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aus Erich Mühsam "Ascona"



…und ich beginne mit der interessantesten, tiefsten und bedeutendsten Persöolichkeit unter allen Colonisten, Carl Gräser. Dieser Mann, der einmal Offizier gewesen ist, lebt jetzt mit seiner Frau Jenny Gräser auf einem ziemlich umfangreichen Grundstück, das die Beiden durch ihrer eignen Hände Arbeit bewohnbar gemacht haben. Es ist ihr Stolz, möglichst alles, was sie zum Leben nötig haben, selbst herzustellen. Sie begnügen sich daher mit den primitivsten Bedarfsmitteln und lehnen es fast prinzipiell ab, den gemeinhin üblichen Tauschverkehr mit der Aussenwelt durch Geldmünzen zu bewirken.

Gräser ist der erste Mensch, der mir begegnet ist, der mit starrer Konsequenz das, was er theoretisch als richtig erkannt hat, in die Praxis umsetzt. Es gibt köstliche Anekdoten, wie sich das seltsame Paar prinzipiengetreu mit den ärgerlichen Einrichtungen ihrer Umwelt abfand.

Frau Gräser, die über eine sehr schöne Stimme verfügt, musste einmal den Zahnarzt aufsuchen: sie bezahlte den ihr geleisteten Dienst mit dem Vortrag einiger Lieder.
Soll etwas, was die beiden nicht allein herstellen können, erhandelt werden, so gehen sie mit selbstgezüchtetem Obst nach Locarno und Bellinzona und werden mit dem Kaufmann über den Tausch stets einig.

Was aber irgend selbst geschaffen werden kann, das erhandeln sie nicht von andern. Ich traf Gräser einmal an, als er damit beschäftigt war, sich aus einem Stück rohen Holzes einen Esslöffel zu schnitzen, ein andermal verfertigte er gerade ein Paar Sandalen.

Diese Arbeiten begleitet er mit allgemeinen Betrachtungen und Sentenzen über die Schönheit der Natur, über seine persönliche Beziehung zum Weltganzen und über seine selbstgefundenen Erkenntnisse.

Sein Ideenkreis ist ein recht begrenzter, aber innerhalb dieser Begrenztheit doch ein sehr tiefer. Seine Philosophie lässt sich in Kürze vielleicht so fassen: Gleiches findet sich überall zum Gleichen: Gutes zum Guten, Schlechtes zum Schlechten, Schönheit zu Schönheit, Kraft zu Kraft und Schwachheit zu Schwachheit.

In der Natur sieht er alles Gute, Schöne, Kräftige, Reine in höchster Vollendung, darum ist ihm die Phrase «Zurück zur Natur!» die die schwächlichen Geister der Schablonen-Vegetarier sinn- und verstandlos einander vorpredigen, innerste Lebenssehnsucht geworden. All sein Trachten und Handeln geht deshalb dahin, in Wort und Tat sich mit der Natur, diesem Inbegriff aller Vollendung, möglichst zu « gleichen ».

(Wie alle Naturphilosophen hat auch Gräser die Eigentümlichkeit, seinen Ansichten neue Ausdrücke anzupassen und ethymologische Zusammenhänge zwischen verschiedenen Begriffen zu konstruieren, die häufig genug recht willkürlich ausfallen.)

Die Beschäftigung mit den Buchweisheiten andrer weist er grundsätzlich zurück. Er sieht darin eine Hemmung seines eignen, natürlichen Vorstellungsvermögens. Nur was er selbst aus dem Gefühl heraus gefunden hat, ist: für ihn wahr und wert, im Handeln zum Ausdruck zu kommen. Nur der eigne, frei und unabhängig von jedem theoretischen Programm gefasste Entschluss scheint ihm dem Wesen der Natur zu entsprechen, deshalb ist ihm Spontanität und Unmittelbarkeit im Handeln gleichbedeutend mit naturgemässem Handeln.

Ein sehr ähnlicher Gedanke findet sich in Otto Weiningers posthumem Buch «Ueber die letzten Dinge», wo es in dem Abschnitt von der «Einsinnigkeit der Zeit» heisst:

«Tue, sage oder handle ich, was ich mir vorgenommen habe, so streiche ich die Zeit, die zwischen jedem Augenblick der Ueberlegung, und dem neuen, der die Handlung erfordert, liegt. Ich begehe eine Lüge gegen den neuen Augenblick, setze ihn nämlich als identisch mit dem früheren und bin damit zugleich determiniert, indem ich mich durch einen früheren Augenblick durch empirische Kausalität determiniert habe. Ich handle nicht mehr frei aus dem ganzen meines Ich heraus. Ich suche nicht mehr neu, das richtige zu finden; und bin doch wirklich ein andrer, als in jenem früheren Moment, zum mindesten um jenen reicher und nicht mehr ganz identisch mit dem früheren.»

