VCHUTEMAS
(HÖHERE
STAATL. KÜNSTLERISCH-TECHNISCHE WERKSTÄTTEN, SPÄTER VCHUTEIN)
DER SOWJETUNION DER 20ER JAHRE.
"Die Freie Staatl. Schule, die freie Wahl des
Leiters, das sind die ersten Voraussetzungen für die neue Schule.
Die jungen Künstler sollen nicht verwaltet werden, sondern sich
selbst verwalten."
(Resolution einer Konferenz der Kunststudenten, Petrograd 1918)
Nach der Oktoberrevolution 1917 und der Abschaffung der Akademien
und Kunstgewerbeschulen wurde das künstlerische Ausbildungswesen
durch die Einführung der Freien Staatl. Kunstwerkstätten reformiert,
aus denen sich 1920 in Moskau die VCHUTEMAS entwickelten. Die VChUTEMAS
( Höhere Staatl. Künstlerisch-Technische Werkstätten) waren
eine Kunsthochschule, die die freien und angewandten Künste umfaßte
und sich in 8 Fakultäten: Malerei, Skulptur, Architektur, Grafik,
Textil, Keramik, Metall- und Holzbearbeitung gliederte.
Ein 1918 erlassenes Dekret eröffnete den freien Zugang zum Hochschulstudium;
alle, die Kunst studieren wollten, konnten sich an den Kunsthochschulen
einschreiben, ohne eine Aufnahmeprüfung ablegen oder den Nachweis
einer besonderen Qualifikation erbringen zu müssen. Dies galt zunächst
auch für die VChUTEMAS, an denen 1921 die Teilnahme an Vorbereitungskursen
der Arbeiterfakultät und 1925 die Prüfung der künstlerischen
Begabung als Zulassungsvoraussetzung eingeführt wurde.
Struktur der VChUTEMAS: Für Studenten aller Fakultäten wurde
ein 2jähriger Grundlagenkurs eingerichtet, der sich in die Basissektionen
'Farbe', 'Volumen', 'Fläche' und 'Konstruktion' aufteilte und die
Unterrichtung von 'objektiven' Methoden beinhaltete. Dieser formal-analytische
Ansatz richtete sich explizit gegen den Klassizismus und die l'art pour
l'art Haltung eines autonomen Kunstverständnisses. Im Rahmen der
künstlerisch-technischen Ausbildung, in der der künstlerische
Arbeitsprozeß dem industriellen Produktionsprozeß gleichgestellt
und die Kunst zum Bestandteil der Alltagskultur werden sollte, wurden
'produktionsorientierte' Fakultäten aufgebaut.
D 65 A. Vesnin, Lavinskij, Popova, Rodtschenko
Zur Frage der Organisation einer Produktionswerkstatt an den VChUTEMAS.
Februar 1923.
Synopse des Programms der produktivistischen Lehrwerkstatt an den VChUTEMAS.
Einführung ins Programm
§ I. Die Aufgaben, die das moderne Leben stellt, zerstören
entschieden die Prinzipien der von der Gesellschaft abgeschlossenen
Spezialisierung des Künstlers und erfordern gleichzeitig Kenntnisse
und professionelle Fertigkeiten, die sich bis zur heutigen Zeit in einzelnen
Spezialisierungen der Meister entwickelt haben.
§ II. Die von der Gesellschaft abgeschlossene Spezialisierung
des Künstlers hat zur Bildung des Begriffs von der sich selbst
genügenden Kunst geführt, die die Forderungen des praktischen
Alltagslebens nicht mit in Betracht zieht. Im gegenwärtigen Augenblick
brauchen wir kein sich selbst genügendes "Bild" oder
"Projekt".
§ III. Deshalb ist es die Aufgabe der heutigen Produktionswerkstatt,
mittels Arbeit zur Erfüllung der wirklichen Aufträge im individuellen
und kollektiven Konsumbereich, die Spezialkenntnisse der Künstler
zusammenzufassen.
Programm
§ I. Das ganze Programm des Werkstattkurses unterteilt
sich methodologisch in zwei Teile:
1. der wissenschaftlich-technische Teil, oder die Aneignung der
Meisterschaft.
2. der produktivistische Teil, der den Umgang mit den vom jeweiligen
Beruf erforderten Dingen mit Hilfe des erlernten Handwerks beinhaltet.
§ II. Der zweijährige Meisterkurs.
