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Boheme mit Lebensversicherung

Wovon wir reden, wenn wir von der Angst vor Abstieg reden. Ein Feuilletongespräch über den Fall durch das soziale Netz und den forcierten Kampf um Anerkennung.

- Ich frage mich, ob bestimmte Befindlichkeiten in letzter Zeit immer öfter im Zeichen des Abstiegs interpretiert worden sind, weil das eine Vokabel ist, die gesellschaftlich bereits inflationär kursiert. Sätze wie "Es wird weniger" und "Es wird härter", "Es wird schlimmer" hört man ja an jeder Ecke und in jedem Milieu. Ich weiß aber nicht, ob das richtig ist. Man redet viel zu schnell vom Abstieg, wo man im Grunde über Stagnation oder über noch ganz andere Begriffe reden müsste.

- Ich persönlich habe keine Abstiegsangst. Meine Angst ist rein ökonomischer Natur. Ich habe Angst, dass ich mich und mein Kind nicht mehr ernähren kann. Ich glaube nicht, dass ich lüge, wenn ich behaupte, dass das die einzige Angst ist, die ich habe. Ich bin Mitte 40 und ich denke, dass es Mitte 30 anders ausgesehen hätte, weil die Dynamik meiner Biografie mir gesagt hätte: Du musst was werden. Das gilt heute nicht mehr. Ich kann sagen: Für meine Bedürfnisse bin ich genug geworden. Das hat vielleicht etwas damit zutun, dass ich eine Frau bin. Ich bekomme das in Gesprächen mit Kollegen manchmal mit, dass das für Männer anders aussieht. Die reagieren gekränkter, wenn sie aus dem Berufssystem gekickt werden. Ich betrachte es dagegen als Vorteil, nicht fest angestellt zu sein. Mann kann mich also auch nicht kündigen. Irgendwie hänge ich immer auch der geheimen Hoffnung an, dass die Arbeit einmal aufhört. Ich habe ein inneres Parallelleben, das sagt: Ich bin keine arbeitende Frau. Ich lebe also mehr von einer Ausstiegshoffnung als mit einer Abstiegsangst.

- Das hört sich hart nach einer Art 80er Jahre-Modell an. Aussteigen war keine Phantasie, es machte damals fast jeder. Wir kennen alle die Leute, die irgendwann für ein paar Jahre nach Südamerika abhauten. Dann waren sie plötzlich wieder da und machten dort weiter, wo sie aufgehört hatten. Und ein vermeintlicher gesellschaftlicher Wohlstand erlaubte ihnen das. Die ökonomische Basis für dieses Ein- und Aussteigen wird heute nicht mehr in dem Maße bereitgestellt.

- Man hat nicht mehr die Wahl. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass Leistung Wahlmöglichkeiten eröffnet. Dass, wenn man sich anstrengt und etwas bringt, es stetig nach oben geht. Und das stimmt heute so nicht mehr.

- Man kann ja mal versuchen, es zu zerlegen. Man braucht Geld. Vielleicht nicht sehr viel, aber man braucht es. Und man braucht Anerkennung. Ohne die würden wir alle nicht antreten, um in der Zeitung zu veröffentlichen.

- Ich möchte als gerade 31jährige gegen die eben formulierte Ausstiegshoffnung das Einstiegsbegehren setzen. Ich bin seit drei Jahren mit dem Studium fertig. Seitdem habe ich in sieben Städten gewohnt, bin 15mal umgezogen, ich habe fünf Praktika und zwei relativ gut bezahlte, aber nur projekbezogene Jobs gemacht, bin sechs mal nach New York geflogen, um eine Beziehung aufrecht zu erhalten, und einmal wurde mir zwischendurch ärztlich ein Erschöpfungssyndrom diagnostiziert. Ich will einsteigen und bin von der Ausstiegssehnsucht also weit entfernt.

- Ich glaube das mit der Abstiegsangst einfach nicht. Auf was steigt man da eigentlich ab. Wir reden immer noch von Stagnation, von eingeschränkten Möglichkeiten. Woher kommt da das Angstgefühl?

- Zumindest sind die beiden Währungen, in denen schlechter bezahlt wird, genannt worden. An Geld und Anerkennung kommt man im Augenblick nicht so leicht heran.

- Ich glaube, dass es noch um mehr geht als um Geld und Anerkennung. In einer Falte meiner Seele verspüre ich die Angst, ins Bodenlose zu fallen. Ich stelle mir dann vor, dass ich in einen Raum falle, wo mich nichts mehr hält. Das ist weit mehr als eine Metapher für den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme. Es ist die Angst vor einem großen Schweigen. In diesem Raum hört einen niemand mehr.

- Das ist die Beschreibung eines Identitätsverlusts.

- Ja. -

Das ist aber etwas anderes als Abstiegsangst. Man kann mit Wittgenstein sagen: Hier kenne ich mich nicht mehr aus.