Weininger erinnert in diesem Zusammenhange selbst an den Bibelvers Ev. Matthäus 10. 19; "Sorget nicht, was ihr sagen werdet, wenn man euch fragt, sondern sprechet was euch der Geist eingeben wird." Nun ist dies Prinzip der Prinzipienlosigkeit narürlich eine contradictio in adjecto in dem Augenblick, wo es nicht aus dem Instinkt heraus befolgt, sondern zum Prinzip des Handelns erhoben wird. Und hier fängt denn auch der Bau der Gräserschen Theorie an zu wackeln. Denn seine Gewohnheit und sein Bestreben, alles was er tut und lässt, gleichzeitig vor sich selbst zu begründen, steht nun einmal im Widerspruch zu der Idee der konsequenten Spontanität, der er im selben Augenblick Ausdruck giebt.

Immerhin isr seine Philosophie ad hominem und das unausgesetzte Bestreben sich danach zu richten, einc herzerquickende Erscheiaung im Vergleich zu den öden, unerlebten und unverdauten Lebensmaximen, wie sie das Gros der Vegetarier auf der Zunge trägt. Diese Leute bilden sich ein, freie Menschen zu sein und halten es nicht mehr für nötig, irgendwelche höhere innere Freiheit anzustreben; dabei aber srecken sie bis zum Halse in Unfreiheiten aller möglicher Art. Gräser dagegen arbeiTet unaufhörlich an seiner seelischen Befreiung; das würde ihn allein hoch über seine ganze Umgebung erheben, wenn er nicht auch tatsächlich ein sehr viel freier empfindender Mensch wäre als jene.

Ich hatte jedesmal einen starken Eindruck, wenn ich Gräser besucht hatte. Fast ganz unbekleidet liegt er dann im Gras und philosophiert. Seine Augen sind ungleich beredter als sein Mund, denn sein Wunsch, den Gast mit jedem Wort, das er ausspricht, zu bereichern, nie etwas Banales zu sagen, giebt seiner Rede etwas Schwerfälliges; aber es ist köstlich mitanzusehen, wie dieser Mann nach dem Ausdruck sucht, der das, was er begreiflich machen möchte, am wahrhaftigsten wiedergiebt.

Frau Jenny passt vorzüglich zu ihm. Sie ist ein echtes Weib und als solches imsrande sich in den Ideengang des Mannes, den sie liebt, völlig hineinzutasten. Das ist ja die beste Eigenschaft der Frauen, dass sie sich mit ganzer Seele und ganzem Geist ihrem Manne hingeben können und daher rezeptiv Gedanken und Lehren schneller in sich aufnchmcn und verarbeiten können, als es manchem producriven und scharfsichtigcn Mannesgeist möglich ist, die Einsichten eines andern zu begreifen.

Karl und Jenny Gräser sprechen miteinander gradezu in einer eignen Terminologie, sie hat sich seiner Art mit so taktsicherem Verständnis angepasst, dass er ohne sie jetzt fast so wenig zu denken ist wie sie ohne ihn. Seit einiger Zeit haben sie ein Kind zu sich genommen, den vierjährigen Sohn einer bekannten sozialistischen Frauenrechtlerin, die plötzlich katholisch geworden ist. Denn die Gräsersche Ehe ist kinderlos. (Hier sei bemerkt, dass die Vegetarier-Ehen in Ascona und Nachbarorten durchweg kinderlos geblieben sind. Mir ist nur eine Ausnahme bekannt. Doch stammt, soviel ich weiss, das Kind in diesem Falls aus der vorvegetarischcn Zeit. Es wäre interessant, von Sachverständigen zu erfahren, ob die Erscheinung der Unfruchtbarkeit bezw. Impotenz, — viele Vegetarier zählen das Prinzip der Geschlechtsentbaltung zu ihren ethischen Grundsätzen,—aus der vegetarischen Lebensweise resultiert, resp. ob der Drang zum Vegetabilismus vorwiegend bei potenzgeschwächten Individuen entsteht.)

