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Mieter MagazinNew York: Ein, zwei Jahre Spaß Attach:ny1.gif ΔImmigranten aus Zentral- und Osteuropa prägten lange Zeit den Bezirk im Südosten Manhattans. Die Tenements, die Mietshäuser der Lower East Side, waren für Millionen Flüchtlinge die erste Adresse in Amerika. Mitte der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts erging der Beschluss, dass die Lebensbedingungen in den Unterkünften der Immigranten verbessert werden müssten. Die Hausbesitzer konnten oder wollten die geforderten Umbauten jedoch nicht finanzieren, und so mussten die Einwanderer ihre Wohnungen räumen. Über ein halbes Jahrhundert später etablierte sich die Lower East Side als "ln-Bezirk". Schicke Modelabels präsentieren ihre Kollektionen in den verwitterten Schaufenstern der Tenements. Neue Clubs und Bars entstehen. Hinter den 150 Jahre alten Fassaden der ersten Sozialbauten Amerikas siedeln erneut Mieter, diesmal junge und vor allem finanzkräftige. "Als Erstes nagelte er seine goldene Schallplatte an die Wand", erinnert sich Michael Lewis an den Einzug seines ersten Mieters. Kurz davor hatte der Landlord, der Hauseigentümer, die gut erhaltene Backsteinwand frei gelegt und das Gemäuer vom Dreck der letzten Jahrzehnte befreit. Der Dampf seines Hochdruckreinigers spülte die hartnäckigen Ablagerungen betagter Maschinen zur Herstellung von Hosenträgern und industriell gefertigter Oberbekleidung in den Abfluss. "Überall schimmerten ölige Flecken, das Holz war modrig, die Apartments unbewohnbar", erzahlt er weiter. Das dreistockige Tenement der Familie Lewis wurde in den letzten Jahren vor der Renovierung ausschließlich gewerblich genutzt, wie fast alle Häuser in der Lower East Side. Die meisten waren ab Mitte der 30er bis Ende der 80er Jahre unbewohnt. Attach:ny2.gif Δ "Als der Mieter seinen Mietvertrag unterzeichnete, schrieb er gerade Songs für die Red Hot Chili Peppers und hatte einen Zweijahresvertrag mit einer Plattenfirma in der Tasche", erzahlt der Eigentümer. Nachdem der Vertrag auslief, musste der Musiker die Wohnung aufgeben. "Das war 1998. Er konnte sich die Miete für das Loft einfach nicht mehr leisten." Zu diesem Zeitpunkt wunderte sich Michael Lewis noch über die ho he Fluktuation in der Nachbarschaft. Inzwischen weiß er, dass kaum jemand länger als ein Jahr bleibt. "Die Mieten steigen ständig und die Klientel wird immer jünger", führt er als Gründe an. Derzeit sind alle drei Lofts über seiner ausgebauten Wohngalerie belegt. Die Mieter zahlen für 118 Quadratmeter zwischen 3000 und 3500 Dollar im Monat. Michael Lewis, der nur wenig von einem der gefürchteten New Yorker Landlords hat, wohnt im Erdgeschoss, umgeben von seinen Skulpturen aus gebrochenen Spiegeln, die er hier ausstellt und zum Verkauf anbietet. Davon kann er zwar nicht leben, sagt er, aber das kann er sich inzwischen leisten. Der Hype ist kurzlebig Die Orchard Street, an der sich auch das Tenement von Michael Lewis befindet, trennt die Lower East Side in einen östlichen und einen westlichen Teil. Die dunklen Hauserschluchten des Financial District liegen im Süd westen. An der Mundung der Manhattan Bridge wuchert Chinatown über die Grenzen. Der lärmende Broadway ist nah, aber weit genug entfernt, um die Lower East Side zu einem "ln-Viertel" zu erheben was nicht viel heißen will in New York, denn vielen ist es hier inzwischen zu schick, zu glatt, zu durchgestylt. Der "Hype" um die engen und dunklen Straßen im Sudosten Manhattans ist ebenso kurzlebig wie der in Greenwich Village oder im East Village, weiter nördlich. Seit 150 Jahren wandern die Schatten der charakteristischen Feuerleitern über die angeschlagenen Fassaden der alten Backsteinhäuser. Die Lower East Side wirkt wie ein Überbleibsel aus einer anderen Zeit, das im Schatten der Skyline überdauert hat. An den Fassaden der Tenements leuchten bunte Lichtreklamen und verdecken die abgasgeschwärzten Backsteine, verdunkeln die Wohnungen am Tag und tauchen sie in grelles Neonlicht in der Nacht. Im Norden verändert sich das Bild. Die traditionellen Einkaufsstraßen, wie die Orchard Street oder die Ludlow Street, werden ruhiger. Die Tenements sind jüngeren Datums oder frisch renoviert. Exklusive Apartmenttürme aus Glas und Stahl füllen die Baulücken. Die Luft verliert ihren übersattigten Geruch nach Fisch, nach frischem und faulendem Gemüse, nach schweißtreibender Hektik und Verkehr. Jüdische Schneider, die seit über 100 Jahren ihre Handwerkskunst in der Lower East Side anbieten, sind hier ansässig. Auf der Straße werden in großen, roten Tonnen koschere Mixed Pickels angeboten. Der Laden nebenan hat sich auf Unterwäsche spezialisiert. Am East River gibt es eine irische Gemeinde, Kinder früher Immigranten, die sich hartnäckig neben afroamerikanischen und lateinamerikanischen Einwanderern aus den 80er und 