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Lebensstile
(c) 1994 by Thies Albers - thies.albers:gmx.net
1. Einleitung
In Hans-Peter Müllers Aufsatz "Lebensstile - Ein neues Paradigma der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung ?" von 1989 geht es um verschiedene Ansätze der Lebensstilanalyse und um die Frage, ob diese eine Zukunft in der Soziologie besitzt. Zuerst muß man sich über Bedeutung, Sinn und Nutzen der Lebensstilforschung klar werden und die Verbindung zu der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung erkennen und fragen, welche Rolle diese im Orientierungskurs spielen, in dem es um soziale Ungleichheit geht.
Der Soziologe Stefan Hradil definiert soziale Ungleichheit so : "Als 'soziale Ungleichheit' bezeichnet man ... (1) wertvolle, (2) nicht absolut gleich und (3) systematisch verteilte, vorteilhafte und nachteilige Lebensbedingungen von Menschen, die ihnen aufgrund ihrer Positionen in gesellschaftlichen Beziehungsgefügen zukommen." (Hradil 1993 : 148). Sie bezieht sich also auf Vor- und Nachteile zwischen verschiedenen Personen innerhalb der Gesellschaft. Um nun diese Menschen zu erfassen und in kategorische Gruppen einzuteilen, wurde der Begriff "Lebensstil" entwickelt, damit man den sozialen Wandel der Zeit besser erkennen, deuten und verstehen kann. Lebensstil bezeichnet die Gesamtheit vieler Verhaltensweisen, die schichtspezifisch in der Gesellschaft anzutreffen sind. Doch diese Verhaltensmuster können von unterschiedlichen Standpunkten aus gesehen werden. Müller stellt hier vier verschiedene Ansätze vor, nämlich den entwicklungspsychologischen Ansatz von Arnold Mitchell, den quantitativ-sozialstrukturellen Ansatz von Michael Sobel, den qualitativen Lebensweltansatz von Ulrich Becker und Horst Nowak und den klassentheoretischen Ansatz von Pierre Bourdieu. Am Schluß sucht Müller nach einer Lösung und entwickelt einen eigenen Ansatz, der diese vier Theorien zu verbinden versucht.
2. Bedeutung und Anwendung des Begriffes "Lebensstil"
Der Begriff "Lebensstil" hat in der Soziologie drei verschiedene Funktionen:
Erstens besitzt er eine "deskriptive Funktion", welche ethnographische Beschreibungen von Gruppen, Milieus und Konsummustern zeigt, zweitens eine "zeitdiagnostische Funktion", die den Zeitgeist beschreibt, und zuletzt eine dritte Funktion , die "theoretische Funktion", die versucht, Konzepte und Erklärungen der sozialen Differenzierung und Ungleichheit zu suchen. In dem Aufsatz "Lebensstil - Ein neues Paradigma der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung?" von Hans-Peter Müller geht es hauptsächlich um die theoretische Funktion mit der Fragestellung, inwieweit Prozesse der sozialen Differenzierung und Ungleichheit mit theoretischer Bedeutung erfaßt und erklärt werden können.
Die Forschung hat vier eigenständige Ansätze hervorgebracht, mit denen man versucht, diese Prozesse zu erschließen. Die Ansätze stammen aus der Psychologie, der Soziologie, der Marketing- und Konsumforschung (vgl. Müller 1989 : 53).
Das Ziel von Hans-Peter Müller ist es, nicht etwas Neues hervorzubringen und das "alte" Denken abzuschaffen, sondern er will die verschiedenen Theorien zur Lebensstilanalyse ergänzen, denn seine These lautet, daß durch die Lebensstilanalyse herkömmliche Klassen- und Schichtparadigmen ergänzt und Begriffe wie "Differenzierung" und "Individualisierung" konkretisiert werden können (vgl. Müller 1989 : 54).
3. Theoretische Grundlagen zur Lebensstilanalyse
3.1 Klassiker der Lebensstilforschung
Der Begriff Lebensstil hieß ursprünglich "Lebensführung" und ist durch Max Weber (1864 - 1920) geprägt worden. Schon Weber versuchte, Gruppierungen und Konturen in der Gesellschaft und deren Prinzipien und Wirkungsweise zu erkennen. In seinem Ansatz geht es um die religiöse Ethik bzw. deren Werte und die gruppenbezogene Betrachtung von verschiedenen gesellschaftlichen Schichten, um so die Ordnung und Zugehörigkeit von Personen innerhalb der Gruppe zu bestimmen. Die wichtigsten Elemente innerhalb einer Gruppierung sind die Ehre, das Prestige und die Bildung (vgl. Müller 1989 : 54).