- Es hat aber mit der Erfahrung zu tun, dass es in der Gesellschaft, zu dem, was man tut, nicht unbedingt eine Entsprechung gibt. Ein Gegenüber, von dessen Existenz man immer überzeugt war, ist abhanden gekommen. Ich war kürzlich auf dem Arbeitsamt, um mich zu erkundigen, was passiert wenn ich meinen Job verliere. Da stellte man mir in Aussicht, Sozialhilfe zu beantragen. Für diesen Fall müsse ich aber meine Bedürftigkeit nachweisen. Danach hatte ich das erste Mal richtig Abstiegsangst. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was ich anzubieten habe: ein gutes Abitur, verschiedene Fähigkeiten, zwei Berufsausbildungen, immer hart am Ball gewesen. Bedürftigkeit nachweisen passt nicht in mein Weltbild.

- Ich möchte meine eingangs geäußerte Skepsis noch einmal wiederholen. Sind wir nicht dabei, unglaublich zu dramatisieren? Ist es denn wirklich so schlimm?

- Zumindest muss man fragen, woher die Beschreibungsenergie kommt, die uns die Abstiegsängste ausmalen lassen. Nur eine soziologische Anmerkung dazu: Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich beschreiben als eine hochgradige Individualisierung von Lebenslagen, die vor einem stabilen ökonomischen Hintergrund stattfand. Zwischen 1965 und 1990 hat eine lang anhaltende Phase eines nachholenden sozialen Wandels stattgefunden. Die Phase, in der wir uns nun wiederfinden, gleicht eher einem drohenden sozialen Wandel, der sich natürlich am stärksten im drastischen Umbau der Sozialsysteme niederschlägt. Das ist der Hintergrund, vor dem wir uns selbstverständlich fragen dürfen: Habe ich Angst? Ist es nicht eher so, dass uns die Frage noch immer nicht so richtig berührt? Ich bin Mitte 40 und habe mich bisher nicht um die Riester-Rente und so einen Kram gekümmert. Was das individuelle Verhalten angeht, bewege ich mich immer noch wie ein 20-Jähriger. Ich lebe verschwenderisch, habe kein Sparbuch und erwarte kein Erbe. Alle sozialpolitische Einsicht, über die ich verfüge, hat sich in lebenspraktischer Hinsicht noch nicht geäußert.

- Was Du da beschreibst, ist das, was man "Über die Verhältnisse leben" nennt. Das ist aber nichts Individualistisches, sondern ein Symptom. Das tun momentan sehr viele. Ich finde es auffällig, dass in solche Fragen enorm viel Deutungsenergie investiert wird. Ich habe den Eindruck, dass das kompensatorisch für einen Sachverhalt ist, in dem ich nicht mehr Herr meiner Entscheidung bin. Die Akteursherrlichkeit der 80er Jahre ist vorbei. Die schöne Selbstbestimmung ist dahin. Es, die Ökonomie und Globalisierung, entscheidet wieder für mich. Und darauf reagieren wir gekränkt. - Die ökonomische Ideologie, die wir tagtäglich reproduzieren, oder die uns tagtäglich reproduziert, ist ja das genaue Gegenteil davon. Nur wer Verantwortung für das übernimmt, was er tut, hat überhaupt eine Chance. Wir müssen ein Vokabular und ein Verhaltensrepertoire entwickeln, das so etwas wie Individualität bestehen lassen kann.

- Wir müssen aber noch eine andere Unterscheidung treffen. Es gibt die Ängste derjenigen, die drin sind, und es gibt die Ängste derjenigen, die hineinwollen ins System. Macht es für einen, der draußen ist, überhaupt Sinn, von Abstiegsängsten zu reden?

- Bei mir hat der Abstieg in dem Moment begonnen, als ich mich von meinem Elternhaus gelöst habe. Meine Eltern haben mich immer ausreichend unterstützt, aber je mehr ich mich von ihnen entferne, desto mehr steige ich ökonomisch ab. Ich verlasse eine Form der Stabilität. Da ich aber im Moment nicht sehe, dass ich eine vergleichbare Stabilität aus eigener Kraft erreichen kann, würde ich das schon als Abstiegserfahrung beschreiben. Ich versuche ständig, Brücken zu schlagen, eine nach der anderen, immer wieder über den gleichen Fluss, aber ich habe das Gefühl, an keinem Ufer bleiben zu können. Das geht in meiner Generation vielen so. Die Leute fangen an zu promovieren, schulen um auf Lehramt, machen Aufbaustudiengänge oder Praktika. Wir qualifizieren uns zu Tode. Man entwickelt sich auch, aber man tritt noch mehr auf der Stelle; man ist die ganze Zeit in Bewegung, aber man kommt nicht an.

