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Die hohe Zeit dokumentarischer Kunst - 16.02.2004

Das ist die Berliner Kluft

Proseminar für Subkultur: Die dritte Berlin-Biennale gibt sich theoriestark und trist

Wenn du ins Museum gehst, vergiss die Lesebrille nicht! Vor die Kunsterfahrung hat die dritte Berlin-Biennale das Proseminar gesetzt. Allüberall in den „Kunst-Werken“ und im Martin-Gropius-Bau studieren ernsthafte, junge Menschen „Subversionsreader“ und „Urban-Warfare“-Theorien, versenken sich in Diagramme und Statistiken zur Hauptstadtwerdung des ehemaligen Subventions-Dorados, und manchmal sieht man einen Kunstbetrachter in ein Foto der Mauerfall-Tage oder in eine Collage zur Schloss-Simulation vertieft, als wolle er diese Erinnerungen wie ein Bilder-Junkie auf Entzug in sich aufsaugen.

Es ist zweifellos ein schönes, wenn auch harmloses Bild, wie hier junges, modisch gekleidetes Hauptstadtpersonal gewissenhaft auf Uni macht. Es ist ja nicht so, dass die Berlin-Biennale, die sich in feinstem Marketing-Neusprech „berlin biennale“ schreibt, keinen visuellen Input liefern würde. Dass die neue Generation Öl auf Leinwand mit ihren eher leichten, sinnlichen Genüssen hier nahezu gänzlich fehlt, ist sogar ganz angenehm. Nur hat die Art und Weise, wie die Kunst hier in diverse Reflexionsschleifen geschickt wird, leider auch Nachteile. Und das liegt nicht zuletzt an den so genannten „Hubs“.

Was ist und wozu braucht man ein „Hub“? Darunter lässt sich vieles fassen: ein Marktplatz, ein Archiv oder schlicht jede Form von Knotenpunkt, an dem viele Fäden zusammenlaufen. Diese topografische Metapher ist so modisch wie nichts sagend: ein typisches Globalisierungsgeschöpf. Es stammt bezeichnenderweise aus der Computertechnologie und meint den Datenverteiler eines Netzwerks; auch bei Flughäfen, die sich als Drehscheiben des Luftverkehrs verstehen, spricht man von „Hubs“.

Dass es nun also auch bei der dritten Berlin-Biennale für zeitgenössische Kunst fünf „Hubs“ gibt, zeigt vor allem, wie sehr sich Kuratorin Ute Meta Bauer dem Globalisierungsesperanto ihrer nomadisierenden Kollegen verpflichtet fühlt. Die Themen, als da wären „Migration“, „urbane Konditionen“, „sonische Landschaften“, „Moden und Szenen“ sowie „anderes Kino“, sollen also Theorie-Drehscheiben sein, an die die ausgestellten Kunstwerke andocken und von denen sie diskursiv versorgt werden.

Grau, lieber Kunstfreund, ist alle Theorie: „Kunst ist so diskursiv wie ein Text“, sagt Bauer – und lässt in Katalog und Ausstellung noch einmal die sozio- und subkulturellen Theorie-„Hubs“ der letzten Jahre Revue passieren: Die elektronische Musikproduktion im Wohnzimmer hat das Atelier als Ort neuester Mythengenese abgelöst. Frauen sind derzeit die interessantesten „Musiker Innen?“ in Berlin. Die Architektur der DDR wird systematisch aus dem Stadtbild ausradiert. Der öffentliche Raum wird zunehmend privatisiert; „gefährliche Orte“ stehen unter Dauerüberwachung, ganze Stadtviertel werden luxusgerecht verhübscht. Die wahren Verteilungskämpfe finden an den Rändern der Festung Europa statt. Mode ist mehr als nur Kleidung. Und immer wieder gern genommen: Das Ganze ist das Unwahre – von den ausgeblendeten, subkulturellen Randzonen her sollen der Kultur neue Visionen soziokultureller Glückseligkeit erwachsen.

Von Hub zu Hub

Das Ziel soll sein, das einheitliche Klischee vom neuteutonischen Berlin aufzubrechen, reaktionäre Marketingkonzepte zu unterlaufen und eine Kritik der kapitalistischen Metamorphose Berlins zu etablieren. Nur: Wo bleiben die neuen Ideen, wenn der Kuratorenblick vor allem ein selbstvergewissernd rückwärtsgewandter ist, die Tiefen der jüngeren Kunstgeschichte auslotend? Die Berlin-Biennale ist vor allem ein Resümee und Dêjà-vu bereits bekannter Konzepte der Neunziger, wenn nicht der Siebziger – ein „dreidimensionales Magazin“, wie Ute Meta Bauer es nennt.

