Ich öffne den Internet Browser und klicke in der Favouritenleiste auf den roten Button mit dem Play-Zeichen. Sofort erscheint das vertraute Bild von Youtube. In die Suchleiste tippe ich: „Identitäre Bewegung stürmt Audimax.“ Es erscheinen mehrere Optionen den Wegen dieser Bewegung zu folgen. Ich entscheide mich für das kleine fast schwarze Bild, hinter dem ich ein Amateurvideo vermute. Es öffnet sich. Von nun an sitzen wir also im Publikum, in der lichtlosen Zone, auf der Tribüne des Audimax, den Blick auf die mit Scheinwerfern beleuchtete Bühne gerichtet. Dort steht ein etwas verkrampfter, ratloser Haufen, die Hände nach unten hängend, etwas verängstigt dreinblickend und reagiert auf das Geschrei eines kleinen Mannes, der vor ihnen wie ein Kobold auf und abspringt. Er sagt ihnen Sätze auf Deutsch vor und die Gruppe muss sie wiederholen. Er ist der gütige Held, der den anderen beibringt, wie es hier läuft. Unterhalb des Screens erfahre ich, dass dieses Amateurvideo von Division C18 hochgeladen wurde, das Profilbild bestehend aus einer NS-Flagge. Klar ist jetzt von welchem Platz aus ich dem Theaterstück folge.

„Wo werden wir?“ - „Wo werden wir?“ - „unsere“ - „unsere“ - „eigenen“ - „eigenen“ - „Knochen“ - „Knochen“ - „vergraben?“ - „vergraben?“. „INTERVIEW!“ Klaviermusik setzt ein, zwei Personen lösen sich aus der Gruppe und der Kobold setzt sich auf einen Stuhl. „Wie heißt er?“ „Nuri.“ „Ja eh, Herr Nuri was frag ich Sie...Herr Nuri, wann hatten Sie ihren letzten Traum?“

In diesem Moment unterbricht ein Megaphon das Interview mit einem in österreichischem Dialekt geraunten „Höh Höh Höh..“ , das mich irgendwie an den Nikolaus erinnert.

„...dies wendet sich nicht gegen die Menschen auf der Bühne, sondern gegen euch. Wir sind die europäische Jugend ohne Migrationshintergrund und wir klagen euch heute an...“

Von nun an überschlägt sich die Stimme aus dem Megaphon. Im Saal wird es laut, obgleich wir weiter im Dunklen sitzen, auf dem Sitz der Division C18. „Nazis raus! Nazis raus!“ mischt sich unter die unverständlichen Sätze des Nikolaus. An den Rändern des auf die Bühne gerichteten Lichtkegels, kann man erkennen wie Rangeleien zu Schlägereien werden. In der Mitte, hell erleuchtet von den Bühnenscheinwerfern, immer noch unbeweglich, stocksteif und noch verängstigter, die zu einem Haufen zusammengedrängte Gruppe von Geflüchteten.

Teil 1 des Videos endet. Ich erspare mir Teil zwei und wähle aus der rechten vom Algorithmus vorgeschlagenen Leiste: „Aktionsvideo Audimax“ aus, auf dem kleinen Bild vermute ich, ist das Porträt von Elfriede Jelinek zu sehen. Bevor ich das Video sehen kann läuft ein Werbespot mit dem Slogan „Mit unserer Chemie machen wir die Fußball-EM zum Fest für Fans. Wir unterstützen die schönste Krankheit der Welt, das Fußballfieber.“ Es ist einer dieser Werbespots, die so kurz gehalten sind, dass man sie nicht überspringen kann. Das Video beginnt.

„Elfriede Jelinek ist eine österreichische Autorin, die Österreich hasst. Sie sagte in einem Interview, auf die Frage was ihr die Kraft zum Schreiben gebe: Es ist wirklich ein quälender, blanker Hass gegenüber diesem Land. Jelinek wurde von der linken Kulturpolitik von Preisen überhäuft...“

Ich glaube hinter der Stimme des Sprechers den Nikolaus von vorhin zu erkennen. Seine Sätze sind primitiv mit Bildern und Daten illustriert.

„..2013 schrieb sie das Stück die Schutzbefohlenen, um auf das Aufkommen des Asylthemas aufmerksam zu machen. In diesem Stück wird für offene Grenzen und Masseneinwanderung geworben. Die Multikultis waren begeistert...“

Hier erscheint ein Schwarz-weiß Bild von schreienden Schauspielern.