Die Funktionen des Lebensstils sind folgende:
Erstens wird durch die Gruppe die Zugehörigkeit und Identität einer Person gezeigt. Zweitens kommt es durch einen bestimmten Lebensstil zu klaren Abgrenzungen zu anderen Lebensstilen, d.h. zu anderen Gruppen und Schichten. Drittens schließlich dient der Lebensstil als "Mittel und Strategie" (Müller 1989 : 55) innerhalb von Statusgruppen, z.B. zur Knüpfung von sozialen Kontakten.
Max Webers Ansatz wird von vielen, u.a. folgenden Lebensstilforschern übernommen und weiter ausgedehnt bzw. auf andere Fachgebiete übertragen:
- Thorstein Bunde Veblen (1857 - 1929), der sich selbst eher für einen Wirtschaftswis- senschaftler als für einen Soziologen hielt (vgl. Bernsdorf / Knospe 1980 : 463), geht es hauptsächlich um den Prestigewert bzw. -gewinn, der durch die Symbolisierung des gesellschaftlichen Erfolges nach außen hin entsteht. Dies beschreibt er in seiner Theorie "The Theory of the Leisure Class" ("Theorie der feinen Leute"), die 1899 er- scheint .
- Georg Simmel (1858 - 1919) beschreibt in "Philosophie des Geldes" die immer stärker werdende Auseinanderdrift der Lebensstilkulturen, was eine Pluralisierung mit sich bringt. Dies sieht Simmel als Chance zur Wahlfreiheit verschiedener Lebensstile; daraus entsteht allerdings ein typisches Merkmal des modernen Lebensstils, nämlich der Zwang zur "Individuierung" (Müller 1989 : 55).
- Alfred Adler (1870 - 1937), österreichischer Psychiater, Psychologe und Schüler von Sigmund Freud, übernimmt Webers Theorien und überträgt sie in die Psychologie, so daß aus dem ursprünglichen Wort "Lebensführung" bei Adler nun "Persönlichkeitsbe- griff" wird (vgl. Müller 1989 : 55).
3.2 Allgemeine Merkmale des Lebensstilansatzes
Neben den schon genannten vier großen Ansätzen kann man auch ganz allgemein zwischen der soziologischen und der psychologischen Lebensstilforschung unterscheiden. In der Soziologie geht es um Gesellschaften/Kulturen (z.B. Simmel), Klassen oder Schichten (Schichtungsforschung), Status- oder Berufsgruppen (Webersche Tradition), Familien oder Haushalte (konventionelle Lebensstilforschung) oder um Kommunen und Wohngemeinschaften (alternative Lebensstilforschung), im Gegensatz zur Psychologie, in der nur einzelne Personen betrachtet werden (vgl. Müller 1989 : 56).
Für alle Lebensstilansätze gibt es die gleichen formalen Ansätze, die insgesamt fünf verschiedene Punkte enthalten. Dies sind die Ganzheitlichkeit, die Freiwilligkeit, der Charakter, die Verteilung der Stilisierungschancen und die Verteilung der Stilisierungsneigung .
