Kratzen, wo es juckt!

Besuch beim Vater von Eliza
von GABRIELE GOETTLE

"Wir sind die Letzten der Generation, durch die das Entwicklungs-, Kommunikations- und Dienstleistungswesen zum weltweiten Bedürfnis geworden ist."
Ivan Illich

An einem kalten trüben Vormittag Ende November überqueren wir die steinerne Rathausbrücke, schaun auf die bleigraue Spree hinab und streben dann eilig einem Appartementhaus aus Betonelementen zu, dessen spreeseitige Fassade von einer riesigen Friedenstaube mit gesträubtem Gefieder dominiert wird. Neben dem Eingang hängt eine 1998 angebrachte Kupfertafel zur Erinnerung an die Märzgefallenen, die 1848 an dieser Stelle Barrikaden errichtet hatten. Hier wohnt Josef Weizenbaum seit einiger Zeit. Ganz in der Nähe, am Gendarmenmarkt, ist er geboren, hat er seine ersten zehn Lebensjahre verbracht. Es ist ein Katzensprung von hier nach dort, aber historisch ist es ein weiter und chaotischer Weg. Das Appartementhaus samt dem rundum wiederaufgebauten "historischen" Nikolaiviertel gäbe es nicht ohne die DDR, diese hätte es nicht gegeben und jenes wäre nicht zerstört worden ohne den Zweiten Weltkrieg, die Familie Weizenbaum hätte nicht fliehen müssen ohne dessen Verursacher, den Hitler-Faschismus, und, zuletzt, Herr Weizenbaum hätte in dieses Haus nicht einziehen können ohne den Zusammenbruch der DDR.

Und auch der Computer - hervorgegangen aus den Rechenmaschinen des 17. und 18. Jahrhunderts, ein zusammengesetzter Flickenteppich aus verschiedenen Entwürfen, Autoren und heterogenen Materialien, aus Radio, Telefon, Lochstreifen von Hollerith, der elektronischen Orgel usw. - mit dem sich Weizenbaum ein Leben lang beschäftigte, hat eine parallele Geschichte. Der erste elektronische Digitalcomputer entstand in England, als "Geheimwaffe" im Anti-Hitler-Krieg, um die Dechiffrierung zu mechanisieren und das Codierungssystem der Funksprüche des deutschen Militärs zu knacken. Auch in Deutschland wurden Computer gebaut, analoge Spezialrechner, genutzt für die Flügelvermessung ferngesteuerter Bomben. In Amerika deckte IBM den Bedarf der Marine an Rechnertechnik. Nach dem Kriegsende verhalf der Kalte Krieg, der Sputnik-Schock der Amerikaner und ein immer weiter hinaufschraubendes Wettrüsten dem Computer zu seiner rasanten Entwicklung und Verbreitung, auch in alle Bereiche des zivilen Lebens hinein. Dies wiederum verhalf Herrn Weizenbaum zu einer wissenschaftlichen Karriere und ließ ihn auf deren Höhepunkt zum Kritiker der technisch-instrumentellen Vernunft werden.

Im 8. Stockwerk bittet uns Herr Professor Weizenbaum freundlich näher zu treten. Er bewohnt eine kleine Zweizimmerwohnung mit Balkon zum Marx-Engels-Forum hin. Von hier oben hat man einen weiten Blick. Ganz hinten schimmert die Kuppel des globigen Doms, und rechts ragt der zierliche Turm der Marienkirche etwas hervor, dort werden jeden zweiten Sonntag die Obdachlosen gespeist, umgeben von mittelalterlichen Tafelbildern. Unten, am Fuße des Hauses quasi, liegt am Ufer der Spree die Rückseite der asbestsanierten Ruine des Palastes der Republik. Früher Sitz der DDR-Volkskammer und Kulturveranstaltungsort, dient das verrottende Gebäude nun den Rabenkrähen und Dohlen aus Osteuropa, die sich zu Tausenden Abend für Abend vor Einbruch der Dämmerung auf dem Dach des Palastes versammeln. Im Park gegenüber sieht man vom Balkon aus auf die Rücken von Marx und Engels.

