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Asche zu Kohle

Das große Fressen und Gefressenwerden

Fettsucht wird zur globalen Epidemie – und die Fastfoodindustrie rüstet panisch um



Die Nahrungsmittelindustrie sollte einfach in die Offensive gehen. So wie es die Tabaklobby schon mal gemacht hat. Als Tschechien vor zwei Jahren eine höhere Tabaksteuer einführen wollte, schickte Philip Morris der Prager Regierung eine Expertise, in der der Konzern vorrechnete, wie viel Geld der Staat durch jeden toten Raucher einspare. Die Steuer, so Philip Morris, werde viele Leute vom Rauchen abhalten. Die können dann nicht zügig sterben, sondern werden vorher pensioniert, schauen fern, gehen alle Naslang zum Arzt und tun all das übrige volkswirtschaftlich schädliche Zeug, womit Rentner ihr Lebensabendprogramm füllen. Wenn die Leute aber früh zu rauchen begännen, führe Asche schnell zu Asche und der Staat mache Kohle: Tote müssen nicht medizinisch versorgt werden (spart 968 Millionen tschechische Kronen), der Staat muss weder Rente (196 Millionen) noch Mietzuschüsse (28 Millionen) zahlen.


Warum lernt McDonald’s nicht von der Chuzpe der Marlboromänner? Schließlich ist schlechtes, fettes Essen volkswirtschaftlich weit effektiver als das Rauchen. Wer fett ist, stirbt früher als jeder Raucher; Übergewichtige bezahlen ihre Pfunde mit fünf bis zehn Jahren Lebenszeit. Allein in Amerika werden jedes Jahr 300 000 Menschen von ihrem eigenen Fett erdrückt, sterben mit 30 an Schlaganfällen oder anderen Folgeschäden ihrer falschen Ernährung, an Herzinfarkten, Atemnot, Krebs und Altersdiabetes. Altersdiabetes mit 30 – müsste doch ein Segen für die Kassen sein.


Ketchup in den Adern


Was aber tut Mc Donald’s? Kriecht zu Kreuze. Wegen zwei New Yorker Schülerinnen. Wie offensiv klang das früher: Wer hierzulande bei der Firma Filialleiter werden will, muss einen Kurs an der Hamburger „McDonald’s University“ absolvieren. Als summa cum laude galt bislang im Zeugnis die Formulierung, der Absolvent habe „Ketchup in den Adern“.


Ketchup in den Adern – aus genau dem Grund haben im vergangenen Jahr die beiden Mädchen McDonald’s verklagt: Sie behaupteten, Fastfood habe ihren Stoffwechsel zerstört, all der Zucker und das Fett hätten sie zu kranken Menschen gemacht. McDonald’s gewann, bemüht sich aber seither – genauso wie Kraft, Pepsi, Kellogg’s und andere Riesen – geradezu panisch um einen Imagewandel.


Die Fastfood-Konzerne haben als Feindbild in den USA längst die Tabakkonzerne abgelöst. Es soll weitere Sammelklagen geben. Die Anwälte geben sich siegesgewiss: Schon bald, so ein New Yorker Jurist, werden Bürgerrechtsbewegungen für das generelle Verbot von Junk Food sorgen. Eine bizarre Vorstellung: Nur noch in dunklen Kaschemmen, irgendwo in den unausgefegten Ecken der Großstädte werden Perverse und Anonyme Cokaholiker verschämt ihr happy meal in schwarzen Tüten kaufen. In Wahrheit haben die Unternehmen wenig zu befürchten: Der Rechtsprofessor John Coffee von der Columbia University warnt vor einer Klagehysterie: „Die Fälle in der Nahrungsmittelindustrie sind mit den Klagen gegen die Tabakkonzerne nicht zu vergleichen“.


Interessant an diesen Prozessen ist, wie sehr der Dientsleistungsgedanke inzwischen pervertiert ist: Meine Kinder sind schlecht in der Schule? Verklag’ ich doch die Lehrer. Ich bin krank? Mein Arzt wird von meinen Anwälten hören; oder eben McDonald’s. Statt sich um die eigene Gesundheit zu kümmern, statt sich also mehr zu bewegen und regelmäßig vernünftig zu essen, verklagt man irgendwen, der für die eigene Nahrungsaufnahme verantwortlich sein soll. So ist denn David Wallerstein schuld.


Der McDonald’s-Mitarbeiter setzte sich Anfang der Siebziger in einige Filialen in Chicago und schaute den Leuten dabei zu, wie sie aus ihren Pommestüten noch die letzte Runzelfritte puhlten. Es war klar: Die Leute wollten mehr. Eine zweite Tüte kauften sie aber nicht, sei’s, weil ihnen das zu sehr nach Völlerei aussah, sei’s, weil es ihnen zu teuer war. Was aber, so dachte Wallerstein, wenn man mehr in die einzelne Tüte füllt und dafür mehr verlangt? So hat Wallerstein das Largesizing erfunden. More for less, zahl eins, nimm zwei. Und alle machten es nach, getreu dem Slogan einer anderen Kette: „Bigger. Better. Burger King.“ Eine Portion Pommes enthielt damals 200 Kalorien; heute sind es 610 Kalorien. Eine Portion Popcorn, das war der Inhalt von drei Tassen; heute bekommt man einen Eimer. Die Größe eines Softdrinks hat sich verdoppelt und Del Taco bewirbt sein „Macho Meal“ damit, dass es vier Pfund wiege. Zwei Kilo Nahrung.


In Zeiten unbegrenzter Möglichkeiten kann man sogar den Hunger expandieren lassen. Der menschliche Appetit, so könnte man Wallersteins Entdeckung umschreiben, ist keine Konstante, der Hunger wächst vielmehr proportional zur Größe der Portionen. Man muss nur mehr anbieten.


