser Traum im Kommunismus Wirklichkeit werden könne. Ob sie das im Alter auch noch glaubte, ist eher unwahrscheinlich als gewiss.

Über den Anfängen ihres langen Lebens hatte offenbar ein guter Stern gestanden. Am 19. März 1872 war sie in Sankt Petersburg in den russischen Erbadel hineingeboren worden. Auf den Namen Alexandra wurde sie getauft, und wer sie mochte, durfte "Schura" zu ihr sagen. Ihr Vater, Michail Alexejewitsch Domontowitsch, war General, ihre Mutter kam aus begütertem Haus, und so wuchs das Fräulein wohlbehütet auf. Den Sommer verbrachte sie oft und gern auf dem prächtigen Landsitz der Großeltern jenseits der finnländischen Grenze.

Schulen hat Alexandra nie besucht. Ihrer Hauslehrerin ist zu danken, dass sie mit sechzehn Jahren das Abitur bestand. Auch die wichtigsten europäischen Sprachen beherrschte sie rasch. Bald folgte, was mit Töchtern aus den besten Kreisen Russlands oftmals geschah: Als Alexandra 21 war, ertrotzte sie, zum Missbehagen ihrer Eltern, eine "Ehe unter Stand" - die Heirat mit Wladimir Kollontaj, einem mittellosen Ingenieur, der zur polnisch-ukrainischen Verwandtschaft gehörte. Es war ihr erster Ausbruchversuch. Sie liebte diesen Mann, gebar ihm einen Sohn - und doch verließ sie ihn nach fünf Jahren, da ihre Vorstellungen von dem, was Liebe sei, die Konventionen längst überschritten. Sie wollte frei sein, studieren und gesellschaftlich nutzbringende Arbeit tun. 1898 entschloss sie sich, zu Heinrich Herkner, einem bekannten Kathedersozialisten, nach Zürich zu gehen.

Der Weg, den sie nun einschlug, führte sie in das intellektuelle Milieu der europäischen Sozialdemokratie. In den endlosen Fraktionskämpfen der russischen Partei stand sie den Menschewisten nahe. Obwohl sie, anders als Rosa Luxemburg, in Zürich keine Doktorarbeit schrieb, sondern, je nach persönlicher und politischer Lage, zwischen Russland und Westeuropa zu pendeln begann, fand sie als marxistische Autorin, die in vielen Sprachen publizierte, zunehmend Resonanz. Ihre Themen bewegten die Zeit: die soziale Situation der Frauen, besonders die Lage der Arbeiterinnen, Mutterschutz, Sexualmoral und Prostitution und immer wieder der Kampf für die volle Gleichberechtigung der Geschlechter.

Sie warnt vor Lenin

Sie war eine temperamentvolle, leidenschaftliche Rednerin. Vom russischen Polizeistaat 1907 vertrieben, zog sie durch Europa und die Welt und lebte so, mitunter von ihrem Sohn begleitet, jahrelang aus dem Koffer in Hotels und Pensionen. Keine internationale Frauenkonferenz von Bedeutung, auf der sie nicht gesprochen hätte, keine namhafte Genossin, zumal keine deutsche, mit der sie nicht bekannt gewesen wäre. Über Clara Zetkin und Luise Kautsky konnte sie, wenn es darauf ankam, sogar das Ohr des SPD-Vorstands erreichen; zu Rosa Luxemburg, der Frauenfragen herzlich schnuppe waren, blieb sie allerdings auf Distanz. Als die Menschewisten im Sommer 1911 alles daransetzten, Lenin den deutschen Geldhahn zuzudrehen, intrigierte sie heftig mit und ging ihren Berliner Freundinnen mit dramatischen Warnungen auf die Nerven: Lenin vertrete nur ein "Handhäuflein" machtgieriger Genossen, die sich als "selbst ernannte Herrscher" gebärden.

Die Eindrücke, die sie vom Westen gewonnen hatte, fasste sie in einem kritischen Bericht zusammen, der 1912 in Dresden erschien: Bei den europäischen Arbeitern. Das Selbstbewusstsein der Autorin war nicht klein. Aus ihrer Sicht erschien das Justemilieu des europäischen Sozialismus zumal in der "Frauenfrage" entwicklungsbedürftig. Schließlich ging es ihr um mehr als nur um Körperhygiene, Frauenturnen, Heilgymnastik und Reformkleider - nämlich um die Einsicht, dass der "Zukunftsstaat" eine Revolution des Geschlechterverhältnisses samt einer Neudefinition der Liebe unabdingbar mache.