- Das ist wirklich ein großer Unterschied zu uns, wenn ich da noch mal aus der Tantenperspektive reden darf. Es war auch für mich wahnsinnig schwer, hereinzukommen. Und ich habe es mir auch schwer gemacht. Ich hatte bis 35 ein extrem verbummeltes Leben. Ich bin angefangen auf der Basis von fünf Mark am Montag und stand vor der Frage: Kaufst Du Dir Zigaretten oder den Spiegel. Ich hatte dabei Arbeitsphasen, in denen ich einen Monat lang das Gesamtwerk eines Schriftstellers gelesen und einen weiteren Monat gebraucht habe, darüber einen Text zu schreiben, für den es dann 800 Mark gab. Ökonomisch trat ich also auch extrem auf der Stelle. Ich hatte aber die Gewissheit, dass es an mir liegt, ob ich über diese Brücke gehe. Man lässt mich gehen, wenn ich denn durchhalte. Es gab nicht das Gefühl einer von außen herangetragenen Aussichtslosigkeit. Die Brücke stand nicht im Niemandsland. Sie führte ins feuilletonistische Leben.

- Wir sind in dem Glauben, dass es so sei, ja auch noch zur Uni gegangen. Wir haben investiert, in dem Glauben, dass am Ende auch etwas dabei herauskommt. Und plötzlich steht man wie vor einer gläsernen Wand. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich vielleicht mehr in mein persönliches Glück investiert als in Qualifikation und Beruf.

- Aber die Frage ist auch hier angebracht: Ist es vielleicht auch eine Einbildung? Lässt man sich etwas vormachen? Verfügen wir über reale Erfahrungen, die zu Abstieg führen?

- Eins wird man auf jeden Fall sagen können, wahrscheinlich sogar empirisch nachweisbar: Es gibt so etwas wie die Wiederkehr des Schicksals. Es trifft immer mehr Leute und es kann jeden treffen. Es gibt ehemals gut bezahlte arbeitslose Manager und Unternehmer, die nie wieder zum Zuge kommen werden. Beschreiben tun wir das aber eher noch in den alten Kategorien von Oben und Unten, Neid und soziale Gerechtigkeit.

- Man kann sagen, dass sehr viel Larmoyanz mit im Spiel ist, eine kollektive Wehleidigkeit. Die Empfindlichkeit wächst, wenn man plötzlich drei, vier Leute in seinem Umfeld hat, die es trifft, die suchen und nicht finden, obwohl sie alle etwas können.

- Ich lebe ja noch in dem Glauben, dass mir etwas zusteht, wenn ich Leistung bringe.

- Ich weiß nicht, ob die Situation so ganz neu ist. Ich frage mich, ob ich nach Abschluss meines Studiums nicht genau das erwartet habe, was eben mit der Brückenmetapher beschrieben worden ist. Ich war dann aber plötzlich überrascht, dass alles so gut klappte, dass meine Artikel gedruckt und gesendet wurden, dass es also so etwas wie einen gesellschaftlichen Bedarf an meiner Arbeit gab.

- Du hast also nicht erwartet, dass Du für das, was Du anbietest, Anerkennung zu bekommen?

- Ja.

- Das geht mir manchmal auch so, Ich beschreibe mir das manchmal als die Erfahrung von Gnade. Man macht etwas und wird dann doch noch aufgenommen in einen Mechanismus oder Betrieb. Was daraus folgt, ist die Erkenntnis, dass wir nicht mehr nach funktionierenden Akteursmodellen operieren. Hier bin ich, klarer Plan, und dann geht es von A nach B. Wir operieren stattdessen mehr mit Unschärfen und Unwägbarkeiten.

- Heißt das, dass die Abstiegsangst den schlimmsten Befürchtungen, die man immer schon hatte, spiegelt?

- Das ist gut beschrieben: Es verwirklicht sich die schlimmste Vorstellung, die man sich von der eigenen Existenz machen kann.

- Ich habe damals Phantasien von einer Art existenzieller Verfallsform gehabt, das heißt, ich fühle mich nicht mehr so rund, geglückt, knusper, sondern eher marginalisiert. Ich wollte deshalb damals weg von der Uni. Das erschien mir als eine Sackgasse.

- Arbeitet ihr an Alternativmodellen? Denkt ihr über ein anderes Leben nach?

- Für mich ist die härteste Herausforderung meine Sandkastenfreundin, die mit ihrem Mann jetzt wieder in dem Ort wohnt, wo wir aufgewachsen sind. Familienhaus, zwei Autos, zwei Kinder. Sie ist damit aufrichtig zufrieden. Das ist das extreme Gegenbild zu meinem Leben, aber ich finde das durchaus verlockend. Aber ich weiß instinktiv auch, dass das für mich nicht in Frage kommt.

- Was wir immer wollen, ist den Mittelklassewagen vor der Tür stehen zu haben und uns unseren Neigungen hinzugeben.

- Ja, genau. Wild und gefährlich im Mittelklassewagen fahren.

- Ich glaube, dass ein gewisser Größenwahn eine Rolle spielt. Wird sind halb bürgerlich und halb Boheme. Und im Grunde sind wir beleidigt, dass man uns aus dieser Behausung verscheucht. Wir haben plötzlich kein Geld mehr und können den ganzen Nachmittag vor einem Milchkaffee im Gartencafé sitzen.

- Von Abstieg wird man aber erst dann so richtig reden können, wenn der Mann der Sandkastenfreundin den sicheren Job verliert. Und sowas kommt ja vor.

