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Dudow, Brecht, Eisler: Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt?
1932, 75 min., 35 mm, b&w
Regie: Slatan Dudow
Drehbuch: Bertolt Brecht, Ernst Ottwalt, Slatan Dudow
Musik: Hanns Eisler
Darsteller: Hertha Thiele (Annie), Ernst Busch (Fritz), Adolf Fischer (Kurt), Martha Wolter (Gerda), Lilli Schönborn(Mutter Bönike), Max Sablotzki, Gerhard Bienert
Inhalt: Berlin, Ende der 20er Jahre. In einer von der Wirtschaftskrise hart betroffenen Arbeiterfamilie erfährt der arbeitslose Sohn, der sich den ganzen Vormittag vergeblich um eine Stelle bemüht hat, von seinem ebenfalls arbeitslosen Vater, daß die Arbeitslosenunterstützung gekürzt wird. Aus Verzweiflung stürzt er sich aus dem Fenster.
Die Familie kann die Miete nicht mehr aufbringen. Ihnen wird die Wohnung gekündigt, was die Tochter Annie, die einzige, die noch Arbeit hat, trotz aller Bemühungen nicht abwenden kann. Annies Freund Fritz besorgt der Familie eine Unterkunft in der Laubenkolonie "Kuhle Wampe".
Als Annie Fritz mitteilt, daß sie schwanger ist, will er erst die Abtreibung, entschließt sich aber dann zur Heirat. Noch während der Hochzeitsfeier erklärt er, daß ihm die Ehe aufgezwungen worden sei, woraufhin ihn Annie verläßt.
Sie tritt einem Arbeitersportverein bei und nimmt an einem Sportfest der linken Gewerkschaften teil. Dort trifft sie Fritz, der nach ihr gesucht hat, um mit ihr zu sprechen. Sie nähern sich wieder einander an.
Auf der Heimfahrt geraten die jungen Arbeiter in der U-Bahn in einen Meinungsstreit mit Bürgern. Am Ende singen sie das Solidaritätslied "Vorwärts, und nicht vergessen".
Filmkritiken
Jerzy Toeplitz, "Geschichte des Films: Schöpfer des Films war ein junger Bulgare, der in der deutschen Hauptstadt Theater- und Filmkunst studierte: Slatan Dudow. Mit einer kleinen Handkamera hatte er einen Dokumentarstreifen über die Wohnverhältnisse des Berliner Proletariats gedreht, der den Titel trug: 'Wie wohnt der Berliner Arbeiter?' Der Dokumentarfilm gab den Ansporn, einen Spielfilm zu drehen. Das Szenarium verfaßten Bertolt Brecht und Ernst Ottwalt, die Musik schrieb Hanns Eisler. Die Grundkonzeption von 'Kuhle Wampe' umriß der Regisseur wie folgt: 'In diesem Film stehen sich das Kleinbürgertum und die politisch bewußte Arbeitersportbewegung gegenüber. Gezeigt wird das Wachsen der Jugend aus kleinbürgerlicher Enge in die proletarische Solidarität'.
Reclams Filmführer: "'Kuhle Wampe' war der einzige eindeutig kommunistische Film der Weimarer Republik. Er wurde unter großen Schwierigkeiten unabhängig produziert. Rund ein Viertel der Szenen mußte in zwei Tagen abgedreht werden. Nach seinem Erscheinen wurde der Film von der Zensur verboten, weil er angeblich den Reichspräsidenten, die Justiz und die Religion beleidige. Nach heftigen Protesten von Künstlern und Kritikern u. a. und einigen Schnitten wurde das Verbot aufgehoben. Brecht machte später dem Zensor das ironische Kompliment, er sei einer der wenigen gewesen, die den Film wirklich verstanden hätten. Er habe z. B. ganz klar gesehen, daß der Selbstmord des jungen Arbeitslosen nicht individuell, sondern 'typisch' gemeint sei.
Karsten Witte, "Brecht und der Film": "Schon die Eingangssequenz, die Jagd nach Arbeit, hat seit eh als beste des Films gegolten. 'Halbnah, fahrende Räder, angeschnitten, so daß man nur die kräftig in die Pedale tretenden Beine sieht' (42. Einstellung). Dieses Bild demonstriert die hoffnungslose Jagd und visualisiert in der folgenden Szene den allgemeinen ökonomischen Abstieg. (...) Ähnlich der gleich bedeutenden Fließbandsequenz aus Chaplins 'Modern Times' zeigt diese filmische Metapher die Opfer des kapitalistischen Wirtschaftssystems, nur von der Kehrseite: statt der rationalisierten Produktion den rationalen Leerlauf.
Lexikon des internationalen Films: Der einzige offen kommunistische Film der Weimarer Republik (...) Ein formal brillanter Agitationsfilm (...) Als Dokument der verworrenen politischen und geistigen Verfassung jener Zeit und für filmhistorische Diskussionen auch heute noch interessant.