Zum einen muß die Person oder Gruppe als Einheit gesehen werden ( "Ganzheitlich- keit" ), zum anderen muß die Möglichkeit zur Wahl eines Lebensstils gegeben sein ( "Freiwilligkeit" ). Der Lebensstil muß durch den "Charakter" typisch geprägt worden sein, so daß eine spezifische Identität entstanden ist, was auch "Eigenart" bzw. der "Stil" des Individuums genannt wird. Die Verteilung der Stilisierungschancen ist abhängig vom Werte- und Normensystem in der Gesellschaft. Je höher der gesellschaftliche und materielle Wohlstand ist, desto größer ist die Wahlfreiheit für einen Lebensstil. Bei der Verteilung der Stilisierungsneigung muß man zwischen einem gesellschaftlichen und einem individuellen Aspekt unterscheiden. In der modernen Gesellschaft hat die Oberschicht wegen des größeren materiellen Wohlstandes mehr Freiheiten in Bezug auf die Wahl der Lebensstile als die Unterschicht, die durch ihren geringen materiellen Wohlstand gewisse Lebensbedingungen aufgezwungen bekommt. Individuell gesehen, ist die Stilisierungsneigung abhängig vom Alter der jeweiligen Person, da das Alter u.a. den Bewegungs- und Aktionsradius beeinflußt, was dazu führt, daß die Mobilität abnimmt. Soziale Faktoren, wie z.B. Schichtzugehörigkeit und Bildung, werden von biologischen Faktoren, wie z.B. dem Alter und der Gesundheit, dominiert (vgl. Müller 1989 : 56 - 57).
Die nun folgenden vier Lebensstilansätze beinhalten diese Faktoren, wobei die einzelnen Faktoren bei den verschiedenen Ansätzen unterschiedlich stark gewichtet werden, so daß recht unterschiedliche, zum Teil gegensätzliche Ansätze dabei herauskommen.
4. Ansätze in der Lebensstilforschung
4.1 Entwicklungspsychologischer Ansatz (Arnold Mitchell)
Mitchells Ausgangsthese besagt, daß sozialer Wandel hauptsächlich auf Wertewandel beruht und nicht nur durch die moderne Technik oder die politische und wirtschaftliche Situation entsteht. Deshalb entwickelte Mitchell mit seinen Mitarbeitern den entwicklungspsychologischen Ansatz, die "Values and Lifestyles" (VALS) - Typologie. Dieser Ansatz beruht auf der Bedürfnishierarchie von Maslow und der "inner-other-directed" - Persönlichkeitstypologie von David Riesmann. Fünf Punkte sind für diesen Ansatz wichtig:
- .) Entscheidend ist der Wachstums- und Reifeprozeß der Psyche eines jeden einzelnen, dies kommt im "Wachstumsmodell" zum Tragen.
- .) Die "Hierarchie" der Werte und Bedürfnisse jeder Person ist erforderlich.
- .) Die beiden Wege, die zur psychischen Reife führen, sind der "außengeleitete" und der "innengeleitete" Weg ("Zwei-Wege-Stufen-Modell").
- .) Wichtig für den Lebensstilansatz ist, daß die verschiedenen Ursachen, die einen Lebensstilwandel ("Wandlungsursachen") mitsichbringen, wie z.B. das Alter oder Kindheitsprobleme, berücksichtigt werden.
- .) Hinzu kommen noch die "Wandlungsstrukturen und -dynamik", denn die VALS - Typologie beinhaltet stabile und instabile Phasen bzw. Stufen und eine intra- und intergenerationelle Lebensstilmobilität (vgl. Müller 1989 : 58).
Der Ansatz wurde Anfang der 80er Jahre durch einen umfangreichen Fragenkatalog, der sich über "soziodemographische Faktoren, Einstellungen, finanzielle Vermögensverhältnisse, Aktivitäten und Konsummuster erstreckte" (Müller 1989 : 59), belegt. Der Fragenkatalog wurde später stark gekürzt, was aber keinen großen Einfluß auf das Untersuchungsergebnis hatte. Dieses entstandene Klassifikationsmodell für Lebensstile fand vielseitige Verwendung. Der Ansatz offenbart allerdings einige Schwächen, wenn man versucht, ihn von Amerika auf Deutschland zu übertragen. Es tut sich beim Vergleich der amerikanischen und deutschen Geschichte und Kultur die Frage auf, ob der Ansatz eine Zeit- und Kulturunabhängigkeit beinhaltet. Er macht keine Aussagen über den sozialen Wandel. Veränderungen werden konstatiert, aber nicht erklärt, wie es für die Soziologie wichtig wäre. Aus diesem Ganzen folgt, daß größere Zusammenhänge nicht exakt analysiert werden können. Der Vorteil an diesem Modell ist, daß es eine sehr hohe Informationsdichte besitzt und zumindest für die USA ein validiertes Instrument darstellt. Der Ansatz besitzt eine starke und stabile Ordnung und Hierarchie. Es lassen sich Wandlungsmechanismen und deren Wahrscheinlichkeit ablesen, und man kann Verknüpfungen zwischen alternativen und konventionellen Lebensstilen herstellen (vgl. Müller 1989 : 59 - 60).