Wir nehmen an einem Tisch vor dem Fenster Platz. Herr Weizenbaum deutet achselzuckend auf einen kleinen Berg aus Papieren, Briefen, Stadtplänen, Notizbüchern, diversen Füllhaltern von Mont Blanc, schönen Ledermäppchen, einem Schweizermesser und Digitalcamera samt Zubehör und sagt: "Leider bin ich nicht richtig vorbereitet." Alles wird ein wenig zur Seite geschoben, damit Tassen und Cookies noch Platz finden. Hinter einem Sideboard stehen Schreibtisch und Computer, ein Fernsehgerät gibt es nicht. Über dem Computer hängt eine große Farbfotografie seiner jüngsten Tochter. Auch im Bücherregal stehen Fotos von seiner Frau und den Töchtern aus früheren Zeiten in Amerika. Und daneben, in und auf dem schönen Vitrinenschränkchen, stehen ebenfalls Fotos und Andenken, z. B. ein roter Kran aus Metall. Herr Weizenbaum kommt mit der Kaffeekanne aus der Küche und wirft einen traurigen Blick auf den Kran und das daneben stehende Foto; beides stammt von seiner vor kurzem gestorbenen Lebensgefährtin.

Auf unsere Frage, was ein Computer ist, lächelt Herr Professor Weizenbaum melancholisch und beginnt zu erzählen: "Was ein Computer ist … Na ja, es hat ja angefangen mit der Artillerie, man wollte so schnell und exakt wie möglich die Bahn eines Geschosses berechnen. Und auf der anderen Seite, die Gruppe um Alan Turing in England - Mathematiker, Linguisten, Programmiererinnen, Ingenieure und Arbeiter - sie haben die Colossus gebaut im Zweiten Weltkrieg, um den Geheimcode der Deutschen zu dechiffrieren … Turing war vielleicht der größte Pionier des Computerwesens in der modernen Zeit, er beging Selbstmord übrigens, man hatte ihm mit Kastration gedroht, weil er schwul war, im modernen England! Er hat 1936, lange bevor wir moderne Computer hatten, ein Papier geschrieben über ein komplexes Problem der mathematischen Logik, und das Papier enthält auch die Beschreibung seiner ,Universalmaschine', eine genaue Äquivalenz des Computers in einem gewissen Sinn.

In diesem Papier erscheint das Wort Computer sehr oft, Studenten, die dieses klassische Papier heute lesen, verstehen es meist überhaupt nicht. Der Grund dafür ist, dass wenn Turing Computer sagt, dann meint er Menschen, die rechnen … (to compute), und sogar meint er meist Frauen, denn damals waren die Programmierer meist Frauen. Ja, das ist interessant, die Erste war die … ah, jetzt hab ich den Namen vergessen, eine Adlige …

Ja! Lady Lovelace, 1815 geboren, ihre Mutter war Mathematikerin - und ihr Vater war Lord Byron übrigens … und diese junge Engländerin lernte einen Mann namens Babbage kennen, der die Idee hatte, einen Computer herzustellen. Er dachte sich alles vollkommen richtig aus, aber er war zu früh. Im 19. Jahrhundert war die Technik einfach noch nicht da. Und für diesen noch nicht existierenden Computer hat Lovelace Programme geschrieben. Sie sind so genial, sie würden heute noch laufen. Sie hat sehr viel vorhergesehen, was später erst Realität wurde.