 „..und wieder wurde es mit Preisen überhäuft. 2015 wurden dann die Grenzen geöffnet. Seit dem haben wir den Terror von Paris und Brüssel und die Vergewaltigung von Köln erlebt.“ 

Bilder von Toten schwarz-weiß, nur das Blut ist rot. Köln wurde vergewaltigt und das wird jetzt untermauert mit einer halbnackten, lachenden Frau im EU-Kleid.

„Die Multikultis haben uns den Terror und das Chaos nach Europa gebracht. Ihre Schutzbefohlenen zeigen ihr wahres Gesicht. Trotzdem haben sie nichts gelernt...“

Mir wird ein bisschen langweilig und ich klicke das Video auf der Zeitleiste nach vorne.

„Aber heute soll alles anders kommen.“ Geigenmusik setzt ein. „Um 19 Uhr versammeln sich identitäre Aktivisten in der Nähe der Uni. Ihr Ziel. Sie wollen das Blut von Bataclan auf die Bühne des Audimax bringen. Sie wollen für ihre Zukunft aufstehen und Gesicht zeigen. Sie wollen einer ganzen Generation von Multi-Kultis ins Gesicht sagen, was sie sind: Heuchler.“

Jetzt folgt ein Zusammenschnitt der Szenen die wir zuvor vom Publikum aus verfolgt haben. Ich schließe den Browser. Der Desktop leuchtet stabil. Ich spüre ein leichtes Ziehen im Magen. Das Bild von den Geflüchteten, ein leerer, geheimnisloser Haufen zwischen den über sie hereinbrechenden Interessen, wirkt eine Weile in mir nach. Beheimatete, die versuchen an den abstehenden Resten der abgetrennten Fäden der Heimatlosen, die Fäden nach ihren selbstsüchtigen Intentionen neu zu knüpfen.

Wie kommen wir auf die Idee, das Blut von Bataclan auf eine Bühne in Wien bringen zu wollen? Wie kommen wir auf die Idee, Geflüchtete als Schutzbefohlene abgestempelt auf eine Theaterbühne zu stellen und sie erneut in Gefahr zu bringen?

Ich verlasse den Schreibtisch. Das Internet hat mich durstig gemacht. Neuerdings trinke ich dazu immer eine Kanne Schwarztee mit Zitrone, nur eine halbe Zitrone und ohne Zucker. Das ist fast schon eine Gewohnheit von mir geworden. Mindestens einmal am Tag eine Kanne Tee neben dem Internet. Den Flur durchquerend denke ich wieder an sie und dass ich mich noch so sehr anstrengen kann, ich bekomme einfach keinen Zugang zu unserer gemeinsamen Vergangenheit. Gestern Nacht war ich wach gelegen, hatte mir das Hirn ausgewunden, mir Geigenmusik vorgestellt und wollte mich ganz bewusst erinnern an unsere gemeinsame Basis und alles was kam war ein Bild von ihrem Fuß wie sie im Wald den Fahrradständer ausklappt und lässig das Fahrrad an der Lichtung abstellt. Sonst nichts, nur Rauschen. Und dennoch ist da ein schmerzhafter Verlust, ein abgetrennt sein von etwas. Ein zerschlagenes Netz aus Gewohnheiten und intimen Geheimnissen, das sich meinen bewussten Versuchen der Inszenierung von Nostalgie entzieht. Ich finde mich in der Küche wider, ratlos. Was wollte ich hier gleich nochmal? Seit wir mitten in dieser schmerzhaften Trennung stecken, die weder eine Bewegung in die eine noch in die andere Richtung zulässt, passiert mir das in letzter Zeit öfters, diese Verwirrung der eigenen Intentionen mitten in der von Gewohnheiten umwobenen Wohnung stehend, nicht mehr wissend was mich überhaupt in die Küche geführt hat. Ich kehre um und stehe wieder im Flur. Unser Flur ist wirklich hässlich. Wir wohnen zu viert in einer Wohngemeinschaft, die uns unsere Vorgänger in einem schrecklich studentischen Zustand hinterlassen haben. In der Praxis bedeutet das für den Flur: ein bis zu halber Höhe giftgrün gestrichener Gang, darüber ein kackbrauner Streifen als Zugabe. An den Rändern stehen Regale mit nutzlosem Zeug gefüllt, wie Weihnachtsdekoration oder leere Pakete von Amazonbüchern. Ich ziehe meine Schuhe an, stecke die Schlüssel in die Hosentasche und beschließe zum Baumarkt zu gehen um weiße Wandfarbe zu kaufen. Vielleicht ist es heute so weit, der ideale Tag um den Gang zu streichen.