So sitzt man also da, im Hub „Sonische Landschaften“, die Kopfhörermuscheln über den Ohren, und eine Musikerin erzählt in einem Video gestenreich, dass das Gitarrespielen männlichen Masturbationsbewegungen gleiche – sie selbst wolle lieber weibliche Masturbationsbewegungen imitieren, also auf Knöpfe drücken. Das ist zumindest mal ein angenehm ironisches Statement zur elektronischen Musik von Frauen, und von Malaria! bis Chicks on Speed oder Peaches ist in den Kunst-Werken entsprechendes Videomaterial zuhauf abrufbar.

Zu den aufregenderen Trouvaillen gehört auch Mika Taanilas Filmporträt über den finnischen Elektro-Pionier Erkki Kurenniemi, der Hirntätigkeiten über den Tod hinaus speichern will: Selten wurde Buckminster Fullers Sentenz vom Computer, der von der Tyrannei der Gene befreie, so assoziationsreich bebildert. Hier ist die Biennale originell, weil sie die ausgetretenen Pfade der Sozio-Kunst verlässt. Dagegen ist der Mode-Hub ziemlich überflüssig: Behängte Kleiderpuppen und -bügel, wohin man blickt: Das also ist sie, die Berliner Kluft, aha. Einzig Walter van Beirendonck, der unter seinem Label „aestheticterrorists“ 120 Wrestler in aberwitzigem S&M-Latex-Look über den Laufsteg schickt, oder das Duo „_fabric interseason“, das am Rande der Pariser Prêt-à-porter-Schauen die eigene Kollektion in einer Art absurder Demo-Performance vorführt, wagen Grenzüberschreitungen.

Sehr viel mehr Raum und Gewicht nimmt in der Schau der Catwalk urbanistischer Phantasien, die Metamorphose Berlins im Rahmen des Hauptstadt-Hype ein. Von den migrantentauglichen Zelten, Westernhütten und Containern Bert Neumanns, des Chefausstatters der Volksbühne, die eine billige Bauwagensiedlungs-Atmosphäre à la Kreuzberg schaffen, über David Lamelas’ filmische Überflug-Kartografien, die Berlin als ewige Baustelle zeigen, bis hin zu Willie Dohertys tristen Aufnahmen nächtlicher Beton-Ödnis oder den surrealen Szenen aus Ulrike Ottingers Berlin-Trilogie: Berlin wird in den zahlreichen Foto- und Videostrecken als graue Maus, als verfallendes Gebilde inszeniert, das Spekulanten und Schlossbefürwortern schutzlos ausgeliefert ist. Wem die Tristesse zu viel wird, der kann sich im Martin-Gropius-Bau unter wackliges Zeltgestänge flüchten, wo aus urbaner Datenflut bunte 3D-Plastiken werden: Jesko Fezer und Axel John Wieder machen aus Statistik niedliche Kunststoffgebilde, die aussehen wie utopische Weltraumstädte – oder wie zerlaufender Käse.

Am Ende wird die Schau sogar unfreiwillig komisch: etwa wenn Leberecht Migge, der Vater der Schrebergärten, als Erfinder „transitorischer Zonen“ gepriesen wird, oder wenn Sissel Tolaas aus Kleidergerüchen von Reinickendorf bis Charlottenburg glamouröse Parfüms kreiert, die die „Grundessenz Berliner Identität“ in sich tragen sollen: So viel Stadtmarketing würde auch Wowereit freuen.

Kein Wunder, dass Isaac Juliens fiktional verschachteltes Film-Triptychon „Baltimore“ über den Blaxploitation Actionfilmer? Mario van Peebles von der Kritik gefeiert wird: In Zeiten der Berlinale flüchtet man sich vor der Theorie am liebsten in professionelles Kino. Was bleibt, sind viele Anliegen, wenig Erkenntnisse und eine umfassende Nachwende-Melancholie. Es ist, wie auf der letzten und der vorletzten Documenta und wie vermutlich auch auf der nächsten, die hohe Zeit dokumentarischer Kunst.

HOLGER LIEBS

Kunst-Werke und Martin-Gropius-Bau Berlin, bis 18. April. Filmprogramm im Kino Arsenal ab 18. Februar. Kurzführer 12 Euro, Katalog 30 Euro (in der Ausstellung).

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