Also, was ist ein Computer, ich vereinfache es mal: Ein Computer ist in einem gewissen Sinn eine ganz einfache Maschine - Maschine kann man sagen … muss man sagen - die ganz einfache Operationen, könnte man sagen, an ganz einfachen Symbolen durchführt. Zum Beispiel wissen wir heute, die Symbole sind zum größten Teil Null und Eins. In einem gewissen Sinn muss man sagen, mehr kann er nicht. Die Macht der Computer, also ihre enorme Rechenkapazität, kommt daher, dass man sehr viele solcher einfachen Elemente zusammensteckt - und wenn man das macht, dann lassen sich sehr komplizierte Muster bearbeiten, und diese Muster kann man natürlich interpretieren als Zahlen, sodass man Arithmetik machen kann … man kann sie aber auch anders interpretieren. Was die Muster sind, sollte man sich gar nicht fragen, die Frage ist, was die Muster bedeuten - und die Bedeutung dieser Symbole ist und muss sein die Interpretation eines Menschen. Und Menschen interpretieren Symbole aufgrund der Technik ihrer Kultur und Zivilisation. Ich sehe da zum Beispiel sagen wir 1-1-0-1 und das ist dann … mh… das ist dann 13 … ja.

Aber das ist eine Interpretation. Und die andere Qualität und Charakteristik der Zusammensteckung der vielen einfachen Elemente, von denen ich anfangs sprach, ist, dass heute mit den modernen Methoden, diese so genannten Operationen, die ausgeführt werden sollen, sehr, sehr schnell gemacht werden können. Und unsere heutige Vorstellung von dem, was schnell ist, ist natürlich ganz anders als, sagen wir, vor 30 oder 40 Jahren. Heute ist es gar nicht ungewöhnlich - und ich spreche hier nicht von einem Supercomputer - dass er eine Million solcher Operationen in einer Sekunde ausführen kann, und das bedeutet natürlich, dass man richtig komplexe Strukturen bearbeiten kann. Ja, das ist sozusagen die Essenz des Computers …

Und das weiß ja heute jeder, dass man nicht nur Zahlen, sondern auch Texte bearbeiten kann, also ich kann ein Sonett von Shakespeare mit Hilfe von Symbolen schreiben. Das alles beruht auf der Fähigkeit einer ganz einfachen Maschine, eine Null von einer Eins zu unterscheiden und zu entscheiden, ob das dieselben Symbole sind oder nicht. Alles beruht darauf … Im Grunde genommen ist es sehr einfach, wie gesagt, die Komplexität kommt durch die Kombination so vieler Elemente … ah … ich hab da gerade einen schönen Vogel gesehen!" Herr Weizenbaum zeigt auf das mit Körnern gefüllte Futterhäuschen draußen auf dem Balkon und lächelt ein wenig: "Das war der Star, meist kommen zwei, entweder sind die verheiratet oder sie leben zusammen …"

Er trinkt einen Schluck Kaffee und fährt fort: "Bei der Komplexität waren wir … alles wird dann so kompliziert, dass es beinahe unmöglich ist, ein Programm ohne Fehler zu schreiben, das ist fast unmöglich!! Heutzutage werden die Programme ja mit dem Computer geschrieben, aber zu meiner Zeit - es ist ziemlich lange her -, da hat man sie aufs Papier geschrieben, dann wurde das irgendwie verwandelt in Symbole, zum Beispiel auf Lochkarten, auf denen gibt es ja Plätze, wo Löcher sind, und Plätze, wo Löcher sein könnten, aber wo keine sind, und das ist wieder mal das Prinzip: DA oder NICHT DA … Null oder Eins. Was ein bestimmtes Loch bedeutet, hängt davon ab, wo auf der Karte es ist. Das ist, wie gesagt, relativ einfach, nur die Kombination … nur die Möglichkeiten, die werden dann so komplex. Es LADET Fehler ein, kann man sagen, und dann muss man eben das Programm probieren, die Fehler finden und korrigieren, das war früher relativ einfach. Aber heutzutage würde ich sagen, die Programme, die die Arbeit der Welt tun, sagen wir: Flugzeuge landen, Artillerie abschießen, Versicherungs- oder Börsenrechnungen machen usw., dass diese Programme niemand mehr völlig versteht. Niemand! Und wenn die ganze Struktur so hochkomplex ist, dann wird auch die Frage, was ein Fehler ist, auch hochkomplex …

