Hauptstadt des Jetzt
Die Bohème ist weitergezogen: New York entwickelt sich vom Kraftzentrum der Künste zum Umschlagplatz der Kulturindustrie
Es gab schon immer gute Gründe, nach New York zu reisen. Für Europäer gehörte dazu vor allem die Sehnsucht nach dem kulturellen Utopia Manhattan. Dicht gedrängt lebten hier schon immer die Verrückten, die Künstler, die Bohemiens, die vom Genius beseelt Neuland eroberten. Modern und Free Jazz, Abstrakter Expressionismus, die Beatniks, Pop Art, Punk, Performancekunst und Hip Hop waren allesamt Bewegungen, die ihren Ursprung auf den 26 Quadratmeilen felsigem Boden zwischen dem Hudson und dem East River nahmen.
Jeff Koons springt aus dem Taxi
Oberflächlich betrachtet scheint das immer noch zu stimmen. Man muss nur durch das East Village spazieren, durch Chelsea, SoHo oder Tribeca, die Galerien, Clubs und Bühnen besuchen. Wo sonst kann man an einem einzigen Samstagnachmittag einem halben Dutzend weltberühmter Schauspieler, Musiker und Künstler auf der Straße begegnen? Da sitzt Willem Dafoe im Jerry´s beim Lunch, Natalie Portman spaziert die Prince Street entlang, Lou Reed unterhält sich im Pastis und Jeff Koons springt am Broadway aus dem Taxi.
Und doch hat sich die Stadt grundlegend verändert. Denn auf den zweiten Blick erkennt man die Impulse kommen nicht mehr aus New York. Die Stadt hat eine ganz andere Rolle übernommen. Sie bestimmt nun Ansehen und Wert auf dem künstlerischen Weltmarkt. Mit den Künsten selbst hat das wenig zu tun, auch nicht mit dem Zeitgeist und schon gar nicht mit dem 11. September. Der Paradigmenwechsel der Kulturstadt New York ist der Endpunkt einer Entwicklung, die der New Yorker Bankier David Rockefeller fast im Alleingang in Bewegung setzte eine grundlegende Umwälzung der örtlichen Geografie, die keinen Platz für für Experimente ließ. Schon als junger Bankier gehörte David Rockefeller zu den mächtigsten Männern der Stadt, und als solcher erkannte er bereits in den fünfziger Jahren, dass New York City als Industrie- und Hafenstadt keine große Zukunft haben würde. Warum sollte man auf der beengten Insel Manhattan Produkte herstellen oder Waren verschiffen, wenn man doch viel mehr damit verdienen konnte, Ideen auszubrüten und den Geldverkehr zu lenken? Flugs gründete er eine Organisation namens Downtown Lower Manhattan Association, kurz DLMA, die Hochfinanz und Politik vereinte, um aus Manhattan ein Zentrum der Bank- und Konzernzentralen zu machen. Der erste große Plan war der Bau eines Welthandelszentrums wenige Blocks westlich der Wall Street. Die DLMA setzte damit eine Dynamik in Gang, die New York bis heute bestimmt und ganz nebenbei das Kulturleben der Stadt geprägt hat.
Nun war New York schon immer eine Stadt in Bewegung. Doch was sich ab Mitte der sechziger Jahre abspielte, waren keine Wellen mehr, sondern gewaltige Umwälzungen. Ganze Berufszweige wurden entwurzelt. Arbeiter zogen mit den Manufakturen und Werkstätten in die Provinz, Neueinwanderer wurden in den Außenbezirken Brooklyn, Queens und Bronx angesiedelt, und inmitten dieser Umwälzungen entstanden plötzlich Nischen, in denen die Subkulturen blühen konnten. Die ehemaligen Manufakturhallen machten Platz für Lofts, Ateliers und Übungsräume. Galerien und Nachtclubs fanden Raum in einstigen Ladengeschäften. In den Mietskasernen der einstigen Arbeiterviertel gab es billigen Wohnraum. Im Boom der neunziger Jahre verwirklichte sich schließlich Rockefellers Vision: New York wurde zur Hauptstadt einer neuen Wirtschaft. Bis die Entwicklung an ihre natürlichen Grenzen stieß, denn manchmal vergisst man: Manhattan ist eine Insel.