Kuhle Wampe oder wem gehört die Welt? / 1932
Berlin at the beginning of the 1930s: a working class family can no longer cope with the terrible economic conditions. After looking long and unsuccessfully for work, the son is informed that his unemployment benefit has been cut. He throws himself out of the window. Since the daughter Anni is the only one who still has a job, the family no longer has enough to pay the rent and is evicted from the flat. Anni's friend Fritz lodges the family in the summerhouse colony "Kuhle Wampe". Another problem arises on top of all those that already exist: Anni is expecting a baby. Fritz wants to persuade his girl friend to have an abortion, but an older friend talks him out of his intention. The couple celebrate their engagement in the summerhouse. However, Fritz does not wish to get married, for he is afraid of the stress imposed by a marriage, particularly with regard to his job. Anni decides to leave him and live alone in Berlin. The two chance to meet again at a large workers' sports festival and decide to risk a resumption of their relationship. On the way home in the city train, they listen to a heated political debate between workers and members of the middle-class.
"The film contrasts the petty bourgeois world and the politically conscious workers' sports movement. It shows how young people grow out of the middle-class confines into proletarian solidarity," as Slatan Dudow explained. The young Bulgarian director studied dramatic and film art in Berlin. This confrontation, which climaxes in the workers' sports festival, is not necessarily one of the strengths of KUHLE WAMPE. Seen through today's eyes, the film's most intense passages are concentrated in the first of the three chapters whose despairing irony is summarized in the insert headline "On political duty, particularly when he accuses older workers of sympathizing with the SPD while the NSDAP is only mentioned on one single occasion in the entire film, as the camera glances towards the Nazi newspaper "Völkischer Beobachter". Historically speaking, this criticism is naturally easier to understand from the point of view of the Marxist director and his script writers; the third part of the film "Who owns the world" must also be seen in a historical light, for Dudow handles the solidarity images of the worker's sports festival in a highly demonstrative manner, although he clearly could not have dreamt that precisely such rituals would be misused for other purposes by the Nazis only a few years later. The dilemma of the times is captured fairly accurately by the final debate in the train.
KUHLE WAMPE is the only clearly communist film produced during the time of the Weimar Republic. It was produced under exceedingly difficult economic conditions which have left their mark on the film. It was originally banned by the censors because it was apparently an insult to the Reich President, the judiciary and religion. Bertolt Brecht sarcastically agreed with the censor: he was one of the few who had interpreted the film correctly; the young jobless man's suicide, for instance, was not an individual act, but typical of the situation of an entire class.
In addition to the film's courageous theme, its historical importance lies in the use of sound to counterpoint the scenes rather than to illustrate them. Hanns Eisler's music in particular creates a didactic
ally effective, yet unobtrusive distance between the events and the viewer.
Hans Günther Pflaum
Neue Montags-Zeitung, 14. April 1932
Faschistische Filmzensur: Das Verbot von "Kuhle Wampe"
Das Verbot des Films "Kuhle Wampe", darüber muß man sich klar sein, ist ein schwerer Schlag - nicht nur für die betroffene Firma selbst, die den Film in einjähriger, mühevoller Arbeit hergestellt hat, sondern auch für alle die, die dem Bankrott der bürgerlichen Produktion, ihrem künstlerischen und finanziellen Bankrott, etwas Positives gegenüberzustellen versuchen. Hier endlich schienen alle Voraussetzungen erfüllt, um auf einer neuen kollektiven Grundlage, wie sie von Brecht, Ottwalt, Eisler und Dudow geschaffen wurde, den Kampf gegen die herrschende Geschmacksverwilderung mit Erfolg aufzunehmen. Schon dies allein hätte der Filmprüfstelle genügen müssen, um ein Werk, dessen künstlerische Gesinnung außer Zweifel steht, mit allen Mitteln zu unterstützen. Aber die Kreise rings um den Reichsinnenminister Groener, die hinter den Kulissen der Filmzensur arbeiten, haben kein Interesse daran, sich schützend vor den deutschen Film zu stellen. Immer wieder hat man nach Gründen gesucht, die ein Verbot von "Kuhle Wampe" rechtfertigen könnten. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung, Lächerlichmachen der Kirche, Lächerlichmachen der Sozialdemokratischen Partei - das alles ist derart an den Haaren herbeigezogen, daß es sich nicht lohnt, auch nur ein Wort darüber zu verlieren.
