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Johann Most
Ein deutscher Terrorist in den USA
Johann Most: Vom Reichstagsabgeordneten zum anarchistischen Netzwerker
Lange bevor es die Al Qaeda gab, bestand schon einmal ein terroristisches Netzwerk, das die westliche Welt bedrohte. Seine Mitglieder waren keine islamistischen Fanatiker, sondern marxistisch beeinflusste Arbeiter in Europa und Amerika. Sie beabsichtigten, durch Attentate die Regierungen ihrer Länder zu stürzen, und glaubten, nach deren Beseitigung breche ein Zeitalter friedlichen Zusammenlebens aller Menschen an, in dem jeder staatliche Zwang überflüssig wäre.
Einer der führenden Köpfe dieser anarchistischen Bewegung war der deutsche Reichstagsabgeordnete Johann Most (1846-1906). Schon als Zwölfjähriger hatte er an seiner Augsburger Schule einen Schülerstreik organisiert, und als Buchbinder-Lehrling erhielt er seine erste Haftstrafe, weil er sich weigerte, die "Christenlehre" zu besuchen. Bevor er als sozialdemokratischer Abgeordneter 1874 in den Reichstag einzog, hatte er bereits viermal im Gefängnis gesessen, wegen Hochverrats, Majestätsbeleidigung und Aufforderung zu Gewalttaten. Er war der geborene Revolutionär. Er war einer jener frühen Sozialisten, die Bismarck veranlassten, die Sozialdemokraten zeitlebens für "raub- und mordsüchtige Feinde" zu halten. Der Eiserne Kanzler nahm nicht zur Kenntnis, dass Most schon 1880 wegen seiner Befürwortung illegaler Terrorakte aus der SPD ausgeschlossen wurde.
Als Most im Dezember 1878 nach Verbüßung einer erneuten Strafe das Gefängnis am Plötzensee verließ, erhielt er gleich - nach dem inzwischen in Kraft getretenen Sozialistengesetz - den Ausweisungsbefehl aus Berlin. Er emigrierte nach London und begründete dort die Zeitschrift Die Freiheit, in der er von jetzt an bis zu seinem Tode Woche für Woche seine radikal-revolutionären Aufrufe veröffentlichte. Im März 1881 feierte er in einem Leitartikel die Ermordung des Zaren Alexander II. triumphierend als die längst fällige Hinrichtung eines Tyrannen. Da hatte auch die Toleranz der Engländer ein Ende, und Most verschwand wieder einmal hinter Gittern, diesmal für 16 Monate, wegen "Anstiftung zum Mord".
So war ihm die Anwesenheit bei einem geheimen "International-revolutionären Congress" verwehrt, den er selbst vorbereitet hatte. Dieser fand im Juli 1881 in London statt. Die Teilnehmer kamen aus Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Spanien, Belgien, der Schweiz und den USA. Sie wollten die "soziale Revolution" in Gang setzen. Im Abschluss-Kommuniqué empfahlen sie ihren Sympathisanten, sich chemische und technische Kenntnisse anzueignen, um die Herstellung von Sprengstoffen zu erlernen. Anschläge sollten ihre Ideen schlagartig ausbreiten und die Revolution einleiten. Sie nannten dies die "Propaganda der Tat".
Nach seiner Entlassung aus dem britischen Gefängnis entschloss sich Most, sein Exil in die USA zu verlegen. Es zog ihn zu den vielen Landsleuten, die dort die Freiheit politischer Betätigung suchten, die ihnen Bismarck zu Hause genommen hatte. Als er im Dezember 1882 in New York eintraf, wurde er von hunderten gleich gesinnter Arbeiter als ein Märtyrer ihrer Sache begeistert begrüßt. Obwohl er in den Vereinigten Staaten niemals eingebürgert wurde, spielte er von jetzt an eine bedeutende, wenn auch nicht von allen geliebte Rolle im öffentlichen Leben Amerikas. Das Dictionary of American Biography nennt ihn den "leader" der extremistischen Gruppe amerikanischer Anarchisten und bezeichnet die von ihm aufgestellten Prinzipien als "the Bible of communist anarchism in America".
Folgende Ziele steckten sich Most und seine Genossen :
1. Die bestehende Klassengesellschaft muss gewaltsam zerstört werden.
2. Die Regierungen werden abgeschafft, in den Kommunen entscheidet das Volk direkt durch Mehrheitsbeschlüsse.
3. Die Produktion geschieht in volkseigenen Betrieben.
4. Die Proletarier aller Länder sind solidarisch miteinander verbunden, sie nennen ihr Netzwerk "Internationale Arbeiter Assoziation".