Man stellt sich das vielleicht so vor: Irgendwo im Programm soll ein Komma stehen, der Programmierer schreibt aber einen Punkt. Oh, so was kann ein Flugzeug abstürzen lassen … ein Schiff versenken … eine Stadt zerstören! Man denkt, das ist der Fehler, wenn er gefunden ist, ist es o.k., aber das ist ein Irrtum. Bei dieser Komplexität, von der wir sprechen, da ist es, als würde man eine Krankheit diagnostizieren, der Fleck auf der Lunge ist noch weit entfernt von einer Erklärung, warum der Mensch krank ist, und wir sind weit entfernt von einer Heilung. Und so ist es auch mit den hochkomplexen Systemen, heutzutage sind wir den Computern ausgeliefert … zum größten Teil, der Rest ist menschliches Versagen …"

Herr Weizenbaum nimmt seine Brille ab, putzt sie eine Weile hingebungsvoll und schweigend, dann setzt er sie wieder auf: "Also, ich habe viel Fantasie, manchmal ist es wie ein kleines Stückchen Film, das in ein Woody-Allen-Movie passen würde, und da sah ich grade vor mir folgende Szene: Der Präsident von Amerika sitzt in der ,Air Force One', er sitzt auf der Toilette und macht sein großes Geschäft, und es ist nicht leicht, er muss sich etwas bemühen. Plötzlich klopft der Mann mit dem Atomkoffer an die Tür, der Mann ruft: Mister President, eine dringende Angelegenheit! Und der Präsident sagt: Just a minute! Aber er hat vielleicht, sagen wir, 45 Sekunden, um zu entscheiden, ob die Welt zerstört wird oder nicht. ,Just a minute' ist dann die Entscheidung! Schaun Sie mal, da kommt die verdammte Taube!" Herr Weizenbaum zeigt zum Fenster hin. "Jagen Sie die weg, klopfen Sie an die Scheibe! Ich mag Tauben nicht, unter anderem fressen sie zu viel."

Wir geben zu bedenken: "Der Liebesvogel, die Friedenstaube, der Heilige Geist!" Herr Weizbaum sagt: "Bitte?", schweigt eine Weile und sagt: "Das erschreckt mich, dass das der Heilige Geist ist, denn jetzt habe ich Schuldgefühle, ich habe den Heiligen Geist beleidigt, das bringt Unglück! Der Gedanke erinnert mich an einen Witz: Oppenheimer - er ist in Dänemark zu Besuch bei Niels Bohr, der dort am Meer ein kleines Häuschen hatte. Sie laufen am Strand entlang, vertieft in wissenschaftliche Unterhaltungen, und als sie sich dem Häuschen nähern, fällt Oppenheimer auf, dass ein Hufeisen über der Tür hängt, und er sagt: Mein Gott, Niels, es ist doch nicht möglich, dass du abergläubisch bist?! Und Bohr sagt: Beruhige dich, natürlich nicht, aber ich habe gehört, es funktioniert auch bei Leuten, die es nicht glauben. Aber gut, ich muss nachdenken über die Taube und die Dreifaltigkeit … Unwissenheit schützt vor Strafe nicht. Ich werde also Taubenfutter kaufen … oder eine Eule aufstellen, dann kommt keine Taube näher als hundert Meter heran!"

Bei unserem nächsten Besuch bringen wir eine Pappmaschee-Eule mit. Herr Weizenbaum setzt sie in den Blumenkasten auf dem Balkon und nimmt den Faden wieder auf: "Ich hatte vom Atomkoffer gesprochen und meinte, dass der Entscheidungsspielraum in Krisen heute unmenschlich ist. Zwar hat sich seit dem Untergang der Sowjetunion die weltpolitische Lage verändert, aber nicht zum Guten. In gewisser Weise ist es noch gefährlicher geworden als damals, und es gilt nach wie vor, was damals mal der Präsident vom MIT sagte: ,Das Militär ist das Schwungrad unserer Wirtschaft.' Die Firmen, die fast exklusiv … oder exklusiv fürs Militär produzieren, machen Profit, ihre Aktien stehen gut, es ist eigentlich schon die Androhung des Krieges ein Schwungrad, aber das ist eine andere Sache … Was wir brauchen, ist Zivilcourage - Courage heißt Herzensfuror - also Herzensfuror des Einzelnen gegen den fortdauernden und tödlichen Wahnsinn der instrumentellen Vernunft. Einstein ist mal gefragt worden, warum er nicht an diesem oder jenem Problem arbeite, und er hat geantwortet: ,Wo es nicht juckt, kratzen wir nicht.' Wir wissen ganz genau, wo wir kratzen müssen!