Der kleine Habakuk, den Namen haben Gräsers ihrem Pflegesöhnchen beigelegt, der ein ausnahmsweise intelligentes und schönes Kind ist, geniesst die freieste Erziehung, die man sich vorstellen kann, das heisst gar keine Erziehung. Ihm wird nichts befohlen und nichts verboten, er darf schlafen und essen, soviel und wann er will und herumtollen, wo und wielange es ihm nur Spass macht. Was aber das schönste ist: seine Pflegeeltern nehmen ihn völlig ernst. Man dressiert ihn nicht, wie es deutsche Bourgeoisfarmilien mit ihren Kindern tun, zu artigen Kunststücken und konventionellen verlogenen Redensarten, die er herleiern müsste, wenn Besuche kommen, sondern er sitzt mitten zwischen den Erwachsenen, und wenn er eine Bemerkung zu machen oder eine Frage an jemand zu richten hat, so wird ihm mit demselben Ernst, mit derselben Achtung zugehört und geantwortet wie jedem Grossen. Wie widerwärtig ist es doch, Kinder, denen etwas geschenkt wird, zum Danke sagen zu zwingen, ehe sie fähig sind, ein Gefühl der Dankbarkeit zu empfinden. Mir verekelt es jede Gabe an ein kleines Kind, wenn es mir mit solcher angelernten Lüge antwortet. Wenn es sich wirklich über mein Geschenk freut, so weiss es sein Gefühl schon zu äussern und zwar herzlicher und ehrlicher als so ein Berlin-W-Fratz, der da, wo ihm die Lüge aus dem Herzen kommt, wo er aus seiner reinen Kinderphantasie heraus allerliebste Lügen erfindet, wie für ein Todverbrechen geprügelt wird. Die Erziehung des L;leinen Habakuk zu beobachten, wirkt dieser innerlich verlogenen Verbildung des Kindergemütes gegenüber, wie sie die besten Eltern im besten Glauben betreiben, einfach erlösend.

Bei all den grossen Vorzügen, die Carl Gräser im Denken und Handeln auszeichnen, möchte ich ihm die eine Unfreihei:, die ich an ihm bemerken konnte, nicht zu dick ankreiden, wenn ich sie auch nicht verschweigen will. Das ist seine Unduldsamkeit gegen wirkliche oder vermeintliche Schwächen andrer.

Unduldsamkeit ist dann notwendig und angezeigt, wenn man im Kampfe für eine Menschheitsidee durch das Verhalten des andern sein Bestreben gefährdet sieht. Bei Gräser aber, der immer wieder ausdrücklich betont, er verzichte darauf, für die Befreiung einer andern als nur seiner eignen Persönlichkeit zu kämpfen, ist die Intoleranz ein leidiger Beweis dafür, dass er von seinem Ziel noch recht weit entfernt ist. Ich weiss aus eigner Beobachtung, dass er einem Menschen gegenüber, dem er stets freundlich begegne. war, sein Verhalten von dem Augenblick an änderte, als er ihn einmal bezecht sah. Darin liegt eine Kurzsichtigkeit, eine Inkonsequenz und eine innere Unfreiheit. Kurzsichtig ist dies Verhalten deshalb, weil Gräser gar nicht einzudringen versucht in die psychologischen Vorgänge, die der. andern vielleicht grade im Alkohol dic Bcfrciung von momentanen oder konstanten Leiden suchen liess; inkonsequent ist es, weil es moralisierend Stellung nimmt zu der Lebensart eines andern, was dem Gräser'schen Grundsatz, nur an der eignen Vervollkommnung zu arbeiten, stracks zuwiderläuft; und die Kurzsichtigkeit und die Inkonsequenz entspringen einer Unfreiheit insofern, als sich hier die Aufstellung einer allgemeingültigen Moral, und damit die Unterwerfung unter diese, somit also eine schwere innere Abhängigkeit ergiebt.

Ich bin indessen vollkommen überzeugt, dass Gräser bei dem schweren und ernsten Ringen mit sich allmählich auch dahin gelangen wird, diese Schwäche abzulegen, und so den letzten Querstrich, der sich ihm noch zwischen die Uebereinstimmung von Denken und Handeln drängt, auslöscht. Schon jetzt ist er von allen in Ascona eingesessenen Deutschen bei weitem die originalste und am ernstesten zu beurteilende Persönlichkeit.

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