Um den Umstürzlern das Basteln von Bomben möglich zu machen, ließ Most sich unter falschem Namen in Jersey City in einer Dynamitfabrik für einige Wochen anstellen. Hier lernte er, wie man Sprengstoff herstellt, auch konnte er etwas Dynamit unbemerkt beiseite schaffen. Er bedauerte, nicht wenigstens einen Teil davon nach Europa schicken zu können, wo gerade sein Freund August Reinsdorf vergeblich versucht hatte, die auf dem Niederwald bei Rüdesheim zur Einweihung des Nationaldenkmals versammelten deutschen Fürsten allesamt mit einem Schlag in die Luft zu sprengen.
In seiner Zeitschrift Die Freiheit veröffentlichte er eine Serie von Artikeln, worin er beschrieb, wie man Sprengkörper herstellen konnte und wie man sie erfolgversprechend einsetzen sollte. 1885 gab er diese Aufsätze gesammelt als Broschüre heraus unter dem Titel Revolutionäre Kriegswissenschaft. In Palästen, Kirchen, Ball- und Festsälen - überall sollten Bomben explodieren. Auch Gift sollte angewandt werden, namentlich gegen Polizisten und Spitzel, aber auch gegen Verräter. Der Schlachtruf lautete : "Rottet sie aus, die erbärmliche Brut!" Kaltblütig musste ein Revolutionär sein Leben opfern. "Entweder er schlägt die Köpfe seiner Feinde ab, oder er wird selbst geköpft", so Mosts Formulierung des immer gleich lautenden Credos aller Terroristen-Märtyrer.
Das Amerika jener Tage hatte seine Wirkung als "melting pot" noch kaum entfaltet, so dass die deutschen Immigranten ihre Identität in der neuen Heimat beibehielten. Mosts Freunde schlossen sich in "Sozialrevolutionären Clubs" zusammen und verbreiteten ihre Ideen in sieben deutschsprachigen Zeitungen. Mosts Freiheit und August Spies' Chicagoer Arbeiter Zeitung waren die wichtigsten Blätter.
Im Jahre 1886 bescherten Arbeiterunruhen in Chicago den Amerikanern den ersten Terrorismusschock ihrer Geschichte. Mosts ständig wiederholte Aufforderung, Gewalt anzuwenden, schien bei seinen Anhängern endlich Gehör gefunden zu haben. Um Streikbrecher bei der Landmaschinenfabrik McCormick vor wütenden Streikenden zu schützen, schoss die Polizei in die Menge. Es gab vier Tote und eine große Zahl Verletzte. Die aufgebrachten Arbeiterführer forderten Rache und riefen zu den Waffen. Bei einer Protestversammlung am nächsten Tag (4. Mai 1886) auf dem Haymarket Square hielten sie aufrührerische Reden. Als Polizisten begannen, die Menge auseinander zu treiben, warf jemand eine Bombe zwischen die Uniformierten. Einer wurde getötet, 67 wurden verletzt. Die Polizisten feuerten zurück und töteten und verwundeten eine große Zahl Arbeiter, genaue Angaben fehlen.
Es wurde nie geklärt, wer der Bombenwerfer gewesen war. Die in Amerika nun ausbrechende Terroristenfurcht verlangte jedoch nach Rache, und die Justiz fand Schuldige, die allerdings nicht die Täter waren. Acht Männer wurden angeklagt, sechs von ihnen waren Deutsche, darunter August Spies. Obwohl viele Prominente wie etwa George Bernard Shaw oder Oscar Wilde protestierten, wurden vier gehängt. Sie wurden wegen ihrer Reden, nicht wegen irgendwelcher Taten hingerichtet. Die letzten Worte von August Spies wurden berühmt: "Eine Zeit wird kommen, da unser Schweigen im Grabe mächtiger ist als die Stimmen, die ihr heute erstickt." 150 000 Menschen kamen zur Bestattung der Toten. Robert Reitzel, der Redakteur der deutschen Zeitschrift Der arme Teufel, sagte am Grab : "Wir haben keine Ursache, für diese Toten zu trauern, sie starben den Heldentod." In den Augen der Genossen waren sie unschuldige Opfer einer verabscheuungswürdigen Gesellschaft geworden und hatten jetzt den Märtyrertod erlitten.
