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Kleine Ariseure, große Profiteure

Der Streit um die Sammlung Flick ist nur eine gewaltige Ablenkung von der unzureichenden Entnazifizierung nach 1945

Von Jens Jessen

Es fällt nicht leicht, ein Wort zur Güte zu finden, das den unseligen Streit um die Flick-Sammlung schlichten könnte, die unter dem Dach der Stiftung Preußischer Kulturbesitz in Berlin gezeigt werden soll. Was hat sich der Enkel des berüchtigten Rüstungsfabrikanten zuschulden kommen lassen, dass man ihm die Leihgabe seiner Gemälde zum Vorwurf machen könnte? Man wird ihm die Verbrechen seines Großvaters kaum persönlich nachtragen können; zumal er sie niemals bestritten hat. Im Gegenteil wolle er, so hat Friedrich Christian Flick einmal gesagt, seiner dunklen Familiengeschichte mihilfe der Kunst eine hellere Seite hinzufügen. Aber auch das kann, selbst wenn die Formel naiv klingen mag, nicht verboten sein. Zumal die Bundesrepublik als Ganze, das hat Flick dann wieder sehr hell- und scharfsichtig formuliert, seit je ihre Legitimation aus dem festen Willen bezog, besser als ihre nationalsozialistische Vergangenheit zu sein.

Vielleicht liegt darin aber, nämlich in der geradezu emblematischen Verknüpfung mit der Geschichte der Bundesrepublik, das Problem der Sammlung: Der Großvater ein in Nürnberg verurteilter Verbrecher, der Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in seinen Fabriken schuften ließ – der Enkel ein Mäzen, der seine Kunstschätze in der glänzendsten aller deutschen Museumsstiftungen ausstellen kann. Und beide schöpfend aus demselben unermesslichen Vermögen, das auch die in Nürnberg beschlossene Zerschlagung des Flick-Konzerns überlebte. Ist das der Gang der Entnazifizierung in Deutschland? Salomon Korn, der stellvertretende Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, hat in seiner Empörung die polemische Frage gestellt, ob sich die Öffentlichkeit mit derselben Leichtigkeit auch eine Göring-Sammlung übereignen ließe, wenn es denn einen kunstsammelnden Göring-Enkel gäbe.

Das Symbolische hat Konjunktur

Doch bedarf es solcher Überspitzungen nicht, um sich die Augen zu reiben, wenn es gelänge, innerhalb zweier Generationen dem Nazi-Erbe eine hellere Seiten hinzuzufügen. In Wahrheit spricht wenig dafür. Der ganze Streit, der keineswegs nur von jüdischer Seite geführt wird, spricht vielmehr dafür, dass der Versuch einer Normalisierung misslingen wird, selbst wenn die Flick-Galerie ungestört zustande kommt. In den Köpfen der Besucher wird es stets ein begleitendes Raunen geben: Dies ist also die Sammlung jenes Flick, dessen Großvater damals – und so weiter und so fort bis in alle Ewigkeit oder jedenfalls über viele weitere Generationen hinweg.

Insofern kann Salomon Korn beruhigt sein. Die Normalisierung, die er, wenn man alles Undeutliche beiseite räumt, im Kern vor allem anderen fürchtet, wird nicht kommen, zumindest nicht in jenem Reich der Namen und Symbole, um das es hier geht. Denn das ist das wirklich Beunruhigende, dass von tatsächlicher Schuld und Sühne gar nicht mehr die Rede sein kann. Die faktische Normalisierung hat schon vor langer Zeit stattgefunden. Die Nazis sind bestraft oder auch nicht bestraft, enteignet oder auch nicht enteignet, auf jeden Fall schlussendlich in den neuen Staat aufgenommen worden, und man kann an ihren Nachkommen nicht mehr exekutieren, was an ihnen selbst versäumt worden ist. Der Großvater Flick hat seine Strafe bekommen und (zumindest teilweise) abgesessen; dass sein Vermögen nicht vollständig entzogen wurde, wird man dem Enkel nicht vorwerfen können. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, dass er als Privatmann keine Zahlung an den Fonds zur Entschädigung der Zwangsarbeiter leistete, denn seine Firmen haben die Zahlung geleistet.