Solch ungezügeltes Wachstum passte zum Größenwahn der Achtziger und Neunziger: Amerikanische Kinosessel sind zwölf Zentimeter breiter als vor 20 Jahren, deutsche Restaurantteller sind in derselben Zeit im Umfang um fünf Zentimeter gewachsen und die durchschnittliche Fläche eines französischen Supermarktes hat sich verdoppelt. „Größe macht abhängig, weil sie ein Zeichen von Macht ist“, schreibt die Psychologin Irma Zall. „Kein Jugendlicher ist in der Lage dazu, zwei Liter ,Double Gulp’ (Doppelgluck: ein klebriger Softdrink) auszutrinken. Aber was für ein bestärkendes Gefühl, solch einen Becher in der Hand zu halten.“ Das Problem: Die Menschen sehen heute selbst aus wie ein Double Gulp. Der Mensch, so schreibt Greg Critser in seinem Buch „Fat Land. How Americans became the fattest people in the world“, wurde von der Food-Industrie über Jahre nur als „endlos expandierendes Gefäß“ gesehen. Amerikanische Mädchen kaufen heute drei Nummern größere Kleider als einst ihre Mütter (die Kleider der Models sind im selben Zeitraum interessanterweise um drei Nummern geschrumpft).


Das amerikanische Gesundheitsministerium erklärt, die Hälfte aller Amerikaner leide heute an Adipositas, also Fettsucht. Und der Ernährungswissenschaftler James O. Hill behauptet, wenn sich nichts ändere, „werden 2050 alle Amerikaner fettleibig sein. Fett zu werden ist die natürliche Antwort unseres Körpers auf unsere heutige Umwelt.“ Adipositas ist aber kein rein amerikanisches Problem. Australien, Neuseeland und Großbritannien erwägen eine Fast-Food-Steuer. Hierzulande ist der Bauchumfang in den vergangenen zehn Jahren um drei Zentimeter gewachsen. Und richtig unheimlich wird es, wenn man liest, dass die Fettsucht längst über alle Grenzen der Wohlstandsländer geschwappt ist: Erst im April dieses Jahres hat die Weltgesundheitsorganisation Fettsucht zur „globalen Epidemie“ erklärt.


Der Ausdruck Schwellenland bekommt eine neue Bedeutung: Die Bevölkerungen von Brasilien, Korea und Mexiko schwellen seit Jahren dramatisch an. Nimmt die Zahl der Übergewichtigen in den Industrienationen jährlich um ein halbes Prozent zu, so kommen in diesen Ländern drei Prozent Fettleibige dazu. Ist die Adipositas in den westlichen Ländern aber vor allem ein Problem der unteren Einkommensklassen, so ist es hier meist der aufstrebende Mittelstand, der aufgeht wie ein Hefeteig: Die meisten Fettleibigen haben in Südkorea den rasend schnellen Übergang von arbeitsintensivem ländlichen Leben zur städtischen Dienstleistungsgesellschaft mit Büroarbeit nebst Mittagssnack nicht verkraftet. Und die Insel Rarotonga wird wohl im Meer versinken: 1966 war jeder siebte Mann auf der Pazifik-Insel fettleibig; heute ist es jeder zweite. Und unter den Männern, die jünger sind als 32, sind alle fett. Ohne Ausnahme alle.


McMagermilch


Die Auswirkungen von Fettleibigkeit auf Gesundheit und Gesellschaft seien weit schlimmer als die des Rauchens, sagt Helen Darling, die Präsidentin des ameriknaischen Institute on the Health Effects of Obesity. Die Dicken kosten ihre Arbeitgeber zwölf Milliarden Dollar im Jahr. In Deutschland verursacht Fehlernährung jährlich 70 Milliarden Euro. Die Politik aber ist irgendwie noch nicht aufgewacht. Was wäre, wenn ein Virus alljährlich Tausende dahinraffte? Es gäbe Krisenstabsprogramme, Christiansensondersendungen, Fürbitten. Was gibt es gegen Adipositas? Ab und an eine Broschüre vom Gesundheitsministerium.


Wie gut, dass es McDonald’s gibt: In den USA hat das Unternehmen den Fitnesstrainer Bob Greene engagiert. Er soll das neue „Go Active Meal“ bewerben, das aus Salat, Mineralwasser, einer Fitnessbroschüre und einem Schrittzähler besteht. In deutschen Filialen gibt es Andechser Biomilch und Apfelsaftschorle. So wie der Fastfoodgigant in den Achtzigern allen Umweltschützern, die den Konzern wegen seiner Irrsinnsstyroporverpackungen angingen, entgegenhielt, was ökologischeres als Styropor gebe es gar nicht für die Umwelt, denn das bringe so schön viel Luft in die Müllverbrennung, so geriert sich McDonald’s jetzt als Promoter der gesunden, biologisch-dynamischen Ernährung, als demokratische Kornkammer und Vitaminparadies. Was ist nun cleverer? Der tschechischen Regierung vorzurechnen, wie viel man mit toten Rauchern spart? Oder so zu tun, als seien Pommes mit einem Schuss Mineralwasser die ultimative Fitnessnahrung?


Im amerikanischen Kinderfernsehen wird jedenfalls unverdrossen in 45 Prozent aller Spots fettes Essen beworben. Und am Sonntag konnte man die Süßwarenindustrie wieder genüsslich schmatzen hören: Zwei Milliarden Dollar wurden allein in den USA an Halloween für Candy ausgegeben.


ALEX RÜHLE 04.11.2003



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