Sprechen wir über den Film selbst. "Kuhle Wampe" ist kein einheitliches, kein geschlossenes Werk, es hat viele Fehler, künstlerische und ideologische Fehler, über die wir aus Gründen der proletarischen Selbstkritik nicht hinwegsehen dürfen. Aber als Ganzes ist der Eindruck außerordentlich. Kein Spielfilm im üblichen, im bürgerlichen Sinne, sondern ein proletarischer Film, der unter Proletariern spielt und von Proletariern dargestellt wird, eine Reportage aus dem Leben jener fünf Millionen, vor denen sich die Fabriktore geschlossen haben. Drei Schauplätze, drei Situationen werden umrissen: Arbeitslosigkeit, Kleinbürgersiedlung, Arbeitersport. Daß diese drei Teile nicht immer zusammengehen, daß sie ideologisch nicht klar genug gegeneinander abgegrenzt sind und vieles von dem, was in diesem Zusammenhang hätte gesagt werden müssen, ungesagt bleibt, ist ein Fehler, der sich teils aus Zensurgründen, teils aber auch aus der Tatsache erklärt, daß Brecht erst auf dem Umweg über die Theorie den Kontakt mit der Arbeiterbewegung gefunden hat. So kommt es, daß die Hauptfigur in diesem Film, jener junge, von Ernst Busch gespielte Proletarier, weder psychologisch noch klassenmäßig richtig gesehen ist. Alles an dieser Figur bleibt unklar: ihre Entwicklung, ihre Existenz, ihr soziales Bewußtsein.
Großartig aber wird der Film überall dort, wo er in knappen, charakteristischen Ueberblendungen eine Massenbewegung, eine Massenstimmung zum Ausdruck bringt. Die Bilder der Arbeitslosen, die auf Fahrrädern von einer Fabrik zur andern hetzen, das Biergelage in Kuhle Wampe, das allerdings ebenso isoliert steht wie jener, für sich betrachtet, großartige Ausschnitt aus dem Meeting der proletarischen Sportverbände - das alles sind, zusammen mit der prachtvollen Begleitmusik Hanns Eislers, Momente von seltener, künstlerischer Eindringlichkeit.
Dieser Film, gewiß noch keine Erfüllung, wenn man ihn vom marxistischen Standpunkt aus betrachtet, aber als künstlerischer Vorstoß, als Versuch, eine neue Ideologie im Film herauszustellen, etwas durchaus Einmaliges und Besonderes, dieser ernste, sachliche, nichts als berichtende Film ist von der Zensur verboten worden. Ein Beweis mehr, daß jener preußische Minister neulich recht hatte, als er sagte, daß es nicht Aufgabe des Staates sein könne, Kultur zu machen. Nein, dieser Staat, diese Gesellschaftsordnung, kennt nur eine Aufgabe: zu verbieten, was neu und wichtig und produktiv ist. Verboten wird, wenn ein Film jenen fünf Millionen, die nicht mehr wissen, wovon sie leben sollen, etwas Sonne, etwas Licht, etwas Freude und Optimismus geben will. Verboten wird, wenn er ihnen zeigt, wo der Ausweg ist, und daß sie gemeinsam den Kampf um ihre Existenz aufnehmen müssen. Gefährdung der öffentlichen Sicherheit? Es gibt nichts,was geeigneter wäre, die öffentliche Sicherheit und Ordnung mehr zu gefährden, als solche, am laufenden Band verfügten Notverordnungen und Verbote. [h. s.]
Neue Montags-Zeitung, 6. Juni 1932
Nachwort zu "Kuhle Wampe"
An demselben Tage, an dem in Deutschland das Kabinett Brüning gestürzt wurde, ist der Film "K u h l e W a m p e" mit großem Erfolg uraufgeführt worden. Auf die Bedeutung dieser Kollektivarbeit von Brecht, Ottwalt, Dudow, Eisler ist an dieser Stelle bereits mehrfach hingewiesen worden. Es ist der erste proletarische Sprechfilm, der in Deutschland gedreht wurde, und wenn man bedenkt, unter welchen Schwierigkeiten er zustande kam, so kann man nur bedauern, daß er nicht schon zehn Jahre früher gedreht worden ist. Vielleicht wäre dann manches noch schärfer, noch eindeutiger, noch progammatischer ausgefallen. Und vielleicht wären auf diesen Film andere gefolgt, die diese Anregungen aufgenommen, ausgebaut und weiterentwickelt hätten. Heute, wo die Zensur nicht einmal mehr erlaubt, daß in einem proletarischen Film proletarische Zeitungen ausgerufen werden - so geschehen im Falle "Kuhle Wampe" - heute bleibt denen, die am Film arbeiten, nur die Möglichkeit: in Gleichnissen zu sprechen und durch Gleichnisse auszudrücken, was man von der Leinwand herab den Massen klarmachen will.
Das ist hier versucht worden. "Kuhle Wampe" ist ein Gleichnis, das an drei Beispielen die Verschiedenartigkeit proletarischen Verhaltens und die sich daraus ergebenden Konsequenzen aufzeigt.
Wie wir hören, soll bereits in allernächster Zeit, von derselben Gesellschaft und mit denselben Mitarbeitern, die "Kuhle Wampe" gedreht haben, ein neuer Film in Angriff genommen werden. [h. s.]
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