Mit anderen Worten, alle Vorwürfe, die heute erhoben werden, betreffen nur mehr das luftige Reich der Gesten und Haltungen, der angemessen zerknirschten Miene, der Etikette und des Takts im Umgang mit der Leidenserinnerung der Opfer und Enterbten. Das allerdings sind Dinge, so schwer sie moralisch wiegen, die in der juristisch verfassten Öffentlichkeit des Rechtsstaats kaum verhandelbar sind, sie wären allenfalls der Kollektivaufsicht einer pietistischen Gemeinde zugänglich. Das heißt freilich nicht, dass sie erledigt oder unerheblich sind. Vielmehr zeigt die Konjunktur des Symbolischen, die sich im Umgang mit dem Nazireich ausgebildet hat, auch das Hysterische und Denunziatorische, das damit einhergeht, wie schwer das Versäumnis der ersten Nachkriegsjahre wiegt. Damals hätte man gründlich verfolgen, gründlich anklagen, gründlich bestrafen müssen. Damals hätte grell ans Licht treten müssen, was heute erst durch geduldige Forschungen erwiesen wurde: dass nicht einige wenige Großverbrecher, schon gar nicht allein das Monopolkapital, sondern das deutsche Volk in seiner überwältigenden Mehrheit mitschuldig geworden ist, mindestens aber von der nationalsozialistischen Herrschaft profitierte.

Hitlers Reich ist unser Fundament

Was ist mit dem kleinen Ariseur in der Nachbarschaft, was mit dem kleinen Mordschützen an der Ostfront geschehen? Nichts ist geschehen, und dieses damals nicht Geschehene ist es, was die Enkel heute auf dem Ersatzfeld des Symbolischen ausfechten. Man kann durchaus beklagen, dass der alte Flick nicht vollständig enteignet wurde. Aber dann müsste man auch beklagen, dass Millionen anderer Deutscher den Gewinn nicht verloren, den sie aus der Naziherrschaft zogen. Die ganze Gesellschaft der Bundesrepublik mit ihrem Egalitarismus, mit ihrem Mangel an alten Eliten und der Vorherrschaft aufgestiegener Kleinbürger, ist ein Produkt der Nazizeit und wäre nicht so, wie sie ist, wenn nicht Hitler sein gewaltiges Umverteilungsprogramm auf Kosten der Minderheiten, der europäischen Juden zuvörderst, und der besetzten Länder durchgeführt hätte.

Die Bundesrepublik als Ganze steht in einer erschütternden Kontinuität zum „Dritten Reich“ und den Folgen des Zweiten Weltkrieges, die durch nichts mehr aufzulösen ist, und diese Kontinuität ist es, die in den Gewissen der unschuldig Nachgeborenen wühlt und schwärt und hier und da und immer wieder nach Ausdruck drängt, auch bei eigentlich untauglichen Anlässen wie der Flick-Sammlung und der fast gleichgültigen Frage, ob sie nun ausgestellt werden soll oder nicht. Letztlich ist die Empörung über den Flick-Enkel und seinen vermuteten Unernst im Umgang mit der Vergangenheit nur eine gewaltige Ablenkung von der unzureichenden Entnazifizierung nach 1945. Damals hat man den Staat neu gegründet, aber die Gesellschaft auf den Fundamenten des Hitler-Reichs bestehen lassen. Spät erst hat Daniel Goldhagen mit seiner These von dem Volk williger Vollstrecker den Blick darauf gelenkt, und noch später, nämlich jetzt erst, haben deutsche Historiker, allen voran Götz Aly, begonnen, das empirische Material dazu zu liefern. Diesen Blick zu wagen und auszuhalten ist vielleicht das Einzige, was den Nachgeborenen bleibt, um so etwas wie moralische Würde in der unfreiwilligen Kontinuität zu behaupten. Es wird aber nicht ausreichen, den hilflosen Gespensterdebatten um Symbole die Nahrung zu entziehen.

(c) DIE ZEIT 03.06.2004 Nr.24

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