- Die Ängste, die wir an uns selbst erfahren, ärgern mich. Das ist ein gewisser Kleinmut, den ich nicht zulassen möchte. Ich frage mich, wie ich mich mit den Verhältnissen umarrangieren kann. Also nicht: mit den Verhältnissen arrangieren. Könnte ich also sagen: Naja, ich habe jetzt mein Leben damit verplempert, Karriere zu machen. Und was tue ich jetzt?

- Mein Leben verläuft zur Zeit nicht abenteuerlich. Das kommt auch durch den Beruf. Es war schon einmal sehr viel abenteuerlicher. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass ich mich sehr leicht in verschiedene Sachen hineinsteigern kann. In einer Pizzeria arbeiten oder so etwas. Ich weiß nicht, ob ich dahin zurück möchte, aber ich weiß, dass ich das Abenteuerliche auch vermisse.

- Ich habe nicht das Verlangen danach, mit Abenteuerlust in einer Pizzeria zu arbeiten. Ich will mit dem weiterarbeiten, was ich aufgebaut habe. Ich habe viel Zeit darauf verwandt herauszufinden, was für Qualitäten ich habe. Die will ich jetzt auch einsetzen können.

- Wenn ich mir Leute anschaue, die viel jünger sind als wir, dann wird mir auch angst und bange. Wer jetzt ins Berufsleben startet, ist mit vollkommen bizarren Begriffen wie Ausbildungsplatzabgabe konfrontiert. Das hat gar nichts mehr mit etwas selbst Gewähltem zu tun. Ich möchte jetzt nicht 200 Absagen auf 200 Bewerbungen bekommen, weil die Firmen niemanden einstellen. Man kann also mit noch viel stärkeren Restriktionen und mit noch weniger Alternativen zu tun haben. Das hat für mich etwas mit mangelnder Lebendigkeit und Mangel an Abenteuer zu tun.

- Gibt es noch eine Vorstellung von einem geglückten Leben? Vieles, was gesagt wurde, hört sich so pragmatisch an. Da kommt von links und von rechts eine große Zange und es wird immer enger. Kommt da noch was anderes?

- Ich habe keinen großen Lebensentwurf mehr, sondern denke mittlerweile extrem kurzfristig. Es überfordert mich, über den nächsten Schritt hinauszudenken, mir Gedanken zu machen, was ich in die nächste Bewerbung schreibe und wie ich den nächsten Umzug plane.

- Ich frage mich, ob das, was eben etwas süffisant als halb Mittelstand, halb Boheme beschrieben worden ist, nicht schon die Lösung ist. Selbst die Wirtschaft hat sich das ja eine zeitlang zunutze gemacht. Die IT-Branche hat ja gerade die jungen Kreativen angesogen. Die Garagenfirmen, in denen alles mögliche entwickelt wurde, denken wir uns ja heute auch irgendwie als das wilde Leben. Und Bill Gates sieht ja immer noch so aus wie der harmlose Typ in Ghostbusters, der von den Geistern beseelt ist. Also nochmal: Warum nicht Boheme mit Lebensversicherung?

- Man kann sich natürlich fragen, ob das nicht eine extrem luxuriöse Verengung ist, in der wir die Fragen nun diskutieren.

- Aber der Typus, von dem eben die Rede war, war ja das Leitbild der New Economy, der unternehmerische Einzelne, der engagiert und kreativ ist und mit Umsicht sein Leben im Griff hat. Die New Economy ist kaputt und dem Typus geht es auch nicht mehr so gut. Das Problem ist, dass es im Augenblick kein funktionierendes Leitbild gibt. Die ganzen maroden Firmen, in denen sogar die Manager über Gehaltsverzicht reden, geben kein Leitbild ab.

- Die Unternehmensberater, die diese Firmen aufpeppeln sollen, irgendwie auch nicht.

- Ich stelle mir schon seit einiger Zeit die Frage: An welchem Sozialexperiment nehme ich eigentlich teil?

- Wir erleben in nicht gekanntem Ausmaß, dass eine Gesellschaft sich unter den Auspizien der Schrumpfung versucht, sich zu reorganisieren. Aus solchen Überlegungen wurden vor 30 Jahren die ökologischen Utopien gestrickt. Die Grenzen des Wachstums waren ja nur durch Schrumpfung und Beschränkung zu überwinden. Und nun erfahren wir diese Schrumpfung und sitzen alle da wie geplättet und bekommen den Mund nicht mehr auf.

- Ökonomisch gesehen gab es ja immer ein großes Vertrauen auf das Schumpeter-Wort von der "schöpferischen Zerstörung". Die Wirtschaft ist auch eine Krake, die einen mit in den Abgrund reißen kann. Aber aus den Trümmern erwächst dann wieder etwas. Was wir im Moment erleben, ist die Zerstörung, aber wir können nicht sehen, was daraus hervor gehen soll. Das ist es, was uns zu schaffen macht.