4.2 Quantitativ-Sozialstruktureller Ansatz (Michael Sobel)
Michael Sobel geht in seinem Lebensstilansatz davon aus, daß die Verteilung von Lebensstilen den Konsumpräferenzen entspricht, d.h. Lebensstile werden Konsummustern gleichgesetzt. Sobel baut diese These anhand von sieben Annahmen auf (vgl. Müller 1989 : 60):
- .) Sobel ist der Meinung, daß die Lebensstile durch den Konsum zum Ausdruck kom- men und nennt als Beispiel die USA, deren Gesellschaft als Konsumgesellschaft gilt.
- .) Gesellschaftliche Differenzierung bringt eine Lebensstildifferenzierung mit sich. Er beruft sich hier auf die Thesen von Ulrich Beck.
- .) Ein Individuum bildet eine Konsumeinheit und besitzt individuelle Präferenzen.
- .) Die individuellen Konsumpräferenzen variieren mit den Positionen eines Indivi- duums innerhalb der Gesellschaft bzw. der sozialen Struktur.
- .) Die Präferenzen stellen eine freie und individuelle Wahl dar und werden nur durch die finanziellen Mittel eines jeden Individuums eingeschränkt.
- .) Arbeit und Freizeit bilden keine Basis für Lebensstile, da Arbeit mehr einen Zwang darstellt und Freizeit viel zu wenig Platz im Leben einer Person einnimmt, im Gegensatz zu anderen Dingen, u.a. dem Familienleben, der Muße, der freien Zeit, die Sobel nicht mit zur Freizeit zählt.
- .) Alternative Lebensstile werden als subkulturell bewertet, da diese nicht wie konven- tionelle Lebensstile durch Konsum geleitet werden.
Aus diesen Annahmen heraus bildet Michael Sobel durch Interviews und Befragungen in den 70er Jahren nun vier Lebensstilformen bzw. Konsummuster. Diese Formen nennt er folgendermaßen : "Visible sucess", hier geht es um den demonstrativen Konsum von Gütern, "maintenance", hier kommt der Konsum für den laufenden Unterhalt zur Geltung, "high life", dies beinhaltet das außerhäusliche Konsumverhalten und -vergnügen, und zum Schluß das Gegenstück zum "high life", das "home life", das den häuslichen Konsum betrachtet.(vgl. Müller 1989 : 61)
Um auf eine Antwort nach den Lebensstilen und dem sozialen Wandel zu kommen, geht Sobel in drei Schritten vor. Erstens wird eine Umfrage über einen bestimmten Zeitraum durchgeführt und deren Ergebnisse werden dann zusammengefaßt. In einem zweiten Schritt werden diese Resultate den oben genannten vier Konsummustern zugeführt. Im dritten und letzten Schritt wird noch ein Vergleich zwischen Konsum und Einkommen durchgeführt, aus der Sobel schließlich die These bildet, daß "Je größer der Haushalt, desto mehr wird der Konsum von alltäglichen Notwendigkeiten diktiert; je kleiner der Haushalt, desto mehr Luxus ist möglich."(Müller 1989 : 61).
Aber auch dieser Ansatz hat seine Schwächen und Widersprüche. So sieht Sobel z.B. in der Lebensstileinheit nicht nur ein Individuum wie es definiert ist, sondern einen gesamten Haushalt, wobei er in Punkt drei seines Ansatzes dies selbst noch korrekt sieht.