Als ich auf die Straße trete blendet mich die Sonne. An der Ampel muss ich warten, als ich sie überquert habe verdunkelt sich der Himmel. Auf der anderen Straßenseite spüre ich die ersten Tropfen. Seit Tagen wechseln sich Sonne und Regen im Stundentakt ab. Alle warten auf den Sommer und beständige Hitze, das Wetter aber bleibt unentschieden und jedes mal wenn ich denke, heute wäre ein Tag zum Schwimmen, fallen wieder die Tropfen. Ich wische über mein Telefon und beantworte den Anruf von Anna. „Na?“ „Na was machst du?“ „Ich bin auf dem Weg ins Paradies.“ „Soso. Also geht’s dir besser oder richtig schlecht?“ „Naja schlechten Menschen geht es immer gut. Ne Quatsch, ich geh grad zum Baumarkt, Gartenparadies und so. Wandfarbe kaufen und in die Zukunft gucken. Magst du mit?“ Anna ist begeistert und erzählt mir, dass sie eh mit dem Fahrrad auf dem Heimweg von der Kunsthochschule sei und in zehn Minuten dort sein könne. Außerdem brauche sie sowieso noch ein paar spezielle Schrauben für ihr nächstes Projekt, eine spezielle Installation für eine Ausstellung in einem Hotel, das demnächst abgerissen werden soll. Bevor dann die Luxussuiten kommen, soll es nochmal für ein paar Tage ordentlich alternativ werden. Ich gelange in die Peripherie, zum Baumarkt ist es jetzt nicht mehr weit. Unter den S-Bahngleisen hindurch lädt die Straße nicht zum Überqueren ein. Über endlos lange Parkplätze entlang an einem aus länglichen Betonplatten bestehenden Flachbau führt der Weg in eine rettende Bucht. Der hässliche orangefarbene Turm, der den Namen dieser Heimwerkerkette verrät erinnert an moderne evangelische Kirchenbauten. Das obere Drittel des Flachbaus ist ebenfalls orange angestrichen, die Fensterrahmen sind blau, die Buchstaben so groß wie ich. GARTENPARADIES; BETON NATÜRLICH, EINGANG. Ein Bauzaun gegenüber grenzt die Bucht ab, die Bäume dahinter verdecken den weiten Blick über den Parkplatz. Der Flachbau ist ein bisschen zu niedrig um die obersten Stockwerke der dahinter liegenden Schuhkartonsiedlung zu verdecken. Ich setze mich auf eine der zum Verkauf ausgestellten Terassenbänke. Die Bucht ist länglich geschnitten und lädt zum Wandeln ein. In der Mitte sind in zwei Reihen aus Aluminium bestehende Hochbeete auf Rädern aufgereiht. Darin wartet das Grüne auf die Wandelnden. An den Rändern der Bucht: der Gartenwäscheständer Leifheit, natürliche Betonplatten im Ständer, eine riesengroße Amphore und aus Paletten zusammengespackste Gartenmöbel, bereits schön verwittert. „Mei macht's ned immer so negative Stimmung. Des werd scho. Mir ist des ja Wurscht.“ Unter den meditativen Bewegungen der gleichmäßig an den Pflanzen Entlangschreitenden taucht die kleine Frau auf. Sie hat orange gefärbte Haare und zieht einen Gartenschlauch hinter sich her. An ihrer Haut sieht man, sie raucht und macht ihren Job gerne. Mit dem länglichen Duschkopfaufsatz tut sie den Pflanzen was Gutes. Sie hinterlässt eine Spur aus Pfützen auf dem Asphalt. Die Bewegungen der Übrigen ähneln sich: konzentrierter, vertiefter Blick, plötzliches Innehalten, die Hand schnellt nach vorne, greift zu, zieht den Fang aus dem Getümmel, hält ihn fest am Rand des Plastiktopfs, streckt ihn vor sich in die Luft. Jetzt beginnt der kognitive Part. Die Brille rutscht nach vorne auf die Nase, man kann die Zukunft sehen. Es arbeitet im Getriebe, der über Jahre gewachsene Vorgarten des Selbst gerät wieder in Bewegung, ein neuer Frühling, neue Pflanzen braucht das Land. Von links schlurft der Partner die bereits erbeuteten Dinge im Wagen hütend heran. Beide drehen sich einander zu. Die Pflanze wird hochgehoben, gedreht und abgewogen. Der Partner legt den Kopf schief, schiebt die Unterlippe nach vorne. Die Augen des Fängers leuchten, der Partner rümpft die Nase, wackelt mit den Schultern und nickt schließlich. Die Zukunft wandert in seine Arme, sein Weg in die Heimat steht offen. Von nun an wird Druifkruid ein selbstverständlicher Teil der Gartenerde sein. Die beiden Götter wandeln weiter, sie haben noch nicht genug von diesem schönen Tag, beschwingt geht die Suche weiter, schließlich lebt man und das nicht zu schlecht, eigenständig und frei, kreativ und voller Tatendrang.