Die letzten Nischen sind nun erobert. Die Bohème ist weitergezogen. Nach Brooklyn erst, dann auch nach Queens und in die Bronx. Doch hier funktioniert das Urbanlabor nicht mehr. Die einzigartige Geografie von Manhattan sorgte all die Jahre dafür, dass Kulturindustrie, Sub- und Hochkulturen auf engstem Raum nebeneinander existierten. Es waren nur wenige Minuten im Taxi, wenn ein Galerist von der 57th Street nach Ladenschluss noch eine Underground- Vernissage auf der Lower Eastside besuchen wollte. Der Weg in die Zentren der Bohème führt nun über Brücken und durch Tunnels nach Williamsburg, Fort Greene oder Long Island City. Musiker und Kollektive leben nicht mehr wenige Blocks, sondern bis zu zwei U-Bahn-Stunden voneinander entfernt. Doch wenn sich die Zentren der kreativen Schwerkraft auflösen, verschwinden auch die Impulse.
Berlin, Kopenhagen, Sydney
Was keineswegs heißt, dass aus New York nun kulturelles Brachland würde. Im Gegenteil. Die Anziehungskraft auf den Rest der schöpferischen Welt ist stärker als je zuvor. Doch New York gibt eben nicht mehr den Ton an. Die Höhepunkte der aktuellen Saison bestätigen das. Bill Violas Videoinstallation Going Forth By Day war ursprünglich eine Auftragsarbeit für die Deutsche Guggenheim in Berlin. Die grandiose Aufführung von Robert Wilsons The Raven war eine Inszenierung aus Kopenhagen. Baz Lurmanns Demokratisierung der Oper La Boheme basiert auf seiner Arbeit in Sydney. Die innovativsten Popkonzerte bestritten Bands wie die Hives aus Schweden, die White Stripes aus Detroit und die Roots aus Philadelphia. Selbst ein kultureller Meilenstein wie die Ausstellung Drawing Now, mit der das Museum of Modern Art die Renaissance der Zeichenkunst feierte, versammelte mit Chris Ofili aus London, Kai Althoff aus Deutschland oder Yoshitomo Nara aus Japan die Besten aus aller Welt.
New York hat seine neue Rolle als Umschlagplatz jetzt auch offiziell bestätigt. Das New Yorker Center for an Urban Future veröffentlichte vor wenigen Wochen eine Studie mit dem Titel Der kreative Motor wie Kunst und Kultur das wirtschaftlichen Wachstum in den Vierteln von New York City anfeuern. Dort kann man nachlesen, dass es in der New Yorker Kulturindustrie über 150000 Arbeitsplätze gibt, rund 2000 Kulturorganisationen und 2000 kommerzielle Kulturbetriebe. Und dass die Künste ein entscheidender Anziehungspunkt für die rund 35 Millionen Touristen sind, die hier alljährlich um die 14 Milliarden Dollar ausgeben. Selbst in einer Stadt wie New York, die mit 461 Milliarden Dollar ein größeres Bruttosozialprodukt erwirtschaftet als Südkorea, ist das viel.
Über die Inhalte und Qualitäten steht dort nichts. Doch warum sollten sich die Künste vom Rest der Welt unterscheiden? In der Wirtschaft hat sich New York seinen Platz als ein Zentrum der globalisierten Welt schon gesichert. Vielleicht ist die Suche nach einem Ort der Impulse bald schon so antiquiert wie die Nostalgie nach der Pariser Bohème des 19. Jahrhunderts, die sich in manchen Subkulturen bis heute hartnäckig hält. Vielleicht waren die Pop- Phänomene von Manchester, Seattle und Berlin nur das letzte Aufbäumen eines Weltbildes, das sich bald überholt. Und wenn die Zukunft kein Zentrum mehr hat, dann ist New York schon bereit. Denn am Ufer des Hudson etabliert sich die einstmals zukunftsweisende Metropole als mächtige Hauptstadt des Jetzt. ANDRIAN KREYE