Der Kriegsausbruch 1914 überraschte Alexandra Kollontaj in Deutschland. Obwohl die preußische Polizei an ihrer Anwesenheit keinen Anstoß nahm, wollte sie nicht bleiben. So suchte sie in Skandinavien eine Bleibe und zog schließlich in die Hauptstadt Norwegens, die damals noch Kristiania hieß.

Der Schock des Krieges aber brachte noch einen anderen Entschluss: Sie wechselte, nach einigen "Zwischenstationen", auf die Seite des so lange misstrauisch beobachteten Lenin. Seine Strategie, aus dem imperialistischen Weltkrieg den Bürgerkrieg gegen den Weltimperialismus hervorzutreiben, begann sie zu faszinieren. Hinzu kam wohl auch die Agitation des eigenen Herzens, denn Alexandra Kollontaj hatte sich unsterblich in Lenins skandinavischen Agenten verliebt, den Arbeiter Alexander Schljapnikow. Unter hohem Risiko reiste "Schura" in die USA, um Agitationsreden zu halten und Geldgeber für Lenin aufzutreiben. Doch alles in allem kamen nur ein paar Dutzend Dollar zusammen.

Nach dem Zusammenbruch der Zarenmonarchie im Februar 1917 war Kollontaj nach Petrograd zurückgekehrt. Dort begann sie auf jener Generallinie zu agieren, die Lenin in seinen Aprilthesen vorgeschrieben hatte: Kampf gegen die Provisorische Regierung, ohne deren Sturz es keinen Frieden geben werde, "Alle Macht den Räten" mit dem Ziel, der "Diktatur des Proletariats und der armen Bauernschaft" in Russland Bahn zu brechen. Seitdem war Kollontaj eine der furiosesten Stimmen im Leninschen Lager, eine "öffentlichen Person", die mit ihren Auftritten und Reden Beifall, aber auch Hass und Abscheu auf sich zog. Als der Ministerpräsident der Provisorischen Regierung, Alexander Kerenskij, im Chaos der Julitage sich dazu entschloss, die bolschewistische Führergarde wegen Landesverrats verhaften zu lassen, war auch sie dabei.

Erst im September, nach dem Kornilow-Putsch, kam sie wieder frei, saß im bolschewistischen Zentralkomitee und plädierte, als es im Oktober um den Umsturz ging, für den bewaffneten Aufstand und die Bildung einer Räteregierung aus den eigenen Reihen. In diesem ersten, von Lenin präsidierten Kabinett amtierte sie als Volkskommissar für Soziales. Leidenschaftlich, bis zum Verdruss der Parteiführung, kämpfte sie für die Mütter und Kinder und für die Invaliden aus den proletarischen Schichten der Stadt. Zugleich wirbelte die revolutionär stilisierte Eleganz ihrer Erscheinung im bürgerlichen Publikum Klatsch und Gerüchte auf, darunter die Fama, sie sei eine Kurtisane an Lenins Hof.

Als ihr Versuch, das ehrwürdige Alexander-Newski-Kloster als Obdach für ihre Schützlinge durch rote Matrosen räumen zu lassen, auf den wütenden Widerstand der Mönche stieß und ein Massenaufruhr drohte, konnte ihr auch Pawel Dybenko, Marinekommissar und Idol der Baltischen Flotte, nicht weiterhelfen. Im Januar 1918 heiratete sie diesen Mann, der aus einer bitterarmen Bauernfamilie im Gouvernement Tschernigow kam. Er war siebzehn Jahre jünger als sie. Noch im Alter hielt sie sich zugute, dass dies die erste Zivilehe gewesen sei, die es je in Russland gegeben hatte. Der orthodoxe Ortsbischof exkommunizierte sie darauf hin; das tat ihr nicht weh.

Die Kollontaj behielt ihren eigenen Kopf. Sie widersetzte sich auch dem erklärten Willen Lenins: das erste Mal im März 1918, als Ilijtsch in Brest-Litowsk mit Kaiser Wilhelm Frieden schloss und sich weigerte, zum Revolutionskrieg gegen die Deutschen aufzurufen. Zusammen mit ihrem Mann Dybenko legte sie ihr Amt im Rat der Volkskommissare nieder, weil ihr der Gedanke unerträglich war, in einer Räteregierung auf deutschen Bajonetten zu sitzen. Nach dieser Demonstration unbeugsamen Eigensinns wandte sie sich wieder der Frauen- und Bildungsarbeit zu. Zeitweilig ging sie in die Ukraine, wo ihr Mann (von dem sie sich später, 1922, trennte) als einer der wüstesten roten Bürgerkriegskommandeure herrschte, und leitete 1920, nach dem Tod der Lenin innig verbundenen Inessa Armand, die Frauenabteilung des bolschewistischen ZK. Außerdem vertrat sie, an Clara Zetkins Seite, die russischen Arbeiterinnen in den einschlägigen Gremien der Komintern.