Neben dem Eingang ist ein großes Werbeplakat angebracht. Darauf eine angeschnittene junge männliche Rückenfigur, die den Blick des Betrachters auf seine attraktive Ehefrau lenkt. Diese posiert lässig vor einer aus Holz bestehenden Wiege, herausfordernd in meine Richtung blickend, den Akkuschrauber wie einen Revolver noch in der linken Hand. Ich denke an sie und dass sie auch immer so geschickt war wenn es um handwerkliche Tätigkeiten ging, überhaupt bei all unseren Projekten, hatte sie den praktischen Teil ganz klar in der Hand gehabt. Zusammen hatten wir uns wie Helden gefühlt, einen geheimen Code entwickelt, uns für einzigartig gehalten in unserer Liebe, erhaben gegen jede Art von Cliché. Es war so, als hätten wir unbewusst ein Netz aus Geheimnissen gewoben, die gehütet und geheiligt wurden, vor den Blicken der anderen, in der Überzeugung, wir wären die einzigen Hüter von intimen Geheimnissen, mit einer Art besonderem Zugang, den wie wir glaubten nur wir kannten. Auch wir waren zusammen häufig in den Baumarkt gegangen, hatten stundenlang in der Farbabteilung die auf unzähligen kleinen Papierstreifen abgedruckten Farbtöne diskutiert, die passenden Schrauben in unser Gute-Nacht-Gebet eingeschlossen, zusammen Mörtel in die Zwischenräume der Backsteinwand gedrückt und das eine oder andere komische Kunstobjekt zusammen gebaut. Gerade als wir es uns recht hübsch eingerichtet hatten und die Abenteuer gänzlich in mystische Gewohnheiten umgewandelt waren, kam Erasmus. „Sag es mit deinem eigenen Projekt“ steht in großen weißen Buchstaben neben der Frau mit dem Akkuschrauber und im Anblick dieses Projektpärchens neben der Entfremdung durch das Erasmussemester wirkt diese mir vor kurzem noch so heilige, geheime Netz vollkommen banal. Zwischen diesen kitschigen Buddastatuen aus Granit sitzend, fühle ich mich durch die zuvor so schmerzhaft und hässlich empfundene Veränderung und Entfremdung, seltsam befreit von dem Nebel, der letzte Nacht noch meinen Blick getrübt hatte. Ich konnte die Vergangenheit vielleicht zum ersten mal sehen, als das was sie war, eine von Geheimnissen umwobene, verkitschte Hübschheit, eine Liebe unter vielen, vollkommen gleichwertig mit dem Druifkruidpärchen von vorhin oder dem Projektpärchen auf dem Plakat. Peinlich berührt und froh darüber, dass es Erasmus gibt, betrete ich den Flachbau. Vorbei an zwei kleinen Geschwistern am Eingang durchquere ich die Eingangsschleuse. Das beruhigende Gedudel der Mainstream-Musik aus dem Radio mischt sich mit der beeindruckenden Flut an Dingen in Regalen, auf Paletten und in großen Warenkörben. Neben einem Berg von verschieden farbigen Plüschkissen bleibe ich stehen. Neben mir steht eine weiße Puppe, die mich eine Zeit lang nicht mehr loslässt. Am meisten gruselt mich die Tatsache, dass sie kein Gesicht hat, oder besser gesagt, sie hat eins, aber bestehend aus lieblos, aus schwarzer Pappe ausgeschnittenen und aufgeklebte Papierfetzen, die zwei Augen, einen Mund und eine Nase darstellen sollen. Durch die aufgeklebten Gesichtszüge wirkt die Puppe noch leerer, als wenn man die runde, weiße Plastikkopfform so gelassen hätte wie sie war. Damit sie nicht nackt bleibt und ihren Zweck erfüllt, hat man ihr einen gelben Regenponcho mit schwarz-rot-gelbem Kragen übergeworfen und einen Deutschlandstoffhut aufgesetzt. Die Ausrüstung wird komplettiert durch eine sportlich geschnittene Sonnenbrille die im Kragen hängt. Die so oft beschworene tief in die Geschichte zurückgehende Verwurzelung hier im Abteil neben den Gartengeräten, im Baumarkt, wo sich Künstler, Handwerker, Bastler, Wohneigentümer, Mieter, Mütter und Singles über den Weg laufen, steht hier ganz unbeteiligt herum als das was sie ist: in der Hektik des alltäglichen Konsumbetriebs, verzweifelt aufgeklebte Heimat. Im Hintergrund hängen an einer Regalwand, die mir so vertrauten Plastikstühle in drei verschiedenen Farben. Von den unzähligen Stunden, die ich auf ihnen in Projekträumen verbracht habe kenne ich sie nur in der Farbe schwarz, was zweifelsohne unter ästhetischen Gesichtspunkten auch die vorteilhafteste Wahl ist. Ich stelle mir vor, wie jemand mehrmals mit dem Auto zum Baumarkt fährt um 30 dieser Plastikstühle zu kaufen und dass dies eine der ersten Handlungen all dieser Projekträume sein muss, die man nie mitbekommt, weil man immer nur teilnimmt. Genau in diesem Moment neben der deutschen Pappnase neben mir frage ich mich, wer eigentlich immer diese ganzen Plastikstühle in die Projekträume bringt und ob ich das auch mal machen würde.