- Es ist eine Fähigkeit gefragt, die es uns ermöglicht, zurückzugehen und zu fragen: Was passiert jenseits meiner Betroffenheit?

http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=483084

Ich frage mich, ob bestimmte Befindlichkeiten in letzter Zeit immer öfter im Zeichen des Abstiegs interpretiert worden sind, weil das eine Vokabel ist, die gesellschaftlich bereits inflationär kursiert. Sätze wie "Es wird weniger" und "Es wird härter", "Es wird schlimmer" hört man ja an jeder Ecke und in jedem Milieu. Ich weiß aber nicht, ob das richtig ist. Man redet viel zu schnell vom Abstieg, wo man im Grunde über Stagnation oder über noch ganz andere Begriffe reden müsste.

- Ich persönlich habe keine Abstiegsangst. Meine Angst ist rein ökonomischer Natur. Ich habe Angst, dass ich mich und mein Kind nicht mehr ernähren kann. Ich glaube nicht, dass ich lüge, wenn ich behaupte, dass das die einzige Angst ist, die ich habe. Ich bin Mitte 40 und ich denke, dass es Mitte 30 anders ausgesehen hätte, weil die Dynamik meiner Biografie mir gesagt hätte: Du musst was werden. Das gilt heute nicht mehr. Ich kann sagen: Für meine Bedürfnisse bin ich genug geworden. Das hat vielleicht etwas damit zutun, dass ich eine Frau bin. Ich bekomme das in Gesprächen mit Kollegen manchmal mit, dass das für Männer anders aussieht. Die reagieren gekränkter, wenn sie aus dem Berufssystem gekickt werden. Ich betrachte es dagegen als Vorteil, nicht fest angestellt zu sein. Mann kann mich also auch nicht kündigen. Irgendwie hänge ich immer auch der geheimen Hoffnung an, dass die Arbeit einmal aufhört. Ich habe ein inneres Parallelleben, das sagt: Ich bin keine arbeitende Frau. Ich lebe also mehr von einer Ausstiegshoffnung als mit einer Abstiegsangst.

- Das hört sich hart nach einer Art 80er Jahre-Modell an. Aussteigen war keine Phantasie, es machte damals fast jeder. Wir kennen alle die Leute, die irgendwann für ein paar Jahre nach Südamerika abhauten. Dann waren sie plötzlich wieder da und machten dort weiter, wo sie aufgehört hatten. Und ein vermeintlicher gesellschaftlicher Wohlstand erlaubte ihnen das. Die ökonomische Basis für dieses Ein- und Aussteigen wird heute nicht mehr in dem Maße bereitgestellt.

- Man hat nicht mehr die Wahl. Wir sind in dem Glauben aufgewachsen, dass Leistung Wahlmöglichkeiten eröffnet. Dass, wenn man sich anstrengt und etwas bringt, es stetig nach oben geht. Und das stimmt heute so nicht mehr.

- Man kann ja mal versuchen, es zu zerlegen. Man braucht Geld. Vielleicht nicht sehr viel, aber man braucht es. Und man braucht Anerkennung. Ohne die würden wir alle nicht antreten, um in der Zeitung zu veröffentlichen.

- Ich möchte als gerade 31jährige gegen die eben formulierte Ausstiegshoffnung das Einstiegsbegehren setzen. Ich bin seit drei Jahren mit dem Studium fertig. Seitdem habe ich in sieben Städten gewohnt, bin 15mal umgezogen, ich habe fünf Praktika und zwei relativ gut bezahlte, aber nur projekbezogene Jobs gemacht, bin sechs mal nach New York geflogen, um eine Beziehung aufrecht zu erhalten, und einmal wurde mir zwischendurch ärztlich ein Erschöpfungssyndrom diagnostiziert. Ich will einsteigen und bin von der Ausstiegssehnsucht also weit entfernt.

- Ich glaube das mit der Abstiegsangst einfach nicht. Auf was steigt man da eigentlich ab. Wir reden immer noch von Stagnation, von eingeschränkten Möglichkeiten. Woher kommt da das Angstgefühl?

- Zumindest sind die beiden Währungen, in denen schlechter bezahlt wird, genannt worden. An Geld und Anerkennung kommt man im Augenblick nicht so leicht heran.

- Ich glaube, dass es noch um mehr geht als um Geld und Anerkennung. In einer Falte meiner Seele verspüre ich die Angst, ins Bodenlose zu fallen. Ich stelle mir dann vor, dass ich in einen Raum falle, wo mich nichts mehr hält. Das ist weit mehr als eine Metapher für den Zusammenbruch der sozialen Sicherungssysteme. Es ist die Angst vor einem großen Schweigen. In diesem Raum hört einen niemand mehr.

- Das ist die Beschreibung eines Identitätsverlusts.

- Ja. -

Das ist aber etwas anderes als Abstiegsangst. Man kann mit Wittgenstein sagen: Hier kenne ich mich nicht mehr aus.