John Most hatte zwar schon elf Tage vor dem Haymarket-Zwischenfall wieder einmal in einer Volksversammlung in New York die Arbeiter aufgefordert, sich zu bewaffnen, aber am 4. Mai war er weit entfernt vom Schauplatz des Geschehens in Chicago. Trotzdem verurteilte man ihn als "den geistigen Urheber" des Aufruhrs zu einem Jahr Zuchthaus. Kaum war er wieder auf freiem Fuß, als er seinem unbändigen Hass erneut die Zügel schießen ließ. In der Freiheit schrieb er: "Jenen, die mich in Fesseln schlugen und wie ein wildes Tier behandelten, um mich zu brechen, werfe ich den Handschuh wiederum ins Angesicht und tue ihnen kund, dass ich nimmer rasten werde, die Gesellschaft zu bekämpfen, in deren Sold sie stehen, solange ich noch einen Pulsschlag in mir fühle." Folgerichtig kündigte er, auch weiterhin "zur Tat reizen" zu wollen. Die Richter, welche die Haymarket-Angeklagten verurteilt hatten, nannte er Mörder, ebenso die Zeugen, ja selbst seine Freunde, die keine Hand für die Inhaftierten gerührt hatten. Und wieder musste er ein Jahr im Zuchthaus absitzen. Es war das neunte Jahr seines Lebens, das er im Gefängnis verbrachte.
Die durch das Haymarket-Trauma ausgelöste Anarchistenjagd in den Vereinigten Staaten schüchterte viele deutsch-amerikanische Genossen ein. Gleichzeitig kam aus Deutschland die Nachricht, dass dort die 12 Jahre lang verbotene SPD wieder zugelassen worden war. Es gab also keinen überzeugenden Grund mehr, den Staat gewaltsam abzuschaffen. Man hoffte, ihn jetzt friedlich reformieren zu können. So verlor der Anarcho-Terrorismus an Attraktivität. Mosts Anhängerschaft begann abzubröckeln.
Da erschütterte die Meldung vom Attentat auf den Präsidenten der Vereinigten Staaten, McKinley, die amerikanische Öffentlichkeit, es war das Jahr 1901. Der Mörder hieß Leon Czolgocz. Er war ein Anarchist ungarischer Herkunft. Mit Mosts Sozialrevolutionären hatte er nichts direkt zu tun. Doch ausgerechnet am Tag des Attentats hatte Most in der Freiheit einen Artikel des deutschen Revolutionärs von 1848, Karl Heinzen, abgedruckt, in dem der Mord an Tyrannen gerechtfertigt wurde. Das war sein Pech. Er wurde der Aufforderung zum Mord für schuldig befunden und zum dritten Mal für ein Jahr in das Zuchthaus auf Blackwell's Island verbannt.
Der neue amerikanische Präsident Theodore Roosevelt sagte vor dem Kongress : "Jener Mörder war ein erklärter Anarchist, angestachelt durch die Lehren von Anarchisten", und forderte ein Gesetz, nach dem jedem, "der an der Berechtigung organisierter Regierungen zweifelt oder sie ablehnt", die Einreise in die USA verweigert werden sollte. Das Gesetz wurde erlassen, und der Zustrom neuer Mitglieder für die sozialrevolutionäre Internationale war gestoppt. In der Folge schmolz auch Mosts Gefolgschaft dahin. Er selbst aber setzte seinen Kampf unbeeindruckt fort.
Als er im März 1906 wieder einmal auf Agitationstour war, erkrankte er. Er war von Neu-England nach Cincinnati am Ohio herübergekommen. In der Wohnung seines Freundes Krause brach er zusammen. Die Diagnose lautete "Gesichtsrose". Am 17. März starb er. Drei Tage später wurde er bestattet. Viele Genossen kamen. Sie sangen ihm ein letztes Mal das Kampflied der Sozialisten, die Arbeiter-Marseillaise, mit dem Refrain :
Tod jeder Tyrannei!
Die Arbeit werde frei!
Most war ein fanatischer Agitator für die Veränderung der Gesellschaft durch Gewalt gewesen. Er hatte die Tat propagiert, selbst aber nur Worte gebraucht. Dafür hat er allerdings hart büßen müssen. Nach seinem Tod bemühten sich seine Gefährten, die Freiheit als Sprachrohr des "sozial-revolutionären" Netzwerks zu erhalten. Doch am 17. August 1910 musste das Blatt mangels Nachfrage sein Erscheinen einstellen. Die Ära des Terroristen Johann Most war endgültig vorbei.
von HANS DODERER
URL: http://www.fr-aktuell.de/ressorts/kultur_und_medien/feuilleton/?cnt=115786
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Copyright © Frankfurter Rundschau 2003
Dokument erstellt am 05.02.2003 um 17:32:20 Uhr
Erscheinungsdatum 06.02.2003
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