Mit dieser seltsamen Faszination, die der Baumarkt jedes mal in mir auslöst schreite ich weiter durch die Gänge. In der Laternenabteilung springen, durch den Fernmelder ausgelöst, die Energiesparlampen der Reihe nach an. Kurz bleibe ich an einem der kleinen Flachbildschirmen stehen, die installiert sind, um das eine oder andere Produkt zu erklären und seine unschlagbaren Vorteile anzupreisen. „...mit dem Smartphone Garagentoröffner von Schellenberg, lässt sich ihr bestehendes Garagentor ganz einfach nachjustieren. Schon können sie ihr Garagentor ganz einfach mit ihrem Smartphone öffnen und schließen, der Signalempfang erfolgt per Funk über eine scan-sichere Kodierung. Zusätzlich ist das Öffnen und schließen des Tores nur dann möglich, wenn ihr Smartphone auf den Garagentoröffner angelernt wurde. So bleibt Unbefugten der Zutritt verwehrt. Insgesamt können bis zu fünf Smartphones gekoppelt werden. So kann die ganze Familie das Garagentor bequem per App steuern, und das ohne zusätzliche Kosten...“ Ich ziehe weiter und verlasse das Gebäude durch einen Seitenausgang. Draußen ist eine weitere Bucht mit Pflanzen und Gartenmöbeln. Auf einer Hollywoodschaukel entdecke ich Anna. Sie ist in einen Text vertieft und sieht mich erst nicht. Wir begrüßen uns in der üblichen Beiläufigkeit und ich lasse mich neben sie in die Schaukel fallen. Sie streckt mir ein Cornetto-Eis entgegen. Sie weiß eben was gut ist. Anna ließt einen Text für ein Seminar mit dem Titel „Fremde Bilder“. Der Text ist von Vilem Flusser und trägt den Titel „Wohnung beziehen in der Heimatlosigkeit“. Sie ließt mir eine Stelle vor:

