Das andere Engagement
Von wegen Utopieverlust: Der Neo-Existenzialismus hat eine große Zukunft - als Haltung, als Lebensform
Bei all den Würdigungen aus Anlass von Jean-Paul Sartres 100. Geburtstag sprang das jäh gegensätzliche Fazit ins Auge: Für die einen hat uns Sartre nichts mehr zu sagen, ist er ein Faktotum aus einer untergegangenen bürgerlichen Epoche, mit ihren Großintellektuellen und dem täglichen J'accuse. Für die anderen ist Sartres Existenzialismus das Denken der Stunde oder, wie das der Münchener Professor Hans-Martin Schönherr-Mann formuliert, die "Philosophie des Individuums für das 21. Jahrhundert".
Man muss Sartre ja nicht gleich zum ersten Denker der Risiko- und Optionengesellschaft machen, um zu schließen: Da ist etwas dran. Tatsächlich grassiert so etwas wie ein Neo-Existenzialismus. Vielleicht nicht als ausformulierte Philosophie, aber als Habitus, als Lebensform. Erinnern wir uns kurz an den klassischen Existenzialismus, als Denken, auch als Mode. Dessen Gedankenreihen gingen in etwa so: Der Mensch ist in die Welt geworfen. Er hat kein Wesen, das seiner Existenz vorausgeht. Er muss sich erst selbst erschaffen. "Der Mensch ist nichts anderes als das, wozu er sich macht", formuliert Sartre. Und, in einer berühmten Wendung: Er "ist dazu verurteilt, frei zu sein". Diese Philosophie ist natürlich auf einen individualistischen Grundton gestimmt: Vor dem Abgrund der Existenz ist der Einzelne allein. Aber er kann diese Fragen mit Anderen beantworten, seine Antwort wird zudem einen bestimmten Entwurf für das Zusammenleben mit Anderen beinhalten und seine Antwort ist auch immer eine Forderung an andere. Wirksam ist ein solches Denken, wenn es zur Mode wird, zur Haltung. Untrennbar ist mit ihm eine Verachtung für Konventionen und für das banale, vorfabrizierte Meinen verbunden. Als Lebensform entsprechen ihm alle Spielarten des Rebellentums. Schnell stößt es auf die Frage: "Wie weit bin ich bereit zu gehen?" Ich entwerfe mich selbst und mache mich selbst zum Einsatz. Von James Dean bis zur RAF lässt sich vieles in diesem Horizont deuten. Der Existenzialist bricht lieber alle Brücken hinter sich ab, als sich aus Feigheit zu fügen, als dass er mitmarschiert im Gleichschritt.
Das Paradoxe ist nun, dass eine solche Haltung heute sowohl an den Geist der Zeit anschließbar ist als auch an die vielfältigen Einsprüche gegen denselben. Die neoliberale Spielart des Existenzialismus ließe sich so formulieren: Jeder soll seine Potenziale nutzen, ein allseits entwickeltes Subjekt werden, einzigartig sein, sich täglich neu erfinden. Kurzum: eine Ich-AG sein. Die rebellische Spielart ist die neue Kultur des Dagegenseins. Die Frage "Wer will ich sein?" steht heute mehr denn je am Ausgangspunkt aller Arten von Revolten und Ausbruchsfantasien. Der postfordistische Kapitalismus hat die Sehnsüchte nach Selbstverwirklichung verallgemeinert. Es gelingt ihm, sie seinen Zwecken nutzbar zu machen, aber es bleibt immer ein Überschuss: Er muss, indem er alles ins Markt- und Warenförmige biegt, daran scheitern, diese Sehnsüchte vollends zu befriedigen. Revolten sind deswegen heute unmittelbarer als früher: Die Frage, was hat das mit mir, mit mir persönlich zu tun, steht im Zentrum. Alle sind auf der Suche nach dem authentischen Ich.
Avancierte Diskursjockeys werden hier einwenden: Was hat hier das Wort "alle" zu suchen? Signalisiert es nicht eine Homogenität, die fehl am Platz ist? Lebt die Vielfalt der verschiedenen Wege zum authentischen Ich nicht gerade von der Differenz? Gewiss, gewiss, nur ist diese Paradoxie Teil der Aporien, an denen dieses Feld so reich ist. Auch das Loblied auf die Differenz wird schon mal im Chor gesungen, die Vereinzelung gerät auch ein wenig zum Herdentrieb. Und die Verachtung für Konventionen kann zur Konvention werden.
Das verkompliziert vieles, heißt aber nicht, dass wir gar nichts tun können. Wer will ich sein? Wie will ich leben? Was macht eine sinnvolle Existenz aus - jenseits des Hamsterrads? Alles zeitgemäße Fragen. Wer sie stellt und praktisch beantwortet, verändert sich und auch die Welt. Klingt kitschig, trifft aber den Geist des durchschnittlich reflexiven Metropolenjugendlichen von heute. In diese Richtung verändert sich das, was man mit dem Begriff "Engagement" bezeichnen könnte. Es ist oft nicht einmal leicht als politisch erkennbar. Wir sehen: Der Neo-Existenzialismus hat eine große Zukunft. Die Blinden reden vom Utopieverlust. ROBERT MISIK
taz Nr. 7707 vom 5.7.2005, Seite 17, 145 Zeilen (TAZ-Bericht), ROBERT MISIK