§ III. Beide Programmteile werden parallel durchgeführt
mit der Überlegung, daß jede wirkliche Produktionsarbeit
aus dem parallelen wissenschaftlich-technischen Teil entsteht und ihn
konkretisiert.
I. Wissenschaftlich-technischer Teil
§ I. Die Aufgabe des wissenschaftlich-technischen Teils
des Kurses ist die Ausbildung der Studenten an den abstrakten und konkreten
Materialien, mit deren Hilfe sie in dem ihnen vorliegenden Produktionszweig
frei umgehen können.
§ II. Mit dem Gebiet der wissenschaftlich-technischen Gegenstände
werden die Studenten schon in der Grundlagenabteilung bekannt
gemacht. Die Gegenstände sind: Mathematik, darstellende Geometrie,
Physik, Chemie, politisches Elementarwissen u.a. (ebenso werden sie
auch mit dem allgemeinen Teil der künstlerischen Disziplinen des
Grundkurses vertraut gemacht).
§ III. Andere speziellere Gegenstände werden in der
Werkstatt behandelt, nach Maßgabe ihrer Notwendigkeit in der Form
episodischer Kurse. Diese episodischen Kurse im Werkstattprogramm können
z.B. sein: "Technologie der jeweiligen Arbeitsmaterialien",
"Produktionstechnik", "Dialektik der materiellen Kultur
in der Kunst" u.a., aber auch ein erweiterter Kurs über die
künstlerischen Disziplinen der Grundlagenabteilung neben
den Aufgaben, die jedem der vorgeschlagenen Produktionszweige eigentümlich
sind (siehe die Programme der Grundlagenabteilung in den Disziplinen
Grafik, Farbe, Rauminhalt).
§ IV. Die Notwendigkeit, in das Werkstattprogramm den einen
oder anderen episodischen Kurs einzuführen, wird durch den Werkstattrat
bestätigt.
§ V. In allen theoretischen Gegenständen legen die
Studenten obligatorische Prüfungen ab (siehe Semestereinteilung)
II. Produktionsteil
§ I. Der eigentlich produktive Teil der Werkstatt hat fünf
Abteilungen: 1. Darbietungen, 2. Anzug, 3. Reklame, 4. Inneneinrichtung,
5. Kleinindustrie.
1. Darbietungen
a. In der Abteilung werden Modellstudien ausgeführt und Vorstellungen
abgehalten für: Theater, Zirkus, Cabaret und Music-Hall.
b. Projekte von Kino-Vorstellungen (Szenariumsprojekte und ihre Montage).
c. Projekte und Ausführung von Dekorationen für Straßen
und Innenräume.
d. Ausstellungsvitrinen, Schaufenster u.a.
e. Umzüge.
f. Projekte und Ausführung von Aushängeschildern.
2. Anzugs-Abteilung
a. In der Abteilung werden Zeichnungen und Modelle zu folgenden Aufgabenstellungen
und Bestellungen ausgeführt. 1. Berufs- und Spezialkleidung; 2.
individueller Anzug; 3. Bühnenanzug; 4. Privatkleidung.
b. Projekte für Bekleidungsstoff und -gewebe.
3. Reklame-Abteilung:
a. Die Reklameabteilung führt Entwürfe und Aufträge aus,
für: 1. Plakate; 2. Bekanntmachungen; 3. Inschriften und alle anderen
möglichen Reklamearten.
b. Sie führt Aufträge für Bucharbeiten aus (Umschlag,
Layout), für Zeitschriften (Umschlag, Zusammenstellung und Montage
des Materials).
4. Inneneinrichtungs-Abteilung:
In der Abteilung wird gearbeitet an der Projektierung und Ausführung
der Einrichtung von: 1. Handels- und Industrieeinrichtungen; 2. Privaträumen;
3. speziellen Werkstätten, Laboratorien, Theatern, Restaurants
u.a.; 4. Lehranstalten.
5. Kleinindustrie-Abteilung:
Projektierung und Ausführung von Gegenständen des täglichen
Gebrauchs für: 1. den Haushalt; 2. die Straße; 3. die Schule;
4. die Reise; 5. öffentliche Einrichtungen (Kontor, Hospital, Lesesaal
u.a.).
§ II. Die Studenten arbeiten in einer Werkstatt oder spezifiziert
in ausgewählten Abteilungen oder wechseln von einer Abteilung zur
nächsten, nachdem sie die Studienarbeit bei der entsprechenden
Abteilung abgegeben haben.