„Das in der Prosa und Dichtung gerühmte und besungene Heimatgefühl, diese geheimnisvolle Verwurzelung in infantilen, fötalen und transindividuellen Regionen der Psyche, widersteht der nüchternen Analyse nicht, zu welcher der Heimatlose verpflichtet und befähigt ist. Zwar zu Beginn dieser Analyse, nach dem Verlassen der Heimat, ergreift das analysierte Heimatgefühl die Gedärme des Sich-selbst-Analysierenden, als ob es sich umstülpen wollte. Aber, nach dem erwähnten Umschlagen der Vertriebenheit in Freiheitstaumel, der Frage frei wovon? In die Frage frei wozu?, wird die geheimnisvolle Verwurzelung zu einer obskurantischen Verstrickung, die es jetzt wie einen gordischen Knoten zu zerhauen gilt. Der Sichselbst-Analysierende erkennt dann, bis zu welchem Maß seine geheimnisvolle Verwurzelung in der Heimat seinen wachen Blick getrübt hat. Er erkennt nicht nicht etwa nur, dass jede Heimat den in ihr Verstrickten auf ihre Art blendet und dass in diesem Sinn alle Heimaten gleichwertig sind, sondern vor allem auch, dass erst nach Überwindung dieser Verstrickung ein freies Urteilen, Entscheiden und Handeln zugänglich werden.“

„Aha! Die, die dort bleiben, die stehen still. Wie ist das bei dir und deinem Elternhaus eigentlich?“ Frage ich.

Ich mein, ich seh das auch nicht mehr so als...Es macht für mich überhaupt keinen Sinn mit meiner Elterngeneration oder mit meiner Großelterngeneration so total zu brechen. Dafür sind die vielleicht einfach doch zu aufgeschlossen. Aber trotzdem wenn ich da geblieben wär, das wär schon puh...

Aber es ist schon auch so, dass das alles so Hippie-Eltern sind. Also ich merke ganz stark, dass ich da mit manchen Dingen überhaupt nicht einverstanden bin, aber das es nicht so leicht ist sich da von etwas abzugrenzen oder diese Punkte zu lokalisieren.

Ja stimmt unsere Eltern haben sich ja abgegrenzt, gegen so was Disziplinarisches. Ja oder so dieses Patriarchale und auch dieses Hierarchische...und das war einfach auch so ein Brechen mit so veralteten Denkweisen und das stimmt, das ist bei uns vielleicht...

Das würd mich aber schon mal interessieren, was du da denkst, also einerseits dieser totale Bruch, der keinen Sinn macht und trotzdem aber eine ähnliche Kritik, dass da was veraltet ist, sich eine komische Denkweise festgefahren hat in den Denkweisen der Hippie-Eltern und Wutbürger?

Ich glaube, dass ist auch so ein Punkt, bei dem ich vielleicht die letzten paar Jahre gemerkt habe, dass ich eine andere Denkweise entwickelt hab als mein Vater oder meine Mutter und ich glaub, das war schon ein ganz schöner Bruch, aber man akzeptiert dann dennoch dieses, vielleicht hast du das auch, dass man manchmal so ein bisschen die Eltern als allwissend angesehen hat und das musste sich schon brechen. Das ist vielleicht auch familiär abhängig, aber ich fände das wichtig mit einer Generation in Verbindung zu bleiben.

Ich hab da schon ganz viel drüber nachgedacht...also am Anfang vom Kunststudium dachte ich immer: aber es gibt doch keine Jugendbewegung mehr...

haha

Ja! Und irgendwie so total bescheuert auch, weil man das auch immer so als Vorbild oder anziehend wahrnimmt.

Und jetzt gibt’s nur diese scheiß Indies und die alternativen Radiosender heißen Ego-FM!

Total frustrierend.

Ja schon ich war sehr frustriert weils nichts gab..

...womit man sich identifizieren kann oder wie?

Ja vielleicht ist das auch so eine Sehnsucht nach einer Art Heimat und wenn ja brauchts die?

Meinst du jetzt die 68er?

Ja oder die Punks.

Oder weißt du wen ich toll fand, die Beats oder in Deutschland hießen die glaub ich Gammler.

Die ersten großen Backpacker haha.

Toll!

Ja! Und ich bin dann von Zuhause weg und wollte reisen weißt du, raus in die Welt und Abenteuer erleben und dann merk ich so, so in der Art, die gibt’s gar nicht mehr.

Haha, scheiße das ist bitter.

So öde mensch! Dieses Backpackervolk...dass das so ein Hauptstrom ist.

So populär?

So eine Verwertung in dem „Sich-Von-Zuhause-Absetzen“ beim Saufen in Laos. Was mir da so spontan einfällt ist so ne, also keine Ahnung, so eine Spaßsache, Berghein oder so. Drogen nehmen und rumfahren.

Aber ich seh das jetzt auch ganz anders. Braucht es vielleicht nicht.

Die Einzelgänger?

