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Ethnologie der Freikörperkultur

Ernst Augustins Roman «Die Schule der Nackten»


Jahrhundertsommer im Münchner Jacobi-Bad. Alexander, ein gut situierter Herr Anfang sechzig, wagt den Übertritt in die Freizone. Dorthin, wo man alles ablegt und doch derselbe bleibt. Nach anfänglicher Befangenheit gliedert er sich ein ins «Soziotop» der Nacktbader und lässt die Blicke mit geradezu wissenschaftlicher Neugier schweifen. Zwar beklagt er manche optische Zumutung, denkt aber gar nicht daran, in den textilen Bereich zurückzukehren. So entsteht ein gleichermassen von Faszination und Schrecken bestimmter Reisebericht aus der Welt jenseits der Bretterwand, eine literarische Ethnologie der Freikörperkultur, wie man sie bisher allenfalls vom Spezialisten für Nacktheit und Scham, dem Kulturwissenschafter Hans Peter Duerr, kannte. Es ist eine Erschliessung von literarischem Neuland, die man diesem Roman und seinem Autor, einem begnadeten Fabulierer, als Verdienst anrechnen darf - ganz abgesehen vom Unterhaltungswert.

Manch origineller Typ tummelt sich auf dem Gelände. Zum Beispiel jener muskulöse Schrat, der unaufgefordert den Wächter spielt und mit dem Satz «Hab ich Sie, Sie Spanner!» die männliche Besucherschaft unsicher macht. Zur Strafe lässt ihn Augustin später ertrinken. Aber ganz Unrecht hat der Mann nicht, denn bei aller gespielten Gleichgültigkeit geht es in der Freizone natürlich ums Sehen und Gesehenwerden. «Braun verlederte» Sonnenanbeter führen ihre Organe vor, wie der kleine «Priap» mit dem salatgurkenhaften Gemächt oder jene Frau, die sich immer dicht neben Alexander legt, um ihm Einblicke in ihre monströs-maulartige Vulva zu verschaffen.

Körper mit Geschichte
Die Gefahr des genitalen Kalauers liegt nahe. Ernst Augustin entgeht ihr fast immer. Klippen der Peinlichkeit werden mit stilistisch-humoristischer Bravour umschifft. Mag er im Bad auch nackt sein, als Erzähler trägt Alexander das gediegene Kostüm einer augenzwinkernd-altherrenhaften Erzählkunst. Dazu passt, dass er wenig Sinn für glatthäutige junge Mädchen hat. Als Historiker bevorzugt er Körper, die ihm Geschichten erzählen: «Da lobe ich mir den Club der alten Frauen.» Frau Lembke zum Beispiel, die täglich fünfzig Beckenlängen schwimmt, «ein unverwüstlich treues Kanu aus Bisonleder». An der nicht minder rüstigen Frau Wieland bewundert er das delikate Netzwerk der abertausend feinen und feinsten Runzeln: «Sie war eine kostbare Klöppelarbeit, jeder Zentimeter.» Und es sei jedes Mal ein «Ereignis», wenn sich die Seniorin mit dem Satz «Sodela, jetzt schmier'n wir uns ein» ans Auftragen des Sonnenschutzmittels mache.

Eine Sprache volltönender Euphemismen wird vom Ich-Erzähler auf die nackten Tatsachen angewendet. Vom weiblichen «Venusbereich» ist die Rede, und wenn eine neue Frau auf dem Gelände auftaucht, vermeldet Alexander feierlich: «Bebte die Erde, stand mein Herz still, sprachen die Götter?» Nackt oder nicht, der Dame auf dem Handtuch nebenan stellt er sich in aller Form vor. «Im Grunde bin ich ein höchst bürgerlicher Mensch, mache mir da gar nichts vor.»

Der Privatgelehrte ist mit «chaldäisch-aramäischen Studien beschäftigt», pflegt Umgang mit den alten Griechen, Persern, Indern. Auch dies ist natürlich kein Zufall. Die alte und älteste Geschichte war schon für den späteren Thomas Mann ein pfiffiges Rechtfertigungsmittel für erhabene Obszönitäten. Was die bürgerliche Gegenwart (damals jedenfalls noch) schamvoll verschwieg, das liess sich mittels der unverblümten Mythen ungehemmt thematisieren.