- Es hat aber mit der Erfahrung zu tun, dass es in der Gesellschaft, zu dem, was man tut, nicht unbedingt eine Entsprechung gibt. Ein Gegenüber, von dessen Existenz man immer überzeugt war, ist abhanden gekommen. Ich war kürzlich auf dem Arbeitsamt, um mich zu erkundigen, was passiert wenn ich meinen Job verliere. Da stellte man mir in Aussicht, Sozialhilfe zu beantragen. Für diesen Fall müsse ich aber meine Bedürftigkeit nachweisen. Danach hatte ich das erste Mal richtig Abstiegsangst. Das steht in keinem Verhältnis zu dem, was ich anzubieten habe: ein gutes Abitur, verschiedene Fähigkeiten, zwei Berufsausbildungen, immer hart am Ball gewesen. Bedürftigkeit nachweisen passt nicht in mein Weltbild.

- Ich möchte meine eingangs geäußerte Skepsis noch einmal wiederholen. Sind wir nicht dabei, unglaublich zu dramatisieren? Ist es denn wirklich so schlimm?

- Zumindest muss man fragen, woher die Beschreibungsenergie kommt, die uns die Abstiegsängste ausmalen lassen. Nur eine soziologische Anmerkung dazu: Die Geschichte der Bundesrepublik lässt sich beschreiben als eine hochgradige Individualisierung von Lebenslagen, die vor einem stabilen ökonomischen Hintergrund stattfand. Zwischen 1965 und 1990 hat eine lang anhaltende Phase eines nachholenden sozialen Wandels stattgefunden. Die Phase, in der wir uns nun wiederfinden, gleicht eher einem drohenden sozialen Wandel, der sich natürlich am stärksten im drastischen Umbau der Sozialsysteme niederschlägt. Das ist der Hintergrund, vor dem wir uns selbstverständlich fragen dürfen: Habe ich Angst? Ist es nicht eher so, dass uns die Frage noch immer nicht so richtig berührt? Ich bin Mitte 40 und habe mich bisher nicht um die Riester-Rente und so einen Kram gekümmert. Was das individuelle Verhalten angeht, bewege ich mich immer noch wie ein 20-Jähriger. Ich lebe verschwenderisch, habe kein Sparbuch und erwarte kein Erbe. Alle sozialpolitische Einsicht, über die ich verfüge, hat sich in lebenspraktischer Hinsicht noch nicht geäußert.

- Was Du da beschreibst, ist das, was man "Über die Verhältnisse leben" nennt. Das ist aber nichts Individualistisches, sondern ein Symptom. Das tun momentan sehr viele. Ich finde es auffällig, dass in solche Fragen enorm viel Deutungsenergie investiert wird. Ich habe den Eindruck, dass das kompensatorisch für einen Sachverhalt ist, in dem ich nicht mehr Herr meiner Entscheidung bin. Die Akteursherrlichkeit der 80er Jahre ist vorbei. Die schöne Selbstbestimmung ist dahin. Es, die Ökonomie und Globalisierung, entscheidet wieder für mich. Und darauf reagieren wir gekränkt. - Die ökonomische Ideologie, die wir tagtäglich reproduzieren, oder die uns tagtäglich reproduziert, ist ja das genaue Gegenteil davon. Nur wer Verantwortung für das übernimmt, was er tut, hat überhaupt eine Chance. Wir müssen ein Vokabular und ein Verhaltensrepertoire entwickeln, das so etwas wie Individualität bestehen lassen kann.

- Wir müssen aber noch eine andere Unterscheidung treffen. Es gibt die Ängste derjenigen, die drin sind, und es gibt die Ängste derjenigen, die hineinwollen ins System. Macht es für einen, der draußen ist, überhaupt Sinn, von Abstiegsängsten zu reden?

- Bei mir hat der Abstieg in dem Moment begonnen, als ich mich von meinem Elternhaus gelöst habe. Meine Eltern haben mich immer ausreichend unterstützt, aber je mehr ich mich von ihnen entferne, desto mehr steige ich ökonomisch ab. Ich verlasse eine Form der Stabilität. Da ich aber im Moment nicht sehe, dass ich eine vergleichbare Stabilität aus eigener Kraft erreichen kann, würde ich das schon als Abstiegserfahrung beschreiben. Ich versuche ständig, Brücken zu schlagen, eine nach der anderen, immer wieder über den gleichen Fluss, aber ich habe das Gefühl, an keinem Ufer bleiben zu können. Das geht in meiner Generation vielen so. Die Leute fangen an zu promovieren, schulen um auf Lehramt, machen Aufbaustudiengänge oder Praktika. Wir qualifizieren uns zu Tode. Man entwickelt sich auch, aber man tritt noch mehr auf der Stelle; man ist die ganze Zeit in Bewegung, aber man kommt nicht an.

- Das ist wirklich ein großer Unterschied zu uns, wenn ich da noch mal aus der Tantenperspektive reden darf. Es war auch für mich wahnsinnig schwer, hereinzukommen. Und ich habe es mir auch schwer gemacht. Ich hatte bis 35 ein extrem verbummeltes Leben. Ich bin angefangen auf der Basis von fünf Mark am Montag und stand vor der Frage: Kaufst Du Dir Zigaretten oder den Spiegel. Ich hatte dabei Arbeitsphasen, in denen ich einen Monat lang das Gesamtwerk eines Schriftstellers gelesen und einen weiteren Monat gebraucht habe, darüber einen Text zu schreiben, für den es dann 800 Mark gab. Ökonomisch trat ich also auch extrem auf der Stelle. Ich hatte aber die Gewissheit, dass es an mir liegt, ob ich über diese Brücke gehe. Man lässt mich gehen, wenn ich denn durchhalte. Es gab nicht das Gefühl einer von außen herangetragenen Aussichtslosigkeit. Die Brücke stand nicht im Niemandsland. Sie führte ins feuilletonistische Leben.