Was wir brauchen, sind soziale Erfindungen und nicht schnellere Computer und perfektere Waffen, und auch keine ,künstliche Intelligenz' in dieser Form und Richtung, wie sie u. a. von Hans Moravec vertreten wird. Kennen Sie den Namen? Er spricht davon, dass man sich ,downloaden' kann in einen Computer, also: TO DOWNLOAD A HUMAN BEING INTO A COMPUTER. Er behauptet, der ganze konkrete Mensch kann in einem Roboter erfasst werden, ER ist dann ICH, keine Kopie, keine Simulation, sondern ich bin dann der Roboter! Er beschreibt in einem dicken Buch ganz genau, wie man das macht. Viele werden sich vielleicht fragen, ist es möglich, ein Gerät, sagen wir einen Roboter herzustellen, der das elementare menschliche Wissen beinhaltet? Die Antwort ist: nein! Denn die Menge - und jetzt benutze ich mal den Begriff mathematisch - also das Set, die Sammlung des menschlichen Wissens, ist nicht total beschreibbar, schon deshalb nicht, weil das menschliche Wissen sozusagen ,unbeschreiblich' ist zum großen Teil, wir erleben es, in einem gewissen Sinne wissen wir auch, dass wir es wissen, aber wir können es nicht sagen. Und mit dem Sagen meine ich Ausdruck in irgendeiner mathematischen Form, selbstverständlich auch in Form der Sprache. Ah, da! schaun Sie, der Star." Herr Weizenbaum beugt sich vor, um besser zu sehen, "wieder allein! … Der hat so einen großen Schnabel, warum frisst er nicht?"

"Zurück zu Moravec", sagt Herr Weizenbaum, "es gab da eine interessante Begegnung, was Sie wissen müssen, sein Buch ist Ellen gewidmet, seiner Frau - inzwischen sind sie wohl geschieden - ,to Ellen, who makes me whole'. Ich habe ihm eine ganz einfache Frage gestellt: Also sagen wir, deine Ellen geht auf der Straße, und in wenigen Sekunden wird sie von einem Auto getötet werden … and she downloads herself into a robot, would you than say, that this robot makes you whole? Er hat dann eine halbe Stunde nur noch gestottert, aber heute erzählt er immer noch dieselben Dinge. Die Menschen ganz loszuwerden, das ist sein Forschungsziel. Dan Dennett, ein amerikanischer Philosoph, sagt: Wir müssen uns von der Ehrfurcht vor dem Leben befreien, wenn wir mit der künstlichen Intelligenz weiterkommen wollen. Es ist übrigens auffallend, es gibt in diesem Forschungsbereich, der sich mit der Ersetzbarkeit des Menschen durch Maschinen befasst, keine Frauen. In einem Vortrag in Freiburg, so vor sechs Jahren, habe ich darüber mal gesprochen.