Es wird also nichts mehr über den Lebensstil einer einzelnen Person ausgesagt, sondern über den Lebensstil einer ganzen Familie, so daß es zu verfälschten Ergebnissen kommt, die Hans-Peter Müller sowieso schon für sehr bescheiden hält, und deren Aussage mit Vorsicht zu behandeln ist. Weitere Mankos sind die starre Definition von Lebensstilen und die unzureichende Bestimmung und Charakterisierung des Begriffes "Konsum". Müller schließt daraus, daß das von Sobel entwickelte Modell eigentlich uninteressant für die Lebensstilanalyse ist, da keine richtigen Lebensstilgruppen erstellt werden, sondern nur Konsummuster, und es nicht möglich ist, aus Konsumpräferenzen Lebensstile zu erschließen.(vgl. Müller 1989 : 61 - 62)
4.3 Qualitativer Lebensweltansatz (Ulrich Becker, Horst Nowak, SINUS-Institut)
Der qualitative Lebensweltansatz geht einen ähnlichen Weg wie der quantitativ-sozialstrukturelle Ansatz von Michael Sobel. Beidemal geht es um die Markt- bzw. Konsumforschung, wobei Sobel nur das Konsumverhalten betrachtet, während für den qualitativen Lebensweltansatz die aus dem Konsum folgenden Lebensbedingungen wesentlich sind. Die Idee, die hier zugrunde liegt, ist die, die Lebenswelt der Menschen in der Gesellschaft über ihre subjektiven Lebenslagen und Lebensstile zu erfassen. Horst Nowak und Ulrich Becker führten im Auftrage des SINUS-Institutes eine Umfrage durch, um verschiedene Lebensstile zu ermitteln. Diese Studie begann Anfang der 80er Jahre und läuft noch immer.
Die Erfassung der Lebenswelt über soziale Milieus beinhaltet folgende Annahme:
- .) Bessere Erfassung der Lebenswelt durch Milieus und Lebensstile als durch das klassische Schichtmodell, in dem die Personen z.B. über ihren Beruf erfaßt werden.
- .) Einbeziehung des Alltags, da dieser im Schichtmodell nicht berücksichtigt wird, wo nur bestimmte Dinge eine Rolle spielen, aber nicht der Alltag bzw. das Alltagswissen.
- .) Soziale Milieus erfassen mehrere Aspekte, z.B. die Wertorientierung der verschiedenen sozialen Gruppen, das Alltagsbewußtsein und den sozialen Status.
Aus diesen Annahmen entwickelten Becker und Nowak eine Typologie, die zur Unterscheidung von acht verschiedenen Milieus führte, wobei zu beachten ist, daß diese Typologie nur für die Bundesrepublik Deutschland gilt und nicht vollkommen auf andere Staaten übertragbar ist. Die acht Milieus und ihre prozentuale Größe innerhalb der Gesellschaft sind : das konservativ-gehobene Milieu (8%), das technokratisch-liberale Milieu (10%), das kleinbürgerliche Milieu (26%), das aufstiegsorientierte Milieu (24%), das hedonistische Milieu (10%), das alternative Milieu (3%), das traditionale Arbeitermilieu (9%) und das traditionslose Arbeitermilieu (10%) (vgl. Müller 1989 : 63).
In diesem Ansatz sieht Müller die Schwächen u.a. in der mangelnden Rückkopplung am sozialstrukturellen Wandel, was vom Schichtmodell besser erfaßt werden würde. Ein weiterer Schwachpunkt ist, daß man in der Soziologie im allgemeinen von der Auflösung der Milieus (Pluralisierung und Individualisierung) spricht. Deshalb ist es erstaunlich, daß Nowak und Becker ein System erstellt haben, welches auf sozialen Milieus aufbaut, und das großen Anklang in der Soziologie findet. Sie sagen auch nichts über die Determinanten und Mechanismen der Milieubildung, also nichts über die Kriterien oder Wege, die Menschen in Vor- oder Nachteile führen, selbst aber keine Vor- oder Nachteile darstellen, wie z.B. der Beruf, das Alter oder das Geschlecht. Der Mainzer Soziologe Stefan Hradil hat schon versucht, einige dieser Mankos zu beseitigen, es aber letztendlich auch nicht geschafft, dieses Modell zu einem völlig fehlerfreien System umzugestalten.(vgl. Müller 1989 : 63)
Positiv an diesem Ansatz ist die "Lebensweltnähe"(Müller 1989 : 62). Durch die Einflüsse der Wertorientierung der sozialen Milieus, des Alltagsbewußtseins und des sozialen Status¢ machen das Milieumodell für Wert- und Einstellungswandel sensibel. Ein weiterer Pluspunkt ist die Größe des Zeitrahmens und die damit verbundene Anzahl der befragten Personen, so daß ein aussagekräftiges Ergebnis entstand. Der Lebensweltbezug gestattet auch eine Deutung von kulturellen und sozialen Dingen in den verschiedenen Lebensstilen, insbesondere bei der Betrachtung von konventionellen und alternativen Lebensstilen.(vgl. Müller 1989 : 62 - 63)
4.4 Klassentheoretischer Ansatz (Pierre Bourdieu)
Die Ausgangsthese des französischen Soziologen Pierre Bourdieu ist, daß der Geschmackssinn bzw. die Kultur die entscheidende Möglichkeit bietet, die Gesellschaft in verschiedene Kategorien aufzuteilen. Denn der Geschmack, so Bourdieu, ist etwas rein Gesellschaftliches, Berechenbares und nichts Zufälliges.