Sex nur ein Glas Wasser?

Ein zweites Mal geriet sie im Frühjahr 1921, in einer der schlimmsten Krisenzeiten des Regimes, mit Lenin in Konflikt. Als Partnerin des Gewerkschaftsführers Schljapnikow, ihres Exgeliebten, vertrat sie die so genannte Arbeiteropposition. Noch heute kann einem der Atem stocken ob der ungebremsten Leidenschaft, mit der sie die namhaftesten Spitzenkader der Partei aller nur denkbarer Sünden zieh: Sie hätten die Gewerkschaften entmachtet, bürokratische Instanzen zur Diktatur ermächtigt, die Arbeiterselbstverwaltung pervertiert, sich von den Massen entfernt und wären mit klassenfremden Schichten Kompromisse auf Kosten der Arbeiter eingegangen. Hartnäckig klagte sie Arbeiterdemokratie und Freiheit der innerparteilichen Kritik ein - Forderungen, die mit den Grundbegriffen des Leninismus allerdings niemals zu versöhnen waren. Dennoch beharrte Alexandra Kollontaj darauf, eine gesinnungstreue Bolschewitschka zu sein, und weigerte sich zu verstehen, weshalb Lenin ihre Opposition als "anarcho-syndikalistische Abweichung" verdammte.

Obsessiv war ihre Neigung, das fiktive Proletariat, das sie vor Augen hatte, kultisch zu überhöhen und dem Kollektiv als oberster moralischer Instanz sakrale Würde zu verleihen, besonders ausdrucksstark in ihren Schriften über Liebe und Sexualität, die Anfang der zwanziger Jahre entstanden. Mit rührendem Einfühlungsvermögen interpretierte sie die frühen Liebesgedichte Anna Achmatowas - um jungen Arbeiterinnen darzutun, was die verehrte Poetessa assoluta dank ihres beschränkten Klassenhorizonts noch nicht begriffen habe: die neue Moral, wonach die Liebe, der "geflügelte Eros", dem Interesse des Kollektivs zu dienen habe.

Gleichwohl ging ihr die Emanzipation des weiblichen Geschlechts über alles; hier lag der Schlüssel für die neue Gesellschaft. Ihre hundertfach wiederholten Erklärungen, dass die Gleichberechtigung unmöglich sei, solange die Männerherrschaft auch in der Arbeiterklasse fortbestehe, mochte das Establishment der Partei bald nicht mehr hören. Man unterstellte ihr Gefühlskälte; Lenin schob ihr das Wort vom "Glas Wasser" unter, demzufolge Sex nicht mehr sei als die rasche Erledigung, Befriedigung eines einfachen Bedürfnisses: nichts als ein Glas Wasser zwischendurch. Als der Berliner Malik-Verlag 1925 drei zählederne Erzählungen Kollontajs unter dem Titel Wege der Liebe herausbrachte, setzte er offensichtlich auch auf die Skandallust des bürgerlichen Publikums. In Sowjetrussland dagegen war ihre Zeit schon vorbei. Nur wenige Jahre vergingen, bis sich der rote Wertehimmel wieder mit den traditionellen Idealbildern von Mutter- und Familienglück zu füllen begann.

Schon 1922 war Kollontaj von der innersowjetischen Bühne verdrängt worden. Da sie Skandinavien kannte, schickte Stalin sie nach Norwegen in den Außendienst, zunächst als Leiterin der in Oslo gerade eröffneten Handelsvertretung, wenig später, nach Aufnahme der diplomatischen Beziehungen, als Politische Vertreterin der Ud SSR?. 1926 wurde sie in das aufgewühlte Mexiko versetzt, doch diese Mission missglückte schon nach einem halben Jahr. Im Sommer 1927 nahm sie ihren alten Posten wieder ein, 1930 ging sie als Gesandte nach Stockholm.