In der KI-Bewegung gibt es ja das Dogma, der ,liebe Gott' war ein mittelmäßiger Ingenieur und sein mittelmäßiges Produkt müssen wir verbessern, wir sind in der Lage, künstliche Menschen herzustellen, die eben nicht den Fehler haben, zu sterben oder auch in Gewerkschaften einzutreten. Wie kommt das, warum denkt man so? In unserer Welt können Männer alles besser als Frauen, außer dem einen, das Männer überhaupt nicht können: ein Kind gebären, aus dem eigenen Leib, nicht nur to have it … das ist der Haken …" Herr Weizenbaum hat aus einer kleinen Menge von Münzen, trotz unterschiedlicher Größe, durch beharrliches Hin- und Herrücken während des Redens einen makellosen Rhombus zusammengeschoben. "Aber wir werden es beweisen, wir können es doch! Freud spricht vom Penisneid, ich halte in unserem Fall die Bezeichnung Uterusneid für passend. Für diesen Versuch, Gott zu spielen, einen Menschen herzustellen, scheinen Frauen sich einfach nicht zu interessieren, besser gesagt, sie haben es gar nicht nötig, sich dafür zu interessieren. Sie können es einfach!"Herr Weizenbaum schiebt den Rhombus zur Seite, trinkt einen Schluck und sagt: "Die KI-Elite dieser Richtung glaubt, dass sie Liebe, Kummer, Freude, Trauer in ein Computerhirn transferieren kann, die vielen Bedeutungen, die das Spüren einer Hand auf der Schulter haben kann. Was ist mit diesen Leuten los? Und was ist mit den Leuten los, die an Waffensystemen arbeiten, die wir heute weapon of most destruction nennen? Ich weiß, es gibt verschiedene Methoden, das zu rationalisieren, das wegzudenken, das zu vergessen … wir Menschen können das … Ich habe Sachen gemacht in meinem Leben, für die ich mich jetzt schäme. Aber es ist sehr selten, dass ich daran denke … und es kann auch sein, dass ich Dinge getan habe, für die ich mich zwar schämen sollte, die ich aber so sehr verdrängt habe, dass sie einfach nicht mehr da zu sein scheinen. Eines aber weiß ich, dass diese riesigen Berge von Katastrophen, die uns bedrohen, und der Massenmord, der jeden Tag stattfindet, nicht deshalb existieren, weil da etwas ist, was wir nicht wissen. Das ist wichtig, wichtig zu erkennen. Wir wissen alle, was notwendig ist zu tun.

Es liegt in der Verantwortung jedes Einzelnen. Die Ohnmacht des Einzelnen, von der immer die Rede ist, ist eine Illusion; die gefährlichste, die wir überhaupt haben können. Der Einzelne kann sich und muss sich als Einzelner entscheiden, seine Entscheidung hat Bedeutung! Die Lösung der Probleme besteht zum Beispiel im Verwerfen von Spielregeln, die das ganze Dilemma hervorgebracht haben, beispielsweise müssen wir endlich einsehen, dass es Berechenbarkeit nicht gibt. Wir wissen inzwischen, dass es nicht möglich ist. Das ist keine Frage mehr, ob es Weizenbaum oder irgendwer nicht glauben kann oder ob es nicht doch in Gottes Hand liegt. Nein, nein! Wir haben zwei sehr große Revolutionen gehabt in der Naturwissenschaft des vorigen Jahrhunderts, die einsteinsche Revolution und dann die Quantenmechanik, wir wurden belehrt, da sind verschiedene Dinge, die wir im Prinzip nicht wissen können. Und dazu fällt mir der sicherlich größte Mathematiker ein, den Deutschland jemals hervorgebracht hat: David Hilbert, auf seinem Grabstein steht: ,Wir müssen wissen, wir werden wissen' - und er meinte nur die Mathematik - aber seit Gödels Unvollständigkeitssatz ist bewiesen, dass die Mathematik - ganz einfach gesagt - entweder unvollständig oder widersprüchlich ist, eins von den beiden. Und wenn man Widersprüche eliminiert, dann wird es unvollständig und umgekehrt. Spätestens seit der Chaostheorie wissen wir, dass Berechenbarkeit und Steuerung unmöglich sind."