Aus drei Annahmen heraus entwickelt er seinen Ansatz:
- .) Zeitgenössische Gesellschaftstheorie ist auch eine Klassentheorie, die den Zusammenhang zu Klassenlage (-position etc.) und Lebensstil zum Gegenstand hat.
- .) Klassenzugehörigkeit drückt sich am stärksten in den unterschiedlichen Lebensstilen aus, insbesondere im Geschmack.
- .) Der Zusammenhang zwischen Klasse und Geschmack zeigt sich im Habitus.
Habitus ist ein zentraler Begriff in Bourdieus Werk. Durch den Habitus wird die Zugehörigkeit zu einer Gruppe oder einem Stand deutlich. Auf den Alltag übertragen bedeutet dies, daß der Habitus sich im Erscheinungsbild und im Auftreten einer Person zeigt. Wichtig zu beachten ist dabei, daß der Habitus des Individuums durch die Gesellschaft geprägt wird (vgl. Treibel 1994 : 210).
Bourdieu baut seine Theorie auf drei Theoriestücken auf. Die erste Theorie ist die Kapitaltheorie. Sie verbindet die drei von Bourdieu erstellten Kapitalformen, nämlich das ökonomische Kapital, in Form von materiellem Besitz und Eigentum; das kulturelle Kapital, hauptsächlich in Form von Bildung, Bordieu spricht auch von Bildungskapital; und das soziale Kapital, in Form von sozialen Kontakten und Beziehungen. Diese Kapitalform ist völlig immateriell und wird deshalb auch symbolisches Kapital genannt.
Nur durch die Verbindung aller drei Kapitalformen kann man, laut Bourdieu, Macht bzw. eine Machtposition erlangen (vgl. Treibel 1994 : 213). Die zweite Theorie ist die Klassentheorie, die auf der Differenzierung von Klassen nach Volumen und Struktur des Kapitals basiert. Die Gesellschaft wird in drei Klassen geteilt: in die Arbeiterschaft, in das Klein- und Großbürgertum, wobei Bourdieu den Klassenbegriff für zu eng gefaßt sieht, ihn erweitert und anstatt von Klasse vom "sozialen Raum" (Treibel 1994 : 212) spricht, und drittens schließlich die ästhetische Theorie der Distinktion, welche das Verhalten in Bezug auf Kunst, Kultur und Bildung bzw. Bildungstitel untersucht.(vgl. Müller 1989 : 63 - 64)
Die Kultur ist für Bourdieu besonders wichtig, da er der Meinung ist, daß man Lebensstile mit deren Schichtung und Differenzierung nur verstehen kann, wenn man sich die "sozialen Gebrauchsweisen von Kultur"(Müller 1989 : 64) veranschaulicht. Unterschiede in diesen Gebrauchsweisen in den verschiedenen Klassen lassen sich mit der sozialen Herkunft und dem unterschiedlichen Bildungskapital der verschiedenen Klassen erklären. Bei gleicher Herkunft und damit auch gleichem Bildungskapital entscheidet der Erwerbsmodus. Müller nennt dies "Familie versus Schule". Dies ist der erste Schritt, um Lebensstile zu erkennen und zu beschreiben. Der zweite Schritt ist die Untersuchung der Wirkungsweise von Bildungstiteln. Sie sind Adelstiteln ähnlich, denn sie stellen eine gehobene soziale Stellung dar. Gleichzeitig wird einer Person mit einem Bildungstitel mehr Kompetenz zugeschrieben, egal ob dies der Fall ist oder eine andere Person ohne Titel nicht genauso kompetent ist. Das Individuum mit Titel entwickelt aus dieser Kompetenzvermutung ein Überlegenheitsgefühl ("conspicuous symbolic knowledge" Müller 1989 : 64) gegenüber seinen Mitmenschen und strahlt damit Souveränität, aber auch Distanz aus. Da diese Titel immer mehr in der Berufswelt an Bedeutung gewonnen haben, haben sie sich zur Berufschance bzw. zur Lebenschance entwickelt, d.h. mit einem Bildungstitel kann man schneller eine gehobene Stellung erreichen als ohne Titel. Der letzte Schritt zur Entwicklung von Lebensstilen ist die Bestimmung der Mechanismen der Distinktion. Die Distinktion besitzt drei Bedeutungen. Einmal in kognitiver Hinsicht, also die Abgrenzung eines Geschmacks zu anderen Geschmäckern. In evaluativer Hinsicht, diese beinhaltet das "strategische Bedürfnis", anders bzw. besser zu sein als die anderen. In expressiver Hinsicht bedeutet dies die unbewußte Abgrenzung zu anderen, wobei diese Abgrenzung sich durch den persönlichen Lebensstil ergibt. Bourdieu nennt diese Form auch "Distinktion ohne Absicht zur Distinktion"(Müller 1989 : 64).