Ja einerseits mobile Strukturen denken, weg von der Indentifikations-Falle wo man von einem Hauptstrom geschluckt wird, in einer Bewegung davongerissen wird, verwertet wird und andererseits dass man auch versucht nicht von dem einzigen großen Hauptstrom der Selbstverwirklichung und der Selbstausbeutung geschluckt zu werden, also der Gefahr dann nur noch den vom Wert gelenkten eigenen Intention zu folgen.

Aber wie kann man dann den Indentitären etwas entgegensetzen, deren rückwärtsgewandten Interessen verhindern?

Ja ich glaube dass man denen schon etwas entgegensetzen kann.

Gehst du manchmal auf Anti-Pegida- oder Pro-Asyl-Demos?

Ne irgendwie nicht. Aber warte im Text gibt es auch eine Stelle, warte...also da geht es um Migranten und was die auslösen:

„Eben diese Geheimnislosigkeit des Migranten aber macht ihn für Beheimatete unheimlich. Die nicht zu verleugnende Evidenz des Migranten, diese nicht zu verleugnende Häßlichkeit des Fremden, das von überall kommend in alle Heimaten eindringt, stellt die Hübschheit und Schönheit der Heimat in Frage. Und da der Beheimatete Heimat mit Wohnung verwechselt, stellt dies sein Bewußtsein, sein Sein in der Welt überhaupt in Frage. Das Unheimliche am Heimatlosen ist für Beheimatete die Evidenz, nicht etwa daß es zahlreiche Heimaten und Geheimnisse gibt, sondern daß es in naher Zukunft überhaupt keine Geheimnisse dieser Art mehr geben könnte.“

hm.

Ok, dachte es passt vielleicht. Warst Du denn auf solchen Demos?

Ich war zwei oder drei mal.

Und wie wars?

Naja ich fands total schlimm.

Weil das auch diese Bewegung war oder wieso?

Naja weil das auch so total unpolitisch ist oder naiv politisch. Also vielleicht ist das der Punkt wo ich mit den Eltern brechen würde, diese Love and Peace auf diesen Demos und dann so ein komisches Helferverständnis. Da werden dann ohne Scheiß Schlauchbote mitgetragen als Zeichen der Solidarität... und ich denk mir was ist das denn für ein Bild?

Aber in dem Fall ist es schon wieder so eine Massenteilhabe and was, was so gut geheißen wird und da sind vielleicht auch viele dabei, die vergessen, dass da auch ein schwieriger Konflikt dahintersteckt und das es gilt sich mit dem auseinanderzusetzen und das geht eben nicht nur mit Peace und Love und einem Fest mit Trommlern.

Und wär es für Dich eine Lösung eine Helferposition einzunehmen? Oder dieser Integrationsgedanke: Ja wir schaffen das.

Helferposition würd ich nicht sagen und Integration auch nicht. Nicht so zu denken, die müssen wir jetzt integrieren, eher versuchen es als Ausgangspunkt zu nehmen, eben das alles ganz neu und anders zu denken und das muss man dann natürlich auch praktizieren.

Ich hatte da ein interessantes Gespräch mit meiner Mama, die ist Sozialpädagogin und Systemtheoretikerin und die hat mir erzählt sie hilft jetzt einer Frau aus Syrien und die hätte ihr was gebacken und sie eingeladen und sie hätte ihr Sachen organisiert und vorbeigebracht und jetz will sie sie auch mal einladen. Und ich hab dann gefragt ob sie die denn überhaupt sympathisch findet. Dann musste sie erst mal nachdenken und eine Woche später meinte sie das wäre eine gute Frage gewesen, weil klar will sie helfen aber, dass sie gemerkt habe ohne zu überlegen eine Freundschaft anzufangen, vielleicht nur aus dem Gefühl heraus sich in der Helferposition so selbst zu bestätigen und ohne die andre Person überhaupt zu sehen.

Ja und das ist doch auch mit der Demo verbunden.

Wie meinst du?

Naja, dass das naiv politische Selbstbeweihräucherung ist. Man geht da hin und feiert sich selbst dafür so bunt und weltoffen zu sein.

Und am Ende schreibt man dann anderen Leuten vor wie man politisch korrekt zu sprechen hat, sitzt in seinem romantischen Garten vor dem Eigenheim in der Hollywoodschaukel und fühlt sich geil.