Herr Weizenbaum schaut auf die Uhr. "Oder lösen wir das Problem der großen und immer größer werdenden Arbeitslosigkeit bzw. das Problem, dass die Arbeiter ihren Anspruch aufs Bruttosozialprodukt verlieren dadurch, dass computergesteuerte Maschinen nun die Arbeit verrichten. Ich will jetzt nicht ins Detail gehen, nur kurz andeuten, was ja bereits Karl Marx gesagt hat, dass die Instrumente der Arbeit den Arbeitern gehören müssen. Die Maschinenstürmer … jetzt hab ich den Namen vergessen … die Ludditen, haben in der Anfangsphase der industriellen Revolution gesagt, durch die Effizienz der Maschine verdient der Unternehmer mehr Geld, aber ohne uns würde es diese effiziente Maschine nicht geben, also muss ein Teil des Geldes weiterhin uns gehören. Und heute, wo Computer die komplexesten Werkzeugmaschinen und Geräte steuern, ist es ja genauso … Also, die alte Forderung der Maschinenstürmer, das ist das ,Rezept' in einem gewissen Sinne für die Zukunft. Notwendigerweise muss sich natürlich die Produktivität einer solchen Gesellschaft auf die Erzeugung von nützlichen Dingen beschränken - wie Nahrungsmittel, Kleidung, Wohnung, öffentliche Gesundheit und Erziehung, Verkehrsmittel usw., statt einer überflüssigen Warenmasse und ungeheurer Waffensysteme. Einerseits würde es der Computer ermöglichen dadurch, dass er harte und unangenehme Arbeit weitgehend übernimmt, für alle eine Welt der Fülle und des friedvollen Lebens herzustellen, andererseits sind wir aber auf dem Wege in die genaue Gegenrichtung.

Dazu fällt mir immer ein Witz ein: Also nehmen wir an, wir sitzen in einem Lufthansa-Fleugzeug, sind über dem Atlantik, es ist drei Uhr morgens, und da meldet sich der Kapitän über Lautsprecher … der Kapitän ist speaking: ,Ich habe eine gute Nachricht und eine schlechte Nachricht. Die gute Nachricht ist, wir haben einen Rückenwind von 300 Stundenkilometern, unsere Geschwindigkeit ist zwölfhundert Kilometer in der Stunde, das ist sehr schnell. The bad news ist, unsere Navigationsinstrumente sind alle ausgefallen, wir wissen nicht, wo wir sind, und wir wissen nicht, wohin wir fliegen.' Das ist unsere Situation, 1938 entdeckte man in Deutschland die Möglichkeit der Kernspaltung, und acht Jahre später bereits starben so ungefähr 400.000 Menschen an diesem Phänomen, das meine ich mit der Beschleunigung, dem Rückenwind. Eigentlich waren fast alle diese Erfindungen des vorigen Jahrhunderts Werkzeuge des Todes … auch der Computer … ja, das wissenschaftliche Denken muss man geradezu als menschenfeindlich bezeichnen … wir leben im Irrenhaus, unsere Welt ist wahnsinnig, wir halten die Beschleunigung immer noch für den Fortschritt und wollen …

Da, die Tauben, gleich zwei heilige Geister." Herr Weizenbaum ist teils empört, teils amüsiert, "sehn Sie, sie sitzt auf dem Kopf der Eule, nein! … Ich sah mal in einem Park in New York - wo die Leute Tauben füttern, sogar auf ihrer Hand - wie ein alter Mann kam mit einer Tüte. Er fing an, die Tüte zu lüften, und holte ein hölzerne Eule hervor, zeigt sie den Tauben, und da fliegen alle weg voller Entsetzen, obwohl doch der Park ihr Zuhause ist, in dem sie gefüttert werden … ich verstehe das nicht." Wir fragen: "Wollen wir aufhören und essen gehen?" "Ja, bitte … ja!", sagt Herr Weizenbaum und zieht alsbald darauf seine Schuhe an, ohne dass ihm das Bücken zu den Schnürsenkeln sonderliche Mühe zu bereiten scheint.