- Wir sind in dem Glauben, dass es so sei, ja auch noch zur Uni gegangen. Wir haben investiert, in dem Glauben, dass am Ende auch etwas dabei herauskommt. Und plötzlich steht man wie vor einer gläsernen Wand. Wenn ich das gewusst hätte, hätte ich vielleicht mehr in mein persönliches Glück investiert als in Qualifikation und Beruf.

- Aber die Frage ist auch hier angebracht: Ist es vielleicht auch eine Einbildung? Lässt man sich etwas vormachen? Verfügen wir über reale Erfahrungen, die zu Abstieg führen?

- Eins wird man auf jeden Fall sagen können, wahrscheinlich sogar empirisch nachweisbar: Es gibt so etwas wie die Wiederkehr des Schicksals. Es trifft immer mehr Leute und es kann jeden treffen. Es gibt ehemals gut bezahlte arbeitslose Manager und Unternehmer, die nie wieder zum Zuge kommen werden. Beschreiben tun wir das aber eher noch in den alten Kategorien von Oben und Unten, Neid und soziale Gerechtigkeit.

- Man kann sagen, dass sehr viel Larmoyanz mit im Spiel ist, eine kollektive Wehleidigkeit. Die Empfindlichkeit wächst, wenn man plötzlich drei, vier Leute in seinem Umfeld hat, die es trifft, die suchen und nicht finden, obwohl sie alle etwas können.

- Ich lebe ja noch in dem Glauben, dass mir etwas zusteht, wenn ich Leistung bringe.

- Ich weiß nicht, ob die Situation so ganz neu ist. Ich frage mich, ob ich nach Abschluss meines Studiums nicht genau das erwartet habe, was eben mit der Brückenmetapher beschrieben worden ist. Ich war dann aber plötzlich überrascht, dass alles so gut klappte, dass meine Artikel gedruckt und gesendet wurden, dass es also so etwas wie einen gesellschaftlichen Bedarf an meiner Arbeit gab.

- Du hast also nicht erwartet, dass Du für das, was Du anbietest, Anerkennung zu bekommen?

- Ja.

- Das geht mir manchmal auch so, Ich beschreibe mir das manchmal als die Erfahrung von Gnade. Man macht etwas und wird dann doch noch aufgenommen in einen Mechanismus oder Betrieb. Was daraus folgt, ist die Erkenntnis, dass wir nicht mehr nach funktionierenden Akteursmodellen operieren. Hier bin ich, klarer Plan, und dann geht es von A nach B. Wir operieren stattdessen mehr mit Unschärfen und Unwägbarkeiten.

- Heißt das, dass die Abstiegsangst den schlimmsten Befürchtungen, die man immer schon hatte, spiegelt?

- Das ist gut beschrieben: Es verwirklicht sich die schlimmste Vorstellung, die man sich von der eigenen Existenz machen kann.

- Ich habe damals Phantasien von einer Art existenzieller Verfallsform gehabt, das heißt, ich fühle mich nicht mehr so rund, geglückt, knusper, sondern eher marginalisiert. Ich wollte deshalb damals weg von der Uni. Das erschien mir als eine Sackgasse.

- Arbeitet ihr an Alternativmodellen? Denkt ihr über ein anderes Leben nach?

- Für mich ist die härteste Herausforderung meine Sandkastenfreundin, die mit ihrem Mann jetzt wieder in dem Ort wohnt, wo wir aufgewachsen sind. Familienhaus, zwei Autos, zwei Kinder. Sie ist damit aufrichtig zufrieden. Das ist das extreme Gegenbild zu meinem Leben, aber ich finde das durchaus verlockend. Aber ich weiß instinktiv auch, dass das für mich nicht in Frage kommt.

- Was wir immer wollen, ist den Mittelklassewagen vor der Tür stehen zu haben und uns unseren Neigungen hinzugeben.

- Ja, genau. Wild und gefährlich im Mittelklassewagen fahren.

- Ich glaube, dass ein gewisser Größenwahn eine Rolle spielt. Wird sind halb bürgerlich und halb Boheme. Und im Grunde sind wir beleidigt, dass man uns aus dieser Behausung verscheucht. Wir haben plötzlich kein Geld mehr und können den ganzen Nachmittag vor einem Milchkaffee im Gartencafé sitzen.

- Von Abstieg wird man aber erst dann so richtig reden können, wenn der Mann der Sandkastenfreundin den sicheren Job verliert. Und sowas kommt ja vor.