Durch diese Schritte ist es also nach Bourdieus Theorie möglich, Lebensstile zu erfassen. Aber auch dieser Ansatz besitzt einige Schwächen. Hans-Peter Müller wirft hier die Frage auf, ob der Kapitalbegriff sich verallgemeinern läßt oder ob er weiterhin nur wie bei Karl Marx auf materielle oder ökonomische Dinge bezogen werden darf. Ein weiterer Schwachpunkt ist auch, daß es in Bourdieus Werken keine genaue Definition des Begriffes "Habitus" gibt (vgl. Müller 1989 : 65 und Treibel 1994 : 210 - 211). Man muß sich auch fragen, ob man Sozialstruktur und Klassenstruktur gleichsetzen kann oder ob diese Begriffe nicht differenzierter gesehen werden müssen, als es Bourdieu gemacht hat (vgl. Müller 1989 : 65).
Trotz dieser Schwächen ist der klassentheoretische Ansatz von Pierre Bourdieu der wohl Beste in der Debatte um die Lebensstile. Er führt konsequent die Ansätze Max Webers, des Begründers der Lebensstiltheorien, fort. Dies macht Bourdieu in seiner sehr gründlichen, durchdachten und ausgearbeiteten Theorie deutlich, die vom langen Untersuchungszeitraum der Studie profitiert, so daß dies der "vielversprechendste Weg" (Müller 1989 : 65) ist, der viele Impulse und neue Perspektiven in die Diskussion um die Lebensstile einbringt.
5. Ausblick
Es gibt trotz ihrer verschiedenen Ansatzpunkte Gemeinsamkeiten in den vier vorgestellten Lebensstiltheorien. Alle erkennen, daß die Lebensstile von bestimmten Variablen abhängen, und alle versuchen, die Ansätze von Max Weber in ihren Modellen unterzubringen, egal ob es sich dabei um Persönlichkeitsprofile (Arnold Mitchell), Konsumstile (Michael Sobel), Milieuzugehörigkeit (Ulrich Becker, Horst Nowak, SINUS-Institut) oder Geschmacksvarianten (Pierre Bourdieu) handelt. Das Problem dabei ist, daß diese Konzepte viele gute Ideen und Denkanstöße bieten, allerdings auch einige Schwachpunkte aufweisen, so daß "ein interdisziplinär verbindliches Konzept nicht in Sicht ist"(Müller 1989 : 65). Hans-Peter Müller ist der Auffassung, daß die Lebensstilforschung nur überleben kann, wenn eine Einigung auf einen allgemein verbindlichen Rahmen in der Soziologie erfolgt. Dieser Rahmen für ein allgemeines Lebensstilkonzept müßte die grundlegenden Komponenten enthalten, die Max Weber schon erkannt hat, die "Lebensstildimensionen"(Müller 1989 : 66), eine genaue Definition des Begriffes der Lebensstileinheit und die Analyse von "Werten, Einstellungen,...Konsummustern (und, T.A.)...Lebensstilstrategien"(Müller 1989 : 66). Müller bietet eine mögliche Lösung an. Sie sieht eine Verbindung zwischen Ökonomie und Kultur vor, da bisher meist immer nur eine dieser beiden Seiten näher beleuchtet wurde. Er nennt dies auch die Umfassung des Lebensstilkonzeptes durch den ökonomischen und kulturellen Pol bzw. das materielle und ideelle Substrat. Das materielle Substrat beinhaltet ökonomische Dinge, wie z.B. das Vermögen, das Einkommen oder den Beruf, während das idelle Substrat die sozialen Komponenten enthält, wie z.B. die soziale Herkunft oder die Familie. Diese beiden Pole schließen vier Verhaltensmuster, von Müller "Dimensionen" genannt, ein, die den Lebensstil zum Ausdruck bringen : das expressive