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Josef Weizenbaum, emer. Univ.- Professor. Bis 1988 Prof. f. Computer Science a. Massachusetts Institute of Technology (MIT)/Cambridge, USA. Trat 1934 i. d. Luisenstädtische Gymnasium i. Berlin ein, 1935 (aufgrund antisemitischer Nazigesetze) Übertritt i. d. Jüdische Knabenschule i. Bln. 1936 m. Eltern und Bruder Emigration n. Detroit/USA. Dort, n. Beendigung d. Schulzeit, ab 1941 Studium d. Mathematik a. d. Wayne Univ. Detroit/Michigan . 1942-1945 Unterbrechung d. Studiums d. d. Kriegsdienst b. e. metereologischen Abt. d. US-Luftwaffe. 1948 Graduierung i. Detroit z. Bachelor of Science, 1950 z. Master of Science (Dissertation üb. "Punktmengentopologie"). 1948 verantw. Mitarbeiter b. Bau eines d. ersten Digitalcomputer, (a. d. Wayne Univ.). 1952 Abschluss d. Studiums. Versch. Gastdozenturen, v. 1955-1963 Arbeit i. d. Industrie b. General Electric, entwarf Computersysteme (u. a. f. d. Bank of America). Entwickelte d. frühe Computersprache Slip. 1963 Berufung als Associate Professor a. d. Laboratory of Computer Science a. MIT/Cambridge. 1970-1988 lehrte u. forschte er dort als Informatikprofessor. W. gehörte z. d. Wissenschaftlern, d. am MIT (Mitte d. 60er) an einem militärischen Forschungsauftrag arbeitete, zu lösen war d. Problem, wie d. Datenübermittlung d. Pentagon i. Falle atomarer Zerstörung aller Kommunikationswege dennoch sichergestellt werden kann. Das damals entwickelte Arpa-Net (Advanced Research Project Agency Network) z. Kommunikation räumlich getrennter Rechner, wurde 1979 z. Modell f. d. World Wide Web und i. d. 90er-Jahren z. d. d. Internet. Berühmt wurde W. s weltweit bekannt gewordenes Spracherkennungsprogramm Eliza (1965), den "kommunizierenden Computer" (die scheinbare Kommunikation beruht auf vorgegebenen Antworten auf bestimmte Schlüsselwörter). Teilnahme a. d. Bürgerrechtsbewegung gegen d. Vietnamkrieg. W. erkennt die tiefe Verstrickung seiner Universität u. wiss. Arbeit m. d. Militärinteressen und wandelt sich angesichts dessen zum entschiedenen Kritiker der Hoch- und Rüstungstechnologie. Verfasste zahlr. Beitr. f. wiss. Fachzeitschr. u. u. a. folgende Bücher: "Computer Power and Human Reason" (dtsch.: "Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft" (1976), "Kurs auf den Eisberg" (1987), "Wer erfindet die Computermythen?" (zus. m. Gunna Wendt, 1993), Computermacht und Gesellschaft (Hg. Gunna W. u. a., 2001). Zw. 1977 u. 1981 Gastlehraufträge a. d. Universitäten Harvard, Stanford, Hamburg u. TU Berlin. Nach 1988 Gastprofessor a. Versch. Univ., u. a. i. Freiburg, Hamburg u. Bremen. Ämter: Fellow d. Americ. Associat. of the Advencem of Sciences d. New York Academy of Science u. d. Eur. Acad. of Science. Ausz.: Dr. h.c. d. Adelphy Univ of N.Y. Doctor of Human Letters, h.c. d. Webster College of New Hamshire, Dr. h.c. d. Univ. Bremen (1998), Träger d. Norbert-Wiener-Preises (1997), d. Namour-Preises, d. Preises d. Fiff (1998), d. Humboldt-Preises (1994). Träger d. großen Bundesverdienstkreuzes (Deutschland, 2001), 2002 Preis d. Tschechischen Republik, den "Vice 97" von Václav Havel. Josef Weizenbaum ist a. 8. Jan. 1926 i. Berlin geb. als Sohn eines Kürschnermeisters. W. ist gesch. u. Vater dreier Töchter.
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taz Nr. 6941 vom 30.12.2002, Seite 11-12, 891 Zeilen (TAZ-Bericht), GABRIELE GOETTLE