- Die Ängste, die wir an uns selbst erfahren, ärgern mich. Das ist ein gewisser Kleinmut, den ich nicht zulassen möchte. Ich frage mich, wie ich mich mit den Verhältnissen umarrangieren kann. Also nicht: mit den Verhältnissen arrangieren. Könnte ich also sagen: Naja, ich habe jetzt mein Leben damit verplempert, Karriere zu machen. Und was tue ich jetzt?

- Mein Leben verläuft zur Zeit nicht abenteuerlich. Das kommt auch durch den Beruf. Es war schon einmal sehr viel abenteuerlicher. Ich habe dabei die Erfahrung gemacht, dass ich mich sehr leicht in verschiedene Sachen hineinsteigern kann. In einer Pizzeria arbeiten oder so etwas. Ich weiß nicht, ob ich dahin zurück möchte, aber ich weiß, dass ich das Abenteuerliche auch vermisse.

- Ich habe nicht das Verlangen danach, mit Abenteuerlust in einer Pizzeria zu arbeiten. Ich will mit dem weiterarbeiten, was ich aufgebaut habe. Ich habe viel Zeit darauf verwandt herauszufinden, was für Qualitäten ich habe. Die will ich jetzt auch einsetzen können.

- Wenn ich mir Leute anschaue, die viel jünger sind als wir, dann wird mir auch angst und bange. Wer jetzt ins Berufsleben startet, ist mit vollkommen bizarren Begriffen wie Ausbildungsplatzabgabe konfrontiert. Das hat gar nichts mehr mit etwas selbst Gewähltem zu tun. Ich möchte jetzt nicht 200 Absagen auf 200 Bewerbungen bekommen, weil die Firmen niemanden einstellen. Man kann also mit noch viel stärkeren Restriktionen und mit noch weniger Alternativen zu tun haben. Das hat für mich etwas mit mangelnder Lebendigkeit und Mangel an Abenteuer zu tun.

- Gibt es noch eine Vorstellung von einem geglückten Leben? Vieles, was gesagt wurde, hört sich so pragmatisch an. Da kommt von links und von rechts eine große Zange und es wird immer enger. Kommt da noch was anderes?

- Ich habe keinen großen Lebensentwurf mehr, sondern denke mittlerweile extrem kurzfristig. Es überfordert mich, über den nächsten Schritt hinauszudenken, mir Gedanken zu machen, was ich in die nächste Bewerbung schreibe und wie ich den nächsten Umzug plane.

- Ich frage mich, ob das, was eben etwas süffisant als halb Mittelstand, halb Boheme beschrieben worden ist, nicht schon die Lösung ist. Selbst die Wirtschaft hat sich das ja eine zeitlang zunutze gemacht. Die IT-Branche hat ja gerade die jungen Kreativen angesogen. Die Garagenfirmen, in denen alles mögliche entwickelt wurde, denken wir uns ja heute auch irgendwie als das wilde Leben. Und Bill Gates sieht ja immer noch so aus wie der harmlose Typ in Ghostbusters, der von den Geistern beseelt ist. Also nochmal: Warum nicht Boheme mit Lebensversicherung?

- Man kann sich natürlich fragen, ob das nicht eine extrem luxuriöse Verengung ist, in der wir die Fragen nun diskutieren.

- Aber der Typus, von dem eben die Rede war, war ja das Leitbild der New Economy, der unternehmerische Einzelne, der engagiert und kreativ ist und mit Umsicht sein Leben im Griff hat. Die New Economy ist kaputt und dem Typus geht es auch nicht mehr so gut. Das Problem ist, dass es im Augenblick kein funktionierendes Leitbild gibt. Die ganzen maroden Firmen, in denen sogar die Manager über Gehaltsverzicht reden, geben kein Leitbild ab.

- Die Unternehmensberater, die diese Firmen aufpeppeln sollen, irgendwie auch nicht.

- Ich stelle mir schon seit einiger Zeit die Frage: An welchem Sozialexperiment nehme ich eigentlich teil?

- Wir erleben in nicht gekanntem Ausmaß, dass eine Gesellschaft sich unter den Auspizien der Schrumpfung versucht, sich zu reorganisieren. Aus solchen Überlegungen wurden vor 30 Jahren die ökologischen Utopien gestrickt. Die Grenzen des Wachstums waren ja nur durch Schrumpfung und Beschränkung zu überwinden. Und nun erfahren wir diese Schrumpfung und sitzen alle da wie geplättet und bekommen den Mund nicht mehr auf.

- Ökonomisch gesehen gab es ja immer ein großes Vertrauen auf das Schumpeter-Wort von der "schöpferischen Zerstörung". Die Wirtschaft ist auch eine Krake, die einen mit in den Abgrund reißen kann. Aber aus den Trümmern erwächst dann wieder etwas. Was wir im Moment erleben, ist die Zerstörung, aber wir können nicht sehen, was daraus hervor gehen soll. Das ist es, was uns zu schaffen macht.

- Es ist eine Fähigkeit gefragt, die es uns ermöglicht, zurückzugehen und zu fragen: Was passiert jenseits meiner Betroffenheit?

http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=483084

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