Genau das hat mich gestört, dieses Sich-Selbst-Feiern mit Schlauchbooten, afrikanischen Trommeln und Rosen auf diesen Demos ohne das man sich aneinander an einer Krise abarbeitet und den Keller der eigenen Werte mal entrümpelt.

Haha ja, weißt du was!?

Ne?

naja, das ist es doch was wir alle in diesen Reihenhäusern in der Vorstadt von unseren Eltern mit auf den Weg gegeben bekommen haben.

Das Gefühl auf der richtigen Seite zu stehen, zu den Guten zu gehören im Kampf gegen den bösen Kapitalismus und dann fahren wir mit dem Rucksack raus in die große Welt und verkörpern ihn beim Saufen in Laos auf irgendeiner Dachterrasse in der Hostelbar.

Oder in einer Diskussion im Baumarkt in einer Hollywoodschaukel?

Wir müssen lachen. Anna fängt an in einer Broschüre für Gartenteiche zu blättern. Dort stoßen wir auf ein Diagramm, das den Kreislauf eines sich selbst säubernden Teiches erklärt. Ich steh auf um die Cornetto-Eisverpackung loszuwerden. Als ich zurückkomme hat Anna angefangen das Diagramm abzuzeichnen oder besser, umzudeuten. Ich setze mich wieder neben sie und versuche mich auch darin, was mir nicht so sehr gelingt. Zum Zeichnen bin ich noch zu aufgekratzt.

Als ich wieder in der Wohnung bin, ein bisschen betüdelt, von der ganzen Zerstreuung merke ich, dass ich die Wandfarbe vergessen und Hunger habe. Ich betrete die Küche, öffne den Kühlschrank und muss mit Bedauern feststellen, dass ich nur noch eine halbe Packung Bratwürste habe. Seufzend nehme ich mir vor in Zukunft das mit dem Wohnen und den Gewohnheiten mal hinzubekommen, täglich zu frühstücken, regelmäßig einzukaufen und alle diese Dinge. Wohnen sei ja okay, sagt dieser Flusser und präsentiert dann noch seinen ethischen Aufruf, den ich vergessen habe. Die Bratwürste knistern im Fett und werden langsam braun. Ich versuche mir zu erklären wieso ich den Text am Ende doch unsympathisch fand. Vielleicht weil es so eklig biografisch war? Sachte, damit ich mir die Finger nicht verbrenne, fische ich eine Wurst nach der anderen aus der Pfanne und platziere sie auf einem kleinen Brotzeitteller mit rosa Rosen verziert. Auch wieder einer, der wusste wie es funktioniert denke ich mir und gehe wieder in mein Zimmer, öffne das Notebook und den Livestream des ersten deutschen Fernsehkanals. Es läuft das EM Gruppenspiel Deutschland gegen Polen. Die Würstchen füllen zumindest den Magen. Wie ich das so aufschreibe kommt es mir vor als hätte ich die hässlichsten Gewohnheiten der Welt. Das Fußballspiel plätschert so vor sich hin. Am Ende bleibt es ein langweiliges Null-Zu-Null. Die Moderatoren werden ganz hysterisch, die Experten sind enttäuscht von der Performance. Ich schalte aus und packe meine Sachen für den nächsten Tag. Ich habe einen frühen Flug gebucht nach Hamburg, noch so ein Schreibprojekt, ein Magazin zum Thema Heimat. Eigentlich dachte ich es wäre einfach eine gute Abwechslung mal hier raus zu kommen. Auf andere Gedanken kommen, nicht immer an sie denken müssen und ob das jetzt Verkitschung war oder nicht. (echt schlimm dieses Schreiben im Kopf) Vor dem Einschlafen skype ich mit meinem Freund aus Athen. In einem Kunstprojekt iniziiert anlässlich der Finanzkrise 2008 haben wir uns vor zwei Jahren kennengelernt. Seitdem haben wir uns ganz schön aneinander abgearbeitet. Politisch im direkten Sinne waren wir aber nie. Wir machen das Licht aus und schicken und abwechselnd Songs auf Youtube. Der Screen bleibt auf beiden Seiten schwarz, nur wenn einer von beiden an seiner Zigarette zieht kann der andere kurz das Leuchten sehen und erahnen wo sich sein Gegenüber befindet. Wenn ich das aufschreibe klingt es kitschig, so lange es aber privat bleibt, eine persönliche Gewohnheit, darf es uns ruhig heilig sein, dieses kitschige Ritual.