Gern in Zobel gehüllt, selten ohne Perlenkette und mit Hüten von verwegenem Chic: Staunend sah die Welt in diesen Jahren, wie souverän und elegant Madame Kollontaj den Arbeiter-und-Bauern-Staat vetrat. Später, als Schweden im Zweiten Weltkrieg zu einer Drehscheibe internationaler Geheimdiplomatie und Spionage wurde, operierte die Botschafterin mit ihrem Stab nach vielen Seiten hin. Obwohl sie seit 1942 infolge eines Schlaganfalls an Lähmungserscheinungen litt, blieb sie für Moskau unentbehrlich. Niemanden gab es, der in den Kriegen, die Finnland 1939/40 und 194¼4 gegen die Ud SSR? bestehen musste, als Mittler geeigneter gewesen wäre als diese Frau mit ihrer Autorität und einzigartigen Erfahrung. 1942/43, als nach der Schlacht von Stalingrad das Phantom eines deutsch-sowjetischen Sonderfriedens am Horizont erschien, versuchten Männer des deutschen Widerstandes und der Abwehr, mit ihr in Kontakt zu kommen. Noch sind die sowjetischen Akten, die darüber Aufschluss geben könnten, nicht zu haben.

Im Frühjahr 1945 endlich durfte die 73-Jährige den aktiven Dienst quittieren. In den Jahren, die ihr noch blieben, lebte sie, halb gelähmt und von ihrer schwedischen Freundin Emy Lorentsson umsorgt, in einer Moskauer Dreizimmerwohnung auf der Bolschaja Kalushskaja, von Zeit zu Zeit auch in den Nomenklatura-Sanatorien der Umgebung. Wenn sie im Rollstuhl die Straße überqueren wollte, hielt (so wird berichtet) ein Milizionär die Autos an. Von der eigenen Regierung war sie bereits mit dem Lenin-Orden und zwei Rote-Banner-Orden ausgezeichnet worden, nun kamen ausländische Ehrungen hinzu: der Adlerorden der Azteken, den ihr der mexikanische Botschafter überreichte, und der Orden des Heiligen Olaf, den sie aus der Hand des norwegischen Botschafters empfing.

Zumeist aber war es einsam um sie. Litwinow, ihr einstiger Dienstherr, gehörte zu den wenigen, die noch mit ihr verkehrten. Im Nachlass fanden sich Teile ihrer Korrespondenz. In einem ihrer letzten Briefe riet sie ihrem kranken Ex-Chef, sich einmal an einen ihr empfohlenen Arzt zu wenden (der ins Haus jedoch nur komme, wenn man ihm ein Auto schicke), und erzählte ihm, wie gut es sei, zur Nacht ein Phanodorm-Tablettchen mit angewärmtem Wasser einzunehmen.

Schmeicheleien für Stalin

Ohne Arbeit konnte sie nicht leben. Soweit es nur irgend ging, probierte sie, aus ihren umfänglichen Tagebüchern Memoiren zu machen, die Schere des Zensors stets im Kopf. In Briefen an Stalin (den letzten schrieb sie neun Tage vor ihrem Tod) war sie bemüht, sich dabei abzusichern. Mit Zeichen der Huldigung war sie nicht kleinlich. Doch den "großen Führer", den neben Kollontaj einzigen Überlebenden der ersten Räteregierung, schien das nicht sonderlich zu rühren. Nichts, was der Rede wert gewesen wäre, wurde zu ihren Lebzeiten noch publiziert. Zwanzig Jahre vergingen nach ihrem Tod, bis das sowjetische Publikum eine Auswahl ihrer strohtrockensten Aufsätze und Ansprachen zu lesen bekam, noch länger dauerte es, bis man zusammengestückelte Auszüge ihrer Erinnerungen kaufen konnte. Von ihren feministischen Arbeiten war nichts dabei. 1980 erschien eine nochmals gekürzte deutsche Fassung in Ost-Berlin: "Ich habe viele Leben gelebt ..." stand auf dem Titelblatt.

Nicht zu erfahren war bisher, wie es geschehen konnte, dass sie die Zeit des Großen Terrors überlebte, dass Stalin, der in den dreißiger Jahren Hunderttausende treuer Kommunisten (auch Kollontajs Herzensmänner Dybenko und Schljapnikow) in den Tod und in die Lager schickte, die exzentrische Genossin ungeschoren ließ. Ein Sündenregister aufzustellen, das mit der Höchststrafe zu sühnen gewesen wäre, hätte den Schergen Stalins keine Mühe gemacht. Stattdessen war Kollontaj zwar zu Gesprächen nach Moskau beordert worden, doch mit heiler Haut davongekommen. Hypothesen nützen nichts. Auch die demnächst frei werdenden Teile des Präsidialarchivs scheinen wenig herzugeben. Was tatsächlich entscheidend für die Nachsicht Stalins war, wird wohl eine Rätselfrage bleiben - nicht die einzige im Leben dieser rätselhaften Frau.

10/2002

 *Der Autor ist Professor (em.) für Osteuropäische Geschichte an der Universität Tübingen
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