§ III. Die Produktionsarbeit kann als detailliertes Projekt
oder als wirkliche Ausführung des Dinges durchgeführt werden,
wenn eine passende Gelegenheit für seine reale Verwirklichung oder
ein Auftrag vorhanden ist.
§ IV. Detailliert wird jede Aufgabe in jeder Abteilung jeweils
durch den Lehrer in Abhängigkeit von den realen Anforderungen ausgearbeitet.
§ V. Bei der Produktionsabteilung der Werkstatt gibt es
ein Büro, das Aufträge annimmt und sie auf die Abteilungen
verteilt.
Die Stellung der Werkstatt
§ I. Die Werkstatt befindet sich in der Grundlagenabteilung,
als Versuchs- und Lehrlaboratorium.
§ II. Die Werkstatt wird auf der gleichen Stufe wie die
Spezial- und Individualwerkstätten geführt, und bei ihrem
Abschluß erhalten die Studenten den Titel eines VChUTEMAS-Absolventen.
§ III. Bei der Werkstatt könnte ein allen zugängliches
Laboratorium für spezielle Forschungsfragen existieren.
§ IV. In der Werkstatt werden Studenten aus dem vergangenen
Kurs für die Kunstdisziplinen der Grundlagenabteilung übernommen,
die in andere Fakultäten eintreten wollen, eine Zwischenprüfung
für Kunstdisziplinen haben und eine Probearbeit für die Prüfung
vorgelegt haben. Die Abnahme der Prüfungsarbeit wird von den Werkstattleitern
durchgeführt.
Anmerkung: Um Überschneidungen zu vermeiden, kann der Teil
der speziellen theoretischen Gegenstände von den Studenten in entsprechenden
speziellen Fakultäten der VChUTEMAS studiert werden.
Auf der Grundlage dieses Programmentwurfs entstan-den die Produktionsfakultäten
der VChUTEMAS. Ziel war die Entwicklung eines Produktdesigns und die Ausbildung
von 'Künstler-Ingen-ieuren', die massenproduzierbare Güter für
den Aufbau der Industrie liefern sollten. Konkrete Anwendungsgebiete der
Ausbildung an der Produktionsfakultät für Metall- und Holzbearbeitung
waren Entwürfe multifunktionaler Möbel und industriell gefertigter
Gebrauchsgegenstände. 1924 studierten von den 1445 Studenten der
VChUTEMAS 167 an diesen konstruktivistisch ausgerichteten Fakultäten.
Kritik richtete sich gegen die traditionalistische Ausbildung in den
'freien' Künsten, sowohl an den VChUTEMAS, die 1928 in VChUTEIN (Höhere
Staatl. Künstlerisch-Technisches Institut) umbenannt wurden, wie
in den Kunstzirkeln der Arbeiterklubs.
D 148 A. Michajlov
Über die Künstlerausbildung. 1928
(...) Wenn man sieht, was viele Kunstzirkel noch alles tun müssen,
kann man schier verzweifeln. An Stelle der künstlerischen Ausstattung
von Arbeiterklubs, Wandzeitungen, Massenfesten, Demonstrationen, statt
in der Kunst das Leben von Arbeitern und Rotarmisten zu zeigen, und
zwar mit den Möglichkeiten der Arbeiter- und Rotarmisten-Kunstzirkel
selbst, werden nur irgendwelche Laokoon-Gipsbüsten kopiert, irgendwelche
Muster usw. Jeder, der das Gemälde Rjanginas "Rotarmisten-Studio"
(auf der letzten AChRR-Ausstellung) gesehen hat, kann sich ungefähr
ein Bild von diesen "Übungen" machen. Überall pulsiert
das Leben, es entstehen neue Themen in der Kunst, aber der Rotarmist
kopiert schwitzend den Laokoon. Man muß sagen, daß die AChRR
nicht ganz unschuldig ist an der Verbreitung solcher "verewigender
Kunstausbildung" Rjanginas. (...) Aber man fährt fort, Gipsköpfe
zu kopieren, "Stilleben aus dem Alltag". (...) Die Arbeiten
beschränken sich auf die Wiedergabe einer farbigen Oberfläche,
anspruchsvollere kompositionelle Aufgaben werden nicht gestellt. (...)