Verhalten ( Freizeitaktivitäten, Konsummuster ), das interaktive Verhalten ( soziales Verhalten zwischen verschiedenen Personen ), das evaluative Verhalten (Wertorientierung, politische und religiöse Einstellungen ) und das kognitive Verhalten ( Selbstidentifikation )(vgl. Müller 1989 : 66 - 67). Über diese Dimensionen will Müller dann eine Typologie für die Lebensstile entwickeln. Er gibt zu, daß dieser Ansatz auch nur einen Vorschlag darstellt, der nicht fehlerfrei ist, aber er glaubt, daß dieser Rahmen der Lebensstilforschung helfen könnte, einen "Beitrag zu(r, T.A.) sozialen Differen-zierung und sozialen Ungleichheit" (Müller 1989 : 68) zu leisten.
6. Schluß
Die Lebensstilanalyse kann viel zur Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung beitragen. Die Gesellschaft kann mit den vier bzw. fünf, wenn man Hans-Peter Müllers Ansatz mitzählt, vorgestellten Modellen gut erfaßt werden, wenn auch das Problem der Erkennung und Deutung des sozialen Wandels und der sozialen Ungleichheit im Laufe der Zeit von unterschiedlichen Standpunkten aus angegangen worden ist. Mit diesen differenzierten Sichtweisen bietet die Lebensstilanalyse neue Ideen und Perspektiven in der Diskussion um die soziale Ungleichheit. Aber ob es gleich zum Paradigma, also zum Musterbeispiel, hochgespielt werden sollte, bleibt fraglich, denn die bisher verwendeten Modelle, wie z.B. das klassische Schichtmodell, oder die Modelle, die über das Einkommen die Menschen in der Gesellschaft einstufen, besitzen genauso Vor- und Nachteile, wie die hier vorgestellten Lebensstilansätze.
Die verschiedenen Standpunkte in den Lebensstilmodellen und deren unterschiedliche Sichtweise stellen zum einen den größten Vorteil dieser Methode dar, denn es werden mehr soziale und gesellschaftliche Faktoren berücksichtigt als bisher in den klassischen Modellen, aber zum anderen ist dies auch gleichzeitig der größte Nachteil, denn durch die unterschiedlichen Ansätze entstehen Widersprüche und Gegensätze, so daß man eine Einigkeit vermißt, was dazu führt, skeptisch gegenüber der Lebensstilforschung zu sein. Müller hat also Recht (vgl. Müller 1989 : 66), wenn er davon spricht, daß ein allgemein verbindliches Modell in der Soziologie geschaffen werden muß, wenn die Lebensstilanalyse eine entscheidende Rolle in der Diskussion übernehmen will.
7. Literaturverzeichnis
Bernsdorf, Wilhelm / Knospe, Horst 21980 : Internationales Soziologenlexikon. Band 1. Stuttgart.
Hradil, Stefan 1993 : Schicht, Schichtung und Mobilität. In : Korte, Hermann /Schäfers, Bernhard 21993 : Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie. Opladen. Seite 145 - 164.
Müller, Hans-Peter 1989 : Lebensstile. Ein neues Paradigma der Differenzierungs- und Ungleichheitsforschung?. In : Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Köln. S. 54 - 71.
Treibel, Annette 21994 : Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen.
Vester, Michael / von Oetzen, Peter / Geiling; Heiko / Hermann, Thomas / Müller, Dagmar 1993 : Soziale Milieus im gesellschaftlichen Wandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung. Köln.
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