90er Jahren behaupten. Ganz am Ende der Ludlow Street, Ecke Houston, befindet sich das berühmte Feinkost-geschäft "Katz", in dem "Harry und Sally" zwischen würziger Pastrami und kreisendem Grillgut glückliche Momente erlebten. Durchschnittsmiete: 1800 Dollar Viele der drei bis vierstöckigen Häuser wurden von deutschen Einwanderern errichtet, zu einer Zeit, als es noch keine baulichen Bestimmungen gab. Dennoch gleichen sich die Gebäude, denn jeder Bauherr hatte das selbe Ziel: auf moglichst geringer Fla che die großtmögliche Anzahl Men schen unterzubringen. In manchen Neubauten der Lower East Side sind die Wohnungen noch genauso groß wie vor 150 Jahren, nur lebten und arbeiteten damals bis zu zehn Personen auf derselben Fläche, die heute ein erfolgreicher Architekt mit seinem Rassehund komfortabel und teuer bezahlt bewohnt. Um die Jahrhundertwende kosteten die Apartments 15 Dollar im Monat, inzwischen pendelt sich die Durchschnittsmiete bei etwa 1800 Dollar ein. Schon ab 1840 hatten die ersten deutschen Einwanderer New York erreicht und sich auf der Insel Manhattan niedergelassen. Unter ihnen befand sich auch Lukas Glockner, ein Schneider und Geschäftsmann, der das Haus an der Orchard Street 97 baute und selbst darin wohnte. Das Tenement ist heute ein "national historic landmark" und ein Museum, das das Leben der Immigranten um die Jahrhundertwende dokumentiert. "Die meisten Immigranten waren einfache Menschen, kamen aus ländlichen Regionen und landeten in einem der dicht besiedeltsten Orte der Welt", erklärt Steve Long, Vizepräsident des Lower East Side Tenement Museum. "Die Massen, die Dunkelheit auf den Straßen und in den Wohnungen war für viele etwas Neues, etwas Beängstigendes." In den 16 Apartments des Tenements Orchard Street 97 wohnten zwischen 1863 und 1935 etwa 7000 Menschen aus über 20 Nationen. Die ersten Mieter hatten weder Elektrizität noch einen Gasanschluss. Es gab kein fließendes Wasser und die Toilette befand sich auf dem Hinterhof. Ein enges, unbeleuchtetes Treppenhaus führte zu vier "Railroadflats" pro Etage. Die drei Zimmer der 30 Quadratmeter großen Apartments lagen hintereinander, aufgereiht wie Bahnwaggons, nur eines hatte eine direkte Licht und Frischluftquelle. Um Platz zu sparen, wurde kurzerhand auf den Korridor verzichtet. "Es muss unvorstellbar laut und stickig gewesen sein. Viele waren krank, starben an Tuberkulose oder anderen Infektionskrankheiten. Je der, der die Möglichkeit hatte, dort rauszukommen, nahm die Chance wahr und zog weg", sagt Steve Long. Einwanderer, die einen Job in einem der unzähligen Beer Salons, in einer Bäckerei, in einem Waschsalon oder in der Textilindustrie gefunden hat ten, konnten das Armenviertel in Downtown Manhattan verlassen. Sie machten Platz für nachrückende Generationen und neue Nationalitäten. 1935 mussten die Tenements endgültig geräumt werden, da sich die Hauseigentümer weigerten, die Quartiere gegen Brände zu sichern, die in der Vergangenheit teilweise verheeren de Katastrophen auslosten. Zu dieser Zeit kämpfte Amerika mit den Folgen des Börsencrashs und mit den Ausfallerscheinungen in der Bevölkerung nach der gerade überwundenen Prohibition. "Viele Landlords konnten sich die Umbauten in diesen Tagen einfach nicht leisten", erklärt Steve Long. Bis in die späten 80er Jahre standen die Wohnungen leer und verfielen, nur die Geschäfte und die Industrie blieben dem Viertel erhalten. Nadja Stokes besichtigte vor einem Monat ein Studio, ein Einzimmerapartment, in einem Neubau an der Orchard Street. Nadja ist 27 und hat gerade ihren Abschluss an der renommierten "Strasberg School" bestanden. Die neue Wohnung ist 20 Quadratmeter groß und kostet sie ab dem nächsten Monat 1250 Dollar, etwa 1050 Euro. Nadja wohnte vier Jahre in Brooklyn und pendelte jeden Tag nach Manhattan, um ihre Vorlesungen zu besuchen. Nach dem Studium will sie endlich mehr Zeit für sich, sagt sie. Sie will reisen und vor allem will sie Spaß haben. "Für freie Künstler ist es hier zu teuer geworden, und die Galerien sind nach Chelsea, in den "Meat Packing District" oder nach Brooklyn abgewandert", sagt Michael Lewis. "Die neuen Mieter sind junge und erfolgreiche Menschen, die für ein oder zwei Jahre ihren Spaß haben wollen." Die Bedürfnisse der heutigen Bewohner sind andere als vor 150 Jahren. Inzwischen kann sich Michael Lewis vorstellen, von hier wegzugehen und seine Wohnung zu vermieten. Aber solange die Kinder und Kindeskinder der frühen Immigranten die Straßen des Viertels beleben und die neuen Bewohner bewusst mit der Vergangenheit umgehen, respektieren wo her sie kommen, gibt es eigentlich keinen Grund dazu. Nicole Lindner / Gregory Verweyen http://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0404/hauptmm.htm?http://www.berliner-mieterverein.de/magazin/online/mm0404/040404b.htm Mieter Magazin 1+2/04 - S31/32/33 |