Oder man nehme das mehr 'Zeitgenössische', das sie zu Beginn ihres
Studiums fabrizieren, das geht nicht über ein Kopieren von Bildern
des Bitnerovsker Typs hinaus, auch wenn es sich "Typen-Unter-richt"
nennt. (Zum Beispiel bemüht man sich, Frauen mit verschiedenen
Busenformen zu zeichnen. Das spielt wohl für die Vorbereitung sowjetischer
Künstler eine besondere Rolle!)
Über Eklektizismus brauchen wir gar nicht weiter zu sprechen,
davon gibt es genug. Kopieren und Imitieren scheint bei uns zum Unterrichtsprinzip
geworden zu sein. Offensichtlich wird das durch den Anschluß an
private Ateliers noch gefördert. Und weil der Student sich hier
keinerlei objektive Methoden, das Material zu organisieren, aneignen
kann, beginnt er seine Lehrer zu imitieren. So will er dann versuchen,
schwierige Inhalte des ihn umgebenden Lebens zu beherrschen! (...)
Wie steht es denn bei uns mit der Themenauswahl? Gibt es in den Kunstkursen
oder an den VChUTEIN z.B. solche Themen wie: Industrialisierung der
sowjetischen Wirtschaft, Kulturrevolution, neue Lebensformen, Parteiaufbau,
Kampf gegen die Kulaken, Bürokratie, Schädlinge, Verteidigung
der UdSSR usw., usw.? Weit gefehlt! Man muß, so wurde uns berichtet,
an Hand von Stilleben lernen, an Aktmodellen! Warum gab es auf der Rechenschaftsausstellung
der VChUTEIN, an der Malereifakultät (außer den Fresken)
nicht ein einziges zeitgemäßes Sujet?
Mit so einer künstlerischen Ausbildung muß man scharf ins
Gericht gehen. In erster Linie muß man sich im künstlerischen
Unterricht frei machen von der traditionellen Beschränkung auf
Interieurs, Stilleben und Aktzeichnungen. Wir müssen ganz offen
sagen, daß eine solche Kunstausbildung nicht dazu beiträgt,
sowjetische Künstler zu erziehen. Im Gegenteil, diejenigen, die
einmal früher gesellschaftlichen Ambitionen, sozialen Aktivitäten
nachgingen, werden verdorben. Solche Ausbildungsmethoden verschleiern
die klassenspezifischen Aufgaben (die es natürlich auch in der
Kunst gibt!). Sie gehen am aktuellen Inhalt vorbei und ziehen Blumen
und Gipsköpfe vor. Wir begrüßen die ersten Schritte
der VChUTEIN in Richtung auf eine Ablösung dieser Methoden, halten
das aber noch für zu wenig. (...)
Aufgrund der vielfach kritisierten künstlerischen Ausbildung
entstanden Überlegungen, an den VChUTEMAS/ VChUTEIN eine Fakultät
für Künstlerische Klubkultur einzurichten und Klubinstruktoren
auszubilden, die die Praxis proletarischer 'Selbsttätigkeit' in den
Arbeiterklubs anleiteten. Ziel war eine Kunst, die durch die Arbeiterklasse
geschaffen werden sollte.
1930 wurden das VChUTEIN im Zuge einer allgemeinen Hochschulreform aufgelöst,
seine Fakultäten anderen Instituten zugeteilt. Die Malerei- und Skulpturfakultät
wurde der neugegründeten Akademie der Künste in Leningrad eingegliedert.
Dokumente aus:
>Hubertus Gaßner/ Eckhart Gillen, Zwischen Revolutionskunst
und sozialistischem Realismus. Dokumente und Kommentare. Kunstdebatten
in der Sowjetunion von 1917 bis 1934. Köln 1979
weitere Lit.:
>S. Khan- Magomedov, VHUTEMAS. Moscou 1920-1930. Paris 1990
>Christina Lodder, VKhUTEMAS: The Higher State Artistic and Technical
Workshops. In: dies., Russian Constructivism. New Haven/ London 1983,
S. 109-140
>Natalja Adaskina, Die Rolle der VChUTEMAS in der russischen Avantgarde.
In: Die große Utopie. (A.-kat.) Frankfurt/M. 1992,
S. 81-93
>S. Chan-Magomedow, Die ersten sowjetischen Diplom- Form- Gestalter.
In: form und zweck. Sonderheft 50 Jahre Bauhaus. Berlin (DDR) 1976.
Nr.6, S. 44-48
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