Der Körper und seine Inszenierungen - das ist ein modisches Thema, allgegenwärtig in Kulturwissenschaft, Literatur und Theater. Aber selten wurde es derart originell zur Darstellung gebracht. So weit, so gut; sogar sehr gut. Aber ein Roman kann sich nicht mit Feldstudien begnügen, ganz ohne Zusatz von Handlung geht es nicht. Was liegt näher, als, wo so viel von Leibern die Rede ist, auch die Liebe auf den Plan treten zu lassen?

Nun sagt ein geläufiges Klischee, FKK sei ein Erotikkiller. Auch Alexander macht sich Gedanken darüber: «Einerseits besteht das Überangebot blanken Fleisches, andererseits aber fehlt jegliches Gefälle . . .» Erst verliebt, dann nackt, das ist die Reihenfolge, nicht umgekehrt. Nun ist ein Klischee nie ganz falsch, aber auch selten ganz richtig. Ein reizloser Mensch wird durch die Badehose nicht erotischer, während ein reizvoller durch das Ausziehen derselben nicht verliert, im Gegenteil. Und so lernt auch Alexander im Jacobi-Bad bald eine Göttin mit Wespentaille und herrlich ausladenden Hüften kennen: Juliane aus Siegen, halb so alt wie er selbst, was im «Club der alten Damen» für beträchtliche Missstimmung sorgt.

Tantra statt Erotik
Der weitere Verlauf der im Bade angebahnten Liebesgeschichte erfordert den Schauplatzwechsel. «Eine Verführung erster Klasse beginnt mit dem Eintritt ins Haus, Gudrunstrasse 7.» Man lernt nun Alexanders skurril stilisierte Lebenswelt kennen. Seitenlang beschreibt er mit prätentiöser Selbstgefälligkeit die Details der Einrichtung; eine schwül-schummerige Inszenierung von Wohnkultur, bis in die Lichtregie berechnet auf die Verführung: «Dazu die Anordnung der Halogenlämpchen . . . Keine Dame sieht dort älter aus als zwanzig und verhält sich auch so.» All das ist komisch, nicht nur wegen der sprachlichen Preziosen, sondern vor allem deshalb, weil der Abend missglückt. Es zeigt sich: Auch eine Nudistin ist nicht frei von Hemmungen.

Und der nächste, die zweite Hälfte des Buches bestimmende Schock lässt nicht lange auf sich warten. «Ich habe mich angemeldet», sagt die Göttin eines Tages. Sie meint damit: eine Woche Tantra-Intensivkurs. Die schönen, altindischen Lehren der spirituellen Körpervereinigung kommen nun in einer als Liebestempel umfunktionierten Scheune zur Anwendung. Das hat natürlich eine erhebliche Fallhöhe, leider eine sehr erwartbare. Alexander lässt seine Juliane nicht alleine reisen, vor allem aus Eifersucht auf den ihm bereits vom Beckenrand bekannten und höchst unsympathischen Kursleiter, Guru Pradi Rama. Lasst es vibrieren, lasst es flattern, lasst es raus - die Parodie gruppendynamischer Prozesse und esoterischer Rituale, der Ernst Augustin wieder einmal viel, allzu viel Platz einräumt, sollte man den Kabarettisten überlassen.

Der Meister selbst, Pradi Rama, kann nicht nur den Blutzufluss in den Unterleib mittels Willenskraft enorm steigern, er ist auch ein Menschenkenner und merkt, dass der nicht ganz freiwillige Tantriker aus München die kosmischen Energieströme mit seiner belustigten Anwesenheit stört. Mehrfach bietet er Alexander an: Geld zurück, wenn du auf weitere Teilnahme verzichtest. Käufer und Leser deutscher Gegenwartsromane wären wohl manchmal froh über ein solch faires Angebot. Nicht jedoch in diesem Fall. «Die Schule der Nackten» ist trotz der genannten Schwäche (und einer noch ungenannten: dem Finale) ihr Geld wert.

Wolfgang Schneider

Ernst Augustin: Die Schule der Nackten. Roman. C.-H.-Beck-Verlag, München 2003. 255 S., Fr. 33.60.


Neue Zürcher Zeitung, 2. Dezember